BLOG vom: 31.03.2011
Crans-Montana (1): Die gebändigte Explosion der Bergstadt
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Je n’ai pas assez écouté avec mon cœur.
Je suis resté avec mes yeux en face des choses.
Charles-Ferdinand Ramuz: Journal interdit
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Mit dem Herzen zuhören, mit den Augen in die Dinge eindringen: So müsste es sein. Die Geschichte des berühmten Ferienorts Crans-Montana im Wallis habe ich seinerzeit nur am Rande mitbekommen, ohne dass ich es ferienhalber je dort hinauf gebracht hätte, da ich weder Ski fahre noch dem Golfen huldige. Die Ausnahme bildete mein Augenschein bei den Schutzwaldrodungen vom 29.06.1986 oberhalb des Dorfs im Hinblick auf die alpinen Ski-Weltmeisterschaften (Championnats du monde de ski aplin 1997). Und nun sollte ich mich endlich einmal in Ruhe umsehen – dank eines von meiner Tochter Anita organisierten Familienanlasses. Und so kann ich nun nach getaner Reise und etwelchen Literaturstudien etwas erzählen.
Die Gemeinde Montana wuchs um 1929 mit der damals neuen Feriensiedlung Crans-sur-Sierre, ein Ortsteil der Gemeinde Lens, zusammen, woraus eben der berühmte Touristenort Crans-Montana (www.crans-montana.ch) wurde. Die Anfänge machten lange vorher Höhenkliniken für Lungenkranke. Das Sanatorium de Beauregard („Station climat“) mit 80 Betten entstand schon am Ende des 19. Jahrhunderts, 1898, genau genommen. Das Essen war in dieser Heilanstalt kräftigend: Consommé valaisan, Roastbeef, Civet de lièvre (Hasenpfeffer), Montana-Salat, Genfer Charlotte, Fendant und Champagner – zum Beispiel. Dazu frische Höhenluft auf 1500 Höhenmetern in jeder Menge.
Nomaden als Hoteliers
Crans-Montana ufert auf der 15 Kilometer breiten Sonnenterrasse förmlich aus, wo neben Montana und Lens auch die Gemeinden Chermignon, Icogne, Mollens und Randogne (1898 abgebrannt und in Stein neu erbaut) sind. Unter dem geografischen Sammelbegriff Crans-Montana sind also nicht weniger als 6 Gemeinden zusammengefasst, die über Maiensässen (Frühlingsbergweiden) bis hinauf zu den Alpen (dem Mont Bonvin, Faverges und dem dahinter liegenden Wildstrubel) und zu den Gletschern an der Grenze zum Kanton Bern reichen und locker 2500 Meter Höhenunterschied bewältigen. Dementsprechend führte die bäuerliche Bevölkerung so etwas wie ein annähernd vertikales Nomadenleben. In der wärmeren Jahreszeit zog sie, nachdem die Äcker bepflanzt waren, mit dem Vieh gegen die Alpen hinauf, und wenn sich Herbst und Winter abzeichneten, kam sie wieder in tiefere Lagen hinunter, um die Ernte einzubringen. Es war eine kümmerliche Existenz, die nicht zu viel mehr als zur Selbstversorgung taugte. Strassen gab es noch kaum, abgesehen von einer Verbindung nach Granges, 600 Meter weiter unten in der Rhoneebene. Gegen die Mitte des 20. Jahrhundert entvölkerte sich das Gebiet zunehmend. Damals stand etwa 1 Drittel der Häuser von Lens leer, obschon die 1911 erbaute Drahtseilbahn Siders‒Montana den Ferienort spürbar beflügelt hatte.
Kraftakte
Von der Entvölkerung zur Explosion: Die jüngere Geschichte des berühmten Ferienorts Crans-Montana(-Vermala) oberhalb von Sierre (deutsch: Siders) beziehungsweise Sion (deutsch: Sitten) verlief in den vergangenen Jahrzehnten ungestüm. Denn mit der Walliser Kraft der Verzweiflung wurde der Tourismus gefördert, um der Verödung entgegenzuwirken. 10 km nordöstlich von Montana entstand die Hochhauskolonie Aminona (Gemeinde Mollens), von wo eine Kabinenbahn zum Petit-Mont-Bonvin (2411 m) führt. Etwa 20 Millionen CHF wurden in die Infrastruktur gepumpt – in Trinkwasserleitungen (für Wasser aus dem Rawil-Stausee) mit einer modernen Aufbereitungsanlage, Abwasserröhren, und gerade jetzt wird wieder überall gebaut. Lens, opferbereit, auferlegte sich einstimmig den höchsten Steuersatz, um das alles zu finanzieren, und das Gewerbe blühte auf, die Abwanderung war gestoppt.
