Textatelier
BLOG vom: 30.05.2011

Zeitzeichen: Wenn Bücher langsam aus der Mode kommen

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Die inflationäre Schnell- und Massenproduktion von Büchern hat dazu geführt, dass das traditionelle Buch an Ansehen verloren hat, und das platzsparende E-Book scheint ihm noch den Rest zu geben. Grundsätzlich ist bei dem, was noch gedruckt wird, eine ähnliche Entwicklung wie beim Zeitungs- und Zeitschriftenwesen festzustellen: Füller-Bilder nehmen immer mehr Platz ein, der Text wird zweitrangig. Für solche Werke ist der Platz im Büchergestell zu teuer, zu schade. Damit meine ich nicht die Bildbände mit hochwertigen Fotografien von erstklassiger Druckqualität. Eine gute Fotografie hat oft ebenso viel Aussagekraft wie eine textliche Schilderung. In beiden Fällen kann der Informationswert hoch sein, zusätzlich zur Erbauung, welche die Lektüre und die Bildbetrachtung vermitteln. Kritisch angesprochen sind hier bloss die Bücher, die einfach mit Verlegenheitsbildern aufgeblasen werden.
 
Letzthin schaute ich in ein Brockenhaus am oberen Ende des Zürichsees hinein, dessen Leiterin mir sagte, sie nehme keine Bücher mehr an, die ihr gratis angeliefert werden, denn sie hätten keinen Wert mehr. Im hinteren Teil der grossen Halle lagen alte, verstaubte Bücher auf und neben Gestellen in einem wilden Durcheinander, sogar mit aufgeschlagenen Seiten und zerknittert, und es war ein mühseliges Unterfangen, einige Fundstücke herauszufischen. Unter anderem fand ich ein broschiertes Büchlein aus dem Jahr 1986 („Augenzeugen unerwünscht“) über den von Russland versuchten Völkermord in Afghanistan, das Einblicke in die nach wie vor dramatischen Geschichte jenes umkämpften Gebiets an der „Landstrasse der Völker“ gibt; die Pässe des Hindukusch waren für viele Eroberer das Tor zu Indien. Perser, Griechen, Hunnen und Türken, dann Alexander der Grosse, Dschingis-Khan und seit Jahren auch die Amerikaner, die sich offen zur Welt-Führungsmacht erklärt haben (Obama-Rede am 25.05.2011 in London), mit ihren Helfershelfern wechselten sich in der Beherrschung des Lands ab.
 
In Antiquitätenhandlungen und Brockenhäusern finde ich immer wieder Perlen aus der Buchproduktion der letzten 150 Jahre; in Brockys kann man sie oft zu Spottpreisen kaufen, weil man dort froh ist, wenn es wieder etwas Luft gibt. Alte Werke reflektieren den Wissens- und Erkenntnisstand vergangener Zeiten, als nicht allein auf Baustellen, sondern auch an Schreibtischen Schwerarbeit geleistet wurde. Damals wurde noch mit Hingabe ausführlich geschrieben und beschrieben sowie gezeichnet. Schwarz-weiss-Fotodokumente und kunstvolle Illustrationen aus der Hand von talentierten Zeichnern untermauerten die Darstellungen aus der Natur, des gesunden und kranken Organismus von Tieren und Menschen, die ausführlichen Beschreibungen von Landschaften, des Kunstschaffens, der aufkeimenden Technik usf. Wenn man dann noch bedenkt, dass alles von Hand – Buchstabe um Buchstabe und Satzzeichen um Satzzeichen – abgesetzt werden musste, wächst die Bewunderung. Das durch Lichteinwirkung vergilbte Papier, das oft noch ein paar Wasserflecken hat, weist auf das hohe Alter der Werke hin – oft benützt man heute Fotografien von solchem altehrwürdigem Papier, abgerissen und mit beliebten verknitterten Rändern als Hintergrund für Computerdokumente, eine grafische Aufwertung.
 
Ich liebe Bücher, die mit Geschick, Hingabe und Sorgfalt hergestellt wurden und Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte auf dem Rücken haben. Lederrücken oder -einbände reinige ich sorgfältig und imprägniere sie sorgfältig mit einem Lederbehandlungsmittel aus dem Schubladenschrank im Entrée, in dem die Schuhpflegemittel auf ihren Einsatz warten.
 
Die Verachtung der Bücher, wie sie sich zunehmend abzeichnet, ist für mich eine unfassbare Erscheinung der irritierten Moderne. Eine auf die eigenen Interessen und Bedürfnisse abgestimmte Hand- bzw. Hausbibliothek müsste doch jeden Menschen, der in bestimmten Momenten kompetenten Rat sucht oder ob er sich in einer Phase von Ruhe und Beschaulichkeit an schönen, aussagekräftigen Bildern und geistreichen Gedanken erlaben möchte.
 
Bücher haben ganz andere Dimensionen als auf den schnellen Massenkonsum abgestimmte Radio- oder Fernsehsendungen, obschon es auch hier grandiose Dokumentationen gibt. Wenn immer ich in einer Bibliothek bin oder mich vor meinen eigenen Bücherwänden aufhalte, spüre ich etwas von der intellektuellen Kraft, die in ihnen steckt. Bücher sind keine Bedrohung – und vor allem ungelesen völlig harmlos ... so dass sich Angst vor ihnen erübrigt. Oft aber sind es Platzprobleme und Ängste vor dem Abstauben, die dem Aufbau einer Bibliothek entgegenwirken. Leere Wände sind einfacher zu reinigen. Deshalb erwirbt man oft lieber einen elektronischen „Reader“, auf dem Tausende von günstig zu erwerbenden Buchinhalten gespeichert werden können, ganze Bibliotheken also, die man Problemlos mich sich herumtragen kann. Auch Hörbücher sind eine Konkurrenz zum gedruckten Buch.
 
Und wenn man Sie nach einem Geburtstagswunsch fragt, sagen Sie bitte nicht: „Ein Buch habe ich schon.“ Sondern weisen Sie daraufhin, dass Sie sich wieder vermehrt dem Lesen zuwenden wollen ... und die Bewunderung wird Ihnen sicher sein. Lassen Sie sich von Nachdenklichem, Belehrendem unter der Sturzflut von Seichtem nicht stören. Und gegebenenfalls werden Sie erstaunt sein, wie gut Sie in öffentlichen Bibliotheken und Archiven, Treffpunkten von Bücherfreunden, beraten werden.
 
Die Früchte der Belesenheit muss man nicht vorführen, man sollte sie aber lustvoll geniessen.
 
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