BLOG vom: 18.06.2011
Art 42: Wo Alltägliches zur allerteuersten Kunst veredelt ist
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Wenn die berühmtesten 300 Galerien dieser Erde jene Werke aus dem 20. und 21. Jahrhundert zusammenstellen und nach Basel verfrachten, die ihnen als die hervorragendsten erscheinen, wird jedem klar: Die Art 42 Basel ist die führende diesbezügliche Schau, geradezu der Extrakt dessen, was an Spitzenleistungen der verschiedenen Kunstsparten in den letzten Jahrzehnten vollbracht wurde und heute vollbracht wird. Beim Rundgang durch die Ausstellung wäre ich nicht unbedingt selber daraufgekommen, ein deutlicher Hinweis auf mein unterentwickeltes Kunstverständnis, abgesehen von meinem Talent als Kunstkritiker (siehe unten, bitte nicht verpassen!)..
Tanz der Millionen
Güter von unvorstellbarem Wert wurden in die Muba-Gebäude am Messeplatz in Basel angeliefert, und schon allein das Packmaterial, von dem ich einen Teil durchs Glas im 3. Stockwerk des Muba-Zentralbaus (jenem mit der Uhr) gesehen habe, ist eindrücklich: übermannshohe und kleinere Holzkisten, mit Pfeilen nach oben (UP), Gebinde also, die nicht abgelegt werden durften, mit den berühmten Stielglasabbildungen beklebt, die auf die Zerbrechlichkeit des unersetzlichen Inhalts aufmerksam machen. Ein Teil der Werke ist dermassen gross im Sinne von voluminös, dass sie in den Muba-Hallen nicht Platz fanden und in einen speziellen Raum für besonders Interessierte wie Galeristen und potente potenzielle Käufer für 500 CHF pro Quadratmeter und Stunde eingelagert werden mussten. Als grosszügige Sponsorin tritt die UBS auf, die sich damit auf elegante Weise auch gleich für finanzielle Transaktionen anbietet.
Wie man die Werke von mehr als 2500 Künstlern heil nach Basel verschiffen, verflugzeugen, vereisenbahnen und verlastwagen konnte, ist mir ein Rätsel, eine logistische Glanzleistung, zweifellos. Und was nicht an äusserem Volumen beeindruckte, tut es mit dem inneren Wert. Picasso, Miró, Léger und Chagall (durch Vermittlung der Galerie Landau in der Pfalz D vertreten), sind da, ohne in dieser verwirrenden Umgebung besonders aufzufallen.
Schillernde Besucher-Individuen
Wer sich durch die labyrinthischen Ausstellungsräume bewegt, wie Eva und ich das am Mittwochnachmittag, 15.06.2011, fast 4 Stunden lang getan haben, kommt nicht umhin, seine Aufmerksamkeit auch dem disziplinierten, artigen Publikum zu schenken, bestehend aus wandelnden Kunstwerken, stilvoll nach älterer oder neuerer Mode gekleidet beziehungsweise kostümiert und ohne jede Hemmung, eine gewisse Wohlhabenheit bis hin zum Schwerreichtum erkennen oder mindestens durchblicken zu lassen: Galeristen, Kuratoren, Künstler, Weltverbesserer, Kunsthändler, Kunstsammler, Kunstinteressierte, Stars und Jetsetter, im Privatjet angeflogen. Die Flugmaschinen sind ein Vorbild für die Höhenflüge der Preise; wer an solch einer Präsentation ausstellen darf, kann in Zukunft hinten an seinen Wertvorstellungen eine Null anhängen. Der Kodirektor dieser berühmtesten aller internationalen Kunstmessen, Marc Spiegler, gab eine wichtige Erkenntnis preis: „Die Zeiten, in denen Leute ein schlechtes Gewissen hatten, Kunst zu kaufen, sind vorbei.“ Und natürlich spielte bisher vielen Leuten diesbezüglich nicht allein das schlechte Gewissen, sondern auch das Portemonnaie einen Streich. Das hat sich offenbar geändert. Angesichts des dramatischen Zerfalls der internationalen Währungen wie Dollar und Euro stellte sich zudem ein vollkommen geändertes Wertebewusstsein ein.
