BLOG vom: 09.05.2011
Altstadt-Umfahrung Mellingen: Lohnt sich der teure Eingriff?
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Die Aargauer haben am 15.05.2011 auf Kantonsebene über eine lokale Frage zu befinden: über die Umfahrung „NK 268" in Mellingen. Die Befreiung vom Durchgangsverkehr der historischen Städte im Kanton Aargau ist im Prinzip ein unbestrittenes Anliegen. Sie ist in Aarau, Aarburg, Bremgarten, Ennetbaden, Laufenburg, Lenzburg und Rheinfelden bereits vollzogen.
Und nun steht Mellingen (rund 4700 Einwohner) an; später dürfte noch Bad Zurzach an der Reihe sein. Nachdem die Städtchen immer mehr in die Umgebung ausuferten, wird es zunehmend schwieriger, befriedigende Linienführungen zwischen all den Bauwerken zu finden. Zudem haben sich die Kleinstädte im Aargau an Flüssen oder Bächen (wie Lenzburg am Aabach) angesiedelt, und was noch an Ufern unverbaut ist und der Natur gehört, wurde oft zum geschützten Naturschutzrefugium – zum Erholungsraum für Pflanzen, Tiere und Menschen, die mit ihren Hunderudeln ihrerseits selbst dort zum Störfaktor werden.
Auch in Mellingen würde die Umfahrung mit der neuen Reussbrücke in der Fislisbachermatt westlich des Städtchens das per Dekret geschützte Reussufer im beliebten Kanuland berühren und eine Rodung von 600 Quadratmetern Wald erfordern. Dabei richtet sich der Widerstand unter den Motto „Umfahrung Mellingen – so nicht“ im Wesentlichen nicht gegen diesen „Abschnitt 1“ (vom Anschluss an die K 268 beim Tanklager-Kreisel bis zum Anschluss an die K 269, an die Birrfeldstrasse also, in der Nähe der Sägerei). Hier würden etwa ein rostiger fahrbarer Kran, dem niemand nachtrauert, und ein kleiner Teil des kaum noch gebrauchten Waffenplatzes Mellingen zu Umfahrungsopfern. Missfallen erregt vielmehr der „Abschnitt 2“. Diese 950 m lange Strasse, die Fortsetzung des 1. Abschnitts südwärts, die durch das Ägelmoos führen soll, ist die Strecke des Anstosses. Wenn ich die Karte in der Abstimmungsvorlage richtig interpretiere, würde damit der Fussballplatz umfahren, und die Strasse wäre näher an den Weiler Büblikon und das Dorf Wohlenschwil auf der Endmoräne herangedrückt. Offenbar legte man sich lieber mit den Wohlenschwilern als mit den Fussballern an: keine Verschiebung des Spielplatzes. Zudem wäre in einem dicht besiedelten Gebiet der Neubau einer Fussballanlage mit all den damit verbundenen Immissionen (Lärm und Flutlicht) und der Randale (falls diese auch in ländliche Gebiete vorgedrungen sein sollte), kaum noch zu bewerkstelligen.
Augenschein
Was soll nun ein Aargauer ohne besondere ortskundliche Kenntnisse zu diesem offensichtlich verknorzten Problem am Abstimmungstag sagen? Ich sah mich ausserstande, ein wohlabgewogenes Urteil zu fällen, und reiste als pflichtbewusster Stimmbürger am Sonntag, 01.05.2011, an den Ort des Geschehens. Am Ende der Lenzburgerstrasse flatterte ein zerschnittenes Plakat der Umfahrungsbefürworter, ein Zeichen für einen heftig geführten Abstimmungskampf. Die Einfahrt in die Altstadt, durch die sich an Werktagen über 17 000 Fahrzeuge quälen und die den Fussgängern nur ganz wenig Platz lässt, war selbst an diesem Sonntagnachmittag noch gut belebt. Die Kanten eines Brückenbogens waren aufgekratzt, weil ihnen Fahrzeuge zu nahe gekommen waren, und einige Altstadthäuser haben Risse.
Insgesamt schien die Stimmung im Städtchen Mellingen für die Umfahrung zu sein, besonders auch auf der Seite, welche der Umfahrung abgewandt ist, im Gebiet Ifang. 3 Einwohner sagten mir übereinstimmend, wenn die Umfahrung nicht gebaut werde, bereite man das Gebiet wahrscheinlich für den Einfamilienhausbau auf. Was sich in der Mellinger Altstadt abspiele, sei unhaltbar, was ich ebenfalls so empfand.
Anschliessend wanderte ich linksufrig der Reuss entlang zum Ort des umfahrungsplanerischen Geschehens, vorbei an einem Coop-Center und Industrie- und Gewerbebetrieben bis zur grossen Sägerei („Säge“) am Reussufer, wo eine leicht gebogene Brücke geplant ist, deren Fortsetzung als ebenerdige Strasse einen Teil des Waffenplatzareals, auf dem gerade noch ein Militärlastwagen stand, beansprucht. Wenige Meter weiter unten biegt der intensiv bewachsene Fluss rechtwinklig nach rechts ab, seinen Lauf Richtung Birrhard, Mülligen und Gebenstort zum Wasserschloss Einmündung in die Aare unterhalb von Brugg) fortsetzend.