Unterhalb von Plans Mayens in der Nähe des Lac de Chermignon wird momentan die Wasserfiltrationsanlage ausgebaut – nach allen Regeln der Baukunst: mit Natursteinmauern, wie ich auf einem Spaziergang am 25.03.2011 gesehen habe. Ein Arbeiter spaltete maschinell die Steine mit 50 Tonnen pneumatischem Druck, und ein ursprünglich aus Portugal stammender Maurer fügte sie exakt zusammen, hinterfüllte mit Pflaster und war froh, in gebrochenem Deutsch ein paar private Worte wechseln zu können. Offenbar steht es um die öffentlichen Finanzen hier oben nicht schlecht. Überall sind sehr schöne Natursteinmauern auszumachen, vielerorts sind solche im Bau begriffen. Mit aufwendigen, kosmetischen Eingriffen wird die Ferienregion verschönert, wo immer es nur geht. Und die kleinen Seen, die Etangs de Lens (Lac Grenon, Etang Long und Lac Moubra), sind belebende Elemente im überbauten Gebiet. Bei unserem Besuch schmolz soeben das letzte Eis weg.
Ihr Touristen kommet, oh kommet doch all!
Etwa 2 Drittel der Leute lebten nun vom einsetzenden Tourismus. Die Lage ist wegen der perfekten Südexposition und der Aussicht auf Penninischen Alpen (Walliser Alpen), dem mit vielen Gletschern dekorierten inneren Gneisalpenzugs der Westalpen, grandios. Als wir am Donnerstagmorgen, 24.03.2011, von Montreux her anreisten, reichte die diesige, hochneblige Stimmung bis nach Martigny, und dann breitete sich der klare, blaue Walliser Himmel über uns aus. Die Luft ist im Wallis häufig trocken, und entsprechend gut ist die Sicht. Als wir das Hotel „LeCrans“ um Mittag im Gebiet Plans Mayens erreichten, breitete sich ein wunderschöner Alpenkranz vor uns aus: vom Mont Blanc über den Grand Combin, die Dent Blanche, das Matterhorn und das Zinalrothorn bis zum Weisshorn. Und unsere Tochter, ihr Mann Urs, Inhaber des erfolgreichen Stellenvermittlungsunterehmens www.jobwell.ch, und Renée Hendriksen von der Hotel-Réception des exklusiven, im Châletstil erbauten Hotels, das den Heimatstil auch im hochmodern ausgestatteten Inneren weiterpflegt, empfingen uns in der reinen Bergluft mit einem Cüpli Champagnerwein. Überwältigend.
Bauwunder
Es ist kein Wunder, dass auf der Montana-Hochebene, wo sich einst ausgedehnte Weiden befanden, Hotelbauten, Wohntürme, überdimensionierte Appartmenthäuser, Betonklötze und Seilbahnen entstanden sind. Sie transportieren die an Komfort gewöhnten Unterländer über die Zwischenstation Merbé hinauf zum Cry d’Er/Bella Lui (2543 m), eine andere Bahn klettert zum Grand Signal und nach Les Violettes (2209 m) – und eine Gondelbahn (Funitel) trägt einen zum Plaine-Morte-Gletscher auf 3000 m ü. M. Eine weitere erschliesst den Chesteron (2112 m). Das ist ein ganzes Gewirr von Seilbahnen und dazu kommen noch all die Skilifte. Das Herumtransportieren und Melken von Touristen ist alleweil einträglicher als dasjenige von Kühen, Melkmaschinen hin oder her.
Das ungestüme Bauen im Ort, auf Feldern und in Wäldern bedeutet auch Zerstörung und Verunstaltung. Das ungezügelte Bauen ging in den 1970er-Jahren selbst ausländischen Feriengästen zu weit, und die Walliser Presse schürte die Stimmung damals gegen den Bauboom mit Schlagwörtern wie Anarchie, Sittenzerfall, Störung von Ruhe und Ordnung. Besorgte Franzosen zertrümmerten im Frühjahr 1971 eine Bar in Wildwestmanier. Sie wollten, wahrscheinlich nicht ganz frei von Fendantwein-Einflüssen, auf die Zerstörung landschaftlicher Schönheiten durch die Folgen der Boden- und Bauspekulationen aufmerksam machen. Und eine Gruppierung „Die Freunde Eueres Plateaus“ schrieb in einem Flugblatt unter anderem: „Wollt Ihr zulassen, dass Euer Land an Unbekannte verkauft wird, die hier Gewinne machen, die sie wieder exportieren? Wollt Ihr eine von monströsen Blöcken überstellte Gegend ohne Einheit, wo jeder baut, wie er will?“ Irgendwie musste man den ausländischen Gästen recht geben: Es war zu einer Kreuz-und-Quer-Bauerei von der übelsten Sorte gekommen. Zum Teil war dies eine Folge von unterschiedlichen Bauvorschriften. So musste ein Haus, das genau auf der Grenze zwischen Chermignon und Crans errichtet wurde, auf der Chermignon-Seite ein Satteldach und auf der Crans-Seite ein Flachdach haben. Das Plateau geriet in Verruf, nicht allein bei Heimatschützern.