Die von Kauflüsten gezeichnete Stimmung artete nie aus, sondern dieses Hochamt der Kreativität vor den Altären grosser, mittlerer und kleiner Werke stand unter der dämpfenden Wirkung einer Art von eucharistischer Anbetung. Das Spannungsfeld zwischen überholter Tradition, der etablierten zeitgenössischen Kunst und Zukunftsvisionen zwang zum vertiefenden Nachspüren und Sinnieren darüber, was aus der Kunstwelt in der nahen Zukunft noch werden wird. Dementsprechend sind junge Künstler stark beachtet, die insbesondere im Sonderbereich „Art Statement“ untergebracht wurden. Würde man mich nach Visionen fragen, was selbstverständlich niemand tut, würde ich auf die Mitarbeit der Digitaltechnik mit ihren offenbar in die Länge und Breite wachsenden Plottern und die Möglichkeit zur Bildmanipulation hinweisen. Hinzu kommt der Drang zum monumentalen Klotzen, meines Erachtens am Eindrücklichsten vom französischen Bildhauer Bernar Venet, 1941 in Château-Arnoux-Saint-Auban geboren, mit seinen gebogenen, dynamisch erscheinenden Stahlbarren („Rolled steel“) zum Ausdruck gebracht, tonnenschwere, ineinander verschlungene, rostende Kreissegmente, die in einem Raum oder in einer Parklandschaft neue Räume schaffen. Drängen gebogenen Rohre zur Öffnung oder zur vollständigen Schliessung? Sie verharren, gespannt.
Kreative Freizeitgestaltung
Einige Kunstwerke leisten ihre besten Dienste als Bastelanregungen und stehen nur in Ausnahmefällen hinter dem zurück, was man am Weihnachtsmarkt im Schloss Biberstein AG jeweils sieht – alles heimgemacht. So gibt es (an der Art) Artikel wie die beliebten Mobiles; auf elektrisch angetriebenen, sich drehenden Rondellen aufrecht stehende schräge und leicht gekrümmte Drähte, die sich gegen- und auseinander bewegen, sodann liegen Pariser Brote (Baguettes) auf einem Tisch, die im Mittelteil von Zuckerhaufen (oder ist es Salz?) flankiert und mit einem Messer getrennt werden. Ich wagte nicht, zu degustieren, da man eine solche fast unbezahlbare Kunst nicht gleich essen sollte. An einer Wand klebt ein Frühstücksgedeck mit Inhalt, abgesehen vom Kaffee, der mit dem besten Willen nicht angeleimt werden konnte. Medien loben die „hohe Qualität". Wahre Experten sprechen.
Ferner trifft man viele Spielereien, auf manch einen Gag, und gleich nebenan ist ein Werk von betont zivilisationskritischem Inhalt. Auch Altstoffverwertungen sind dabei, zur blühenden Kunst veredelter Schrott. Kürzlich habe ich in Schwedt/Oder D das riesige Papier-Recycling-Werk Leipa besichtigt. Auf verschiedenen Lagerplätzen im Freien türmen sich ganze Berge gebündelten Altpapiers und Kartons auf, und ich habe das schon dort als moderne Kunst empfunden. Und tatsächlich findet man auch an der Art Basel solch ein gepresstes Papierbündel in den verschiedenen Farbnuancen, die zufällig auf die Aussenseite gelangt sind.
Wenn man dann alles so bedenkt, auch den herumstehenden Schleudersitz aus einem abgewrackten Flugzeug einbezieht, wie er die Art bereichert, dann nähert man sich der Einsicht, dass eigentlich alles Kunst ist und unser mechanisierter Zivilisationsbetrieb nichts anderes als purlautere Kunst gebiert. So sind zum Beispiel 2 alte, unterschiedlich geformte Teppichklopfer an der Wand montiert. Kunst. Verbeultes Blech wurde farbenfroh, knallig bemalt. Kunst.
Die amerikanische Künstlergrösse France Stark ist berühmt für seine Kernfusion den Schreibens (von Schriften) und bildhafter Kunst. Als Vertreter der New Yorker Galerie Gavin Brown’s enterprise wartete er mit diesem starken Kunstwerk, schwarz auf Weiss auf:
eh
eh
eh
eh
eh
eh
eh
eh
eh
eh
Ende der Kunst: 20 Buchstaben, zentriert. Und sonst gar nichts, das ablenken könnte.
Ich hab’s!