Die Reuss kann vor der Kurve über einen Eisensteg überquert werden. Er führt zur 1975 in Betrieb genommenen regionalen Kläranlage der Gemeinden Birrhard, Mägenwil, Mellingen, Niederrohrdorf, Oberrohrdorf, Tägerig und Wohlenschwil, deren zarter Duft der kürzlich erblühten Titanwurz im Botanischen Garten Basel in abgemilderter Stärke Konkurrenz machte. Der römische Wassergott Neptun grüsste von der mit Ortswappen geschmückten Fassade des Betriebsgebäudes, verhiess sprudelnde Quellen, die vor der Anlage einen klaren Kläranlagentümpel geschaffen haben.
Von dort drehte ich die Spazierrichtung gegen die Fislisbachermatt, durch die der 1. Umfahrungsabschnitt führen soll. Ich staunte, dass im Gelände keinerlei Hinweise auf den geplanten Strassenverlauf zu sehen waren und sich das interessierte Stimmvolk also auf die zu klein wiedergegebenen Karten im der Abstimmungsbroschüre abstützen muss; die Karten wurden klein gedruckt, obschon genügend Leerraum zur Verfügung stand. Für solch eine unqualifizierte Information verdient die Kantonsverwaltung für einmal nicht eben die Bestnote. Immerhin geht es um ein kompliziert-komplexes 36,5-Mio.-CHF-Projekt, wovon die Stadt Mellingen 7,2 Mio. CHF zu tragen hätte.
Ich hatte das Gefühl, die einzige Person zu sein, die sich an jenem Sonntagsnachmittag im offenen Gelände an Ort und Stelle über das Abstimmungsgeschäft informieren wollte. Ich kam mit einem waschechten, ausgezeichnet informierten Mellinger ins Gespräch, der mich vollumfänglich informierte und mir auch die Vorgeschichte erzählte. Er konnte begründen, wieso es zu einem derartigen planerischen Geknorze kam. Der entscheidende Zeitpunkt, eine Umfahrung ohne grosse Komplikationen zu bauen, sei damals verpasst worden, als das Schützenhaus stillgelegt wurde, erinnerte er sich. Jetzt aber stünden einer vernünftigen Linienführung zu viele Hindernisse entgegen.
Das hat auch dazu geführt, dass das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Umfahrung in einem Prüfungsbericht des Bundes als „ungenügend“ bezeichnet wurde; der Eingriff in die Landschaft sei „bedeutend“, hiess es von gleicher Stelle. Der Aargauer Regierungsrat aber machte geltend, nicht das schlechte Kosten-Nutzen-Verhältnis, sondern die beschränkten Finanzmittel für Agglomerationsprogramme seien dafür ausschlaggebend gewesen, dass der Bund dem Projekt in der Priorität zurückstufte.
Die Umfahrung, die mit „flankierenden Massnahmen“ wieder einen Anschluss an den Städtcheneingang erhalten würde, dürfte dadurch die Verkehrsentlastung in der Altstadt reduzieren, das heisst, einen Teil der Wirkung verpuffen lassen. Zudem wird sie gleich ausserhalb der Innenstadt neue Verkehrsbedürfnisse schaffen, wahrscheinlich unter anderem durch den Bau eines Einkaufszentrums von Migros.
Ja oder Nein?
Bei der Zurückwanderung durchs mittelalterliche Städtchen mit den bloss 3,5 bis 4 m breiten Eingangstoren, den besonders schönen, quer zur Hauptgassen verlaufenden Seitengassen mit den Restaurants und den verträumten Nischen, zu dem der intensive Motorfahrzeugverkehr wie die Faust aufs Auge passt, überlegt ich mir, wie ich denn die auf ein Ja oder Nein zur Umfahrung reduzierte Abstimmungsfrage beantworten soll. Wenn man sich nicht entscheiden kann, besteht die Möglichkeit, der Abstimmung fernzubleiben oder leer einzulegen, um wenigstens die Beteiligung zu erhöhen. Das ist nicht meine Art.
Also muss ein Entscheid her: Ich bringe es nicht fertig, unbefriedigenden Projekten mein Ja-Wort zu geben. Also werde ich ein Nein in die Urne legen – in der Hoffnung, dass im Falle einer Ablehnung der Mellinger Umfahrung anschliessend eine zweckmässigere Lösung aus dem Hut gezaubert wird.
Das hätte nebenher auch noch gute Auswirkungen auf den Frieden zwischen Wohlenschwil (mit dem Ortsteil Büblikon) – im Moment sind die guten Beziehungen des Strassenprojekts wegen etwas angeschlagen. Die Gemeinden arbeiten zum Beispiel im Schulwesen und beim Alterszentrum Mellingen-Wohlenschwil zusammen. Nach einem Nein könnte es dann zu einer Neuausgabe des historischen „Mellinger Friedens“ kommen, wie 1653 nach der Entscheidungsschlacht im Bauernkrieg. Die aufständischen Bauern mussten bei Wohlenschwil kapitulieren und im Rahmen des erwähnten Friedensschlusses in Mellingen dann harte Bedingungen akzeptieren.
Irgendwen treffen die harten Bedingungen auf jeden Fall.
Nachtrag vom 15.05.2011
Die Stimmberechtigten des Kantons Aargau haben das Umfahrungsprojekt mit einem Ja-Stimmenanteil von 60,1 Prozent gutgeheissen. Nur jeder 4. ging an die Urne; damit war die Stimmbeteiligung ausgesprochen tief, was bei der mangelhaften Information über ein komplexes Projekt verständlich ist. Gegen das Teilstück, das ein geplantes Einkaufszentrum erschliessen soll, wurden bereits rechtliche Schritte angekündigt.
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