Bremsaktion
Crans-Montana war keine Ausnahmeerscheinung, was den tourismusbaulichen Wildwuchs anbelangte. Die Konjunktur war schweizweit überhitzt, und am 26.06.1972 untersagte der Bundsrat deshalb mit der Lex Celio temporär den Verkauf von Grundstücken an Ausländer. „Gegen den Ausverkauf der Heimat“, lautete der Slogan, der 1973 zur Einführung der Lex Koller (damals noch Lex von Moos) führte. Diese beschränkenden Vorschriften wurden am 01.02.1974 durch die Lex Furgler noch verschärft: Strengere Erfassung der Umgehungsgeschäfte, Verschärfung der Voraussetzungen für den Erwerb von Zweitwohnungen und Verstärkung der Bundesaufsicht.
Auf der Hochebene um Crans-Montana kam es zu einem Baustopp. Er sollte Zeit zum Nachdenken einräumen. Zusammen mit dem nationalen Verkaufsverbot von Liegenschaften an Ausländer führte er zu Konkursen am laufenden Band. Und der damalige Gemeindepräsident von Lenz, Henri Lamon, sprach von einer „Guillotine“, die auf die aufstrebenden Gemeinde niedergesaust sei, bevor der Lohn für die Investitionen ausbezahlt worden war. Es gab unvollendete Projekte; die Früchte der finanziellen Opfer konnten tatsächlich nicht eingefahren werden. Die „kalten Betten“ vermehrten sich. Die Gemeinden begannen mit der Zusammenarbeit, schufen Zonenpläne, harmonisierten Bauvorschriften und durften endlich innerhalb von Limiten kontrolliert weiterwachsen.
Die Bauten, die man heute auf einem Dorfrundgang sieht, erzählen von dieser Geschichte. Viele Bauten neben riesigen und manchmal auch trostlosen Hotelkästen ab rechtwinkligem Reissbrett, die den Urs eher trübsinnig stimmten, pflegen den gemütvolleren Châletstil. Die Bausünden von damals sind noch nicht ausgemerzt; vielleicht muss man darauf warten, bis sie zur Baugeschichte geworden sein werden und vom Rausch der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts erzählen und eine erzieherische Aufgabe erfüllen. Manche Holzfassaden sind wie mit Laubsägearbeiten liebevoll dekoriert und aufgelockert, manchmal wie mit Schuhwichse überzogen. Man spürt das Bemühen, den Gästen schöne, angenehme Tage zu bieten, auch im Dienstleistungsgewerbe. Ein Optiker reparierte Anitas Sonnenbrille gratis; jedermann ist hilfsbereit.
Pas de l’Ours kein Fauxpas
Ein besonders schöner, alter Gebäudekomplex, ein uraltes, auch im oberen Teil verschachteltes Châlet mit einem 3-stöckigen, abgerundeten Erker (ev. ein Treppenturmvorbau) im Engadiner Baustil erweckte unsere Aufmerksamkeit, inbegriffen ein mehrstöckiges Familienhaus aus Holz, schon fast ein Wohnturm, wie er im mittleren Wallis früher üblich war. Ein angepasster, weisser Hotelbau (das „Hotel Etrier“) ist in den Baukomplex einbezogen. Dessen Merkmale sind Wölbungen unter dem Schrägdach, holzumrahmte Fenster, diesmal ein 5-stöckiger Erker von gleicher Bauart wie jener vor dem Châlet und die „Hostellerie du Pas de l’Ours“. Im Bistro („Le Bistrot des Ours“) sind Felswände aus unbehauenen Natursteinbrocken, historische Holzdecken wie eine Abwandlung der Zillis-Kirchendiele und offene Kamine. Weil wir einen Urs (Ours = Bär) bei uns hatten, testeten wir das Ours-Restaurant mit einem Apéro, zu dem Oliven und Salzstangen gereicht wurden, und beschlossen einhellig, hier zu dinieren.
Über die Walliser Küche und das Essen in Crans-Montana werde ich ein einem nächsten Blog berichten, weil diese durchaus der Rede wert sind.
Quellen
Thurre, Pascal: „Crans Montana 1893‒1993“, Reliure de Schmacher SA, Schmitten, Réédition 2002.
Kägi, Ulrich: „Explosion in Crans-Montana“, in Weltwoche vom 08.05.1974.
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