BLOG vom: 22.06.2011
Der Cheisacherturm Sulz: Auf dem „Schilthorn des Aargaus“
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Zwar geschieht alles auf einer niedrigeren Ebene, doch erinnert der Rundumblick auf dem Cheisacherturm oberhalb von Sulz AG etwas an jenen, den man vom Schilthorn aus geniessen kann. Die schroffen Felswände und Bergkolosse im direkten Umfeld sind im Falle des Cheisacherturms zwar durch eine grün-gelbe, hügelige Landschaft ersetzt, und die Gebirgskränze sind weit in den Hintergrund verschoben. Doch die Rundsicht ist von der Aussichtsplattform des 23 m hohen Turms auf 722 Höhenmetern noch reichhaltiger: Anstelle von Geröllhalden sind in nächster Nähe zahlreiche Weiler, Dörfer, Wälder, von einem Netz von Flur- und Waldwegen erschlossen, von Starkstromleitungen (Verbindungen zur Energiezentrale Laufenburg AG) überzogen, und hinter dem Rhein beginnt der Schwarzwald. Das Alpenpanorama ist ebenfalls im Angebot. Ein Digirama (digital erstelltes Panorama mit Beschriftung) nennt die Namen. Auf der südlichen Seite präsentiert sich der Formenreichtum des Kettenjuras; man steht innerhalb dieses Hügelzugs, hier allerdings auf dem Tafeljura, gleich selber – im Oberfricktaler Bezirk Laufenburg (Kanton Aargau), im Grenzgebiet der der Gemeinden Gansingen, Mönthal und Sulz/Laufenburg.
Der neue Turm
Schon 1917 stand an dieser Stelle ein Beobachtungsturm, und 2003 tauchte in Sulz die Idee auf, einen grösseren Turm zu errichten (Internet: http://www.cheisacherturm.ch/). Die umliegenden Gemeinden, Forstbetriebe, Jagdgesellschaften und die Berner Fachhochschule für Architektur, Holz und Bau wurden in die Vorbereitungen und Planung einbezogen und Sponsoren gesucht. Aus 8 Turmprojekten schwang das Projekt „Klus“ von Sandra Horat (Architektin), Fabian Schmid und Martin Zwahlen (Ingenieure) turmhoch obenaus. Zweifellos wurde eine ausgezeichnete Wahl getroffen.
Der hölzerne Turm mit dem quadratischen Grundriss von 5,7 m Kantenlänge integriert sich hervorragend in den Wald. Er wirkt luftig, filigran und elegant, nach dem Beschrieb der Architektin Horat: „Die ,Klus’, gebildet durch 2 symmetrisch angeordnete Elemente, ist das zentrale Thema des Turms. Die in Gehrichtung verlaufenden Lamellen geben dem Turm seine Leichtigkeit.“
Als Klus bezeichnet man einen Taldurchbruch, eine Schlucht, im Falle des Turms einen breiteren, senkrechten Unterbruch in den wie ein Lattenrost aussehenden Seitenwänden auf 2 Seiten. Der Turm kostete 650 000 CHF und steht seit dem 04.10.2010 zur Verfügung und wird vom Trägerverein Cheisacherturm, Grametstrasse 22, CH-5272 Gansingen, betreut. Wer will, kann in eine Kasse am Turmfuss dazu etwas beitragen. Den Gegenwert erhält der Besucher in Gestalt herrlicher Ausblicke gleich ausbezahlt.
Spaziergang zum Cheisacher
Am späteren Nachmittag des Pfingstsonntags, 12.06.2011, sind Eva und ich von Sulz (Mittelsulz, bei der 1870 erbauten Kirche St. Peter und Paul) aus hinauf auf den Cheisacher und den Turm spaziert; natürlich gibt es auch beliebige