Im Ausstellungskatalog (65 CHF) habe ich herausgefunden, dass „eh“ die Kurzform von „I've Had it! and i've Also Had IT!“ ist. Vielleicht hatte Stark – eine Idee. Viel sprachgewaltiger drückte dies Peter Abs im Heft 54-2004 der „Texte zur Kunst“ aus; man mag sich bitte das Bittersüsse dieser eher verklärenden statt erklärenden Schilderung von Starks Schaffen im Allgemeinen wie Blütenhonig auf der Zunge zergehen lassen: „An das Motiv schlechthin delegiert Frances Stark allerdings in erster Linie die Aufgabe, die Exzentrik und Konstruiertheit seiner Genese mit Anflügen von vermeintlicher Lieblichkeit und Dekor-Attrappen in der Ausführung kollidieren zu lassen, so dass Friktionseffekte entstehen. Mit ihnen werden bei Frances Stark die Kalamitäten künstlerischen Weitermachens zu einer schönen, komplizierten, bittersweeten Angelegenheit, zu der man sich gern noch einmal mit ihr verabredet.”
Es wird mir niemand verübeln, wenn ich versuche, eine eigene Ausstellungsbeschreibung auf sprachlicher Augenhöhe am versierten Publikum vorbeiziehen zu lassen: „Als Kompendium des nachdrücklich Gewaltigen, das gelegentlich in die Rolle des Unscheinbaren schlüpft und, Bleistiften, Pinseln und PowerPoint sei’s geklagt, sich kaum noch herausschälen kann, vermag eine einsame, sich verflüchtigende Wolke den Horizont mit einem schwachen Schimmer höchstens punktuell etwas aufzuhellen. Darüberhinaus weist die Art 42 allerdings in der Totale, mithin als Gesamtkunstwerk, in einer gleichzeitig understatement-artigen und dabei bis unter die Lederhaut berührenden, subtilen Art und dann wieder mit erdrückender Eindringlichkeit den Weg in Sphären, die sich durchaus in der Banalität des Alltags verlieren oder aus diesem abgeleitet sein können. Kein Mensch ist vor Abstürzen in dessen Schlünde gewappnet, ohne mit denen ein Treffen verabredet zu haben.”
Das dürfte genügen. Ich will verhindern, dass dieses mein Glanzstück von Text im Hinblick auf die kommende Art 43 grafisch umgepowert wird, zum Schutze des Publikums. Denn das Spiel mit Wörtern, Kreuzen und Währungszeichen wie € und $ als Symbole des Zerfalls ist in der Kunst der Jetztzeit ebenso an der Tagesordnung wie erotisch-pornografische Darstellungen. Diesen geben sich besonders viele US-Künster mit beachtlicher Inbrunst hin, vielleicht weil sie mit ihrem Schaffen die Überwindung der Prüderie in ihrem Heimatland bewirken möchten. Kunst darf alles, und diese Narrenfreiheit soll und muss sein.
In vielen Berichten über die Art 42 war zu lesen, die Kunst gleiche sich international an, die Globalisierung sei sozusagen flächendeckend über diese Sparte schöpferischer, menschlicher Äusserungen hinweggefegt. Ich habe das überhaupt nicht so empfunden: Die asiatische Kunst, auch wenn sie in unzähligen Ausdrucksweisen erscheint, hat sich weniger vom grossartigen, fernöstlichen Kulturerbe entfremdet als die amerikanische und europäische. Und die afrikanische Kunst ist immer unverkennbar afrikanisch. Wahrscheinlich haben sich Materialien wie Kunststoffe, übergrosse Papiere und die Möglichkeiten zur Verarbeitung grosser Metall- und anderer Werkstücke verbessert, doch die Ideen sind kontinent- und landestypisch geblieben, falls dahinter überhaupt solche Ideen sind und diese nicht durch den Besucher eingebracht werden müssen.
*
Irgendwann sind Schaubedürfnis und Bildungshunger gesättigt. Die Beine sind vom Gehen und Herumstehen schwer, melden ihr Bedürfnis nach Entlastung an. Man möchte sie wie die mit schwarzen Strümpfen überzogenen, in Pumps auslaufenden Damenbeine, die wie am Steilansatz zusammengewachsene Kirschen sind und an der Wand baumeln, hängen lassen. Der Österreicher Markus Schinwald hat sie unter dem Motto „Muffles“ (Umhülltes) erfunden.
Hängt man herum, wird man zu einem Kunstwerk –, wobei jeder Mensch, ganz sicher aber jeder festlich herausgeputzte Art-Besucher, ohnehin ein solches ist, auch wenn er sich auf seine Weise bewegt.
Kunst – das habe ich nun gelernt – ist überall. Und in Basel besonders.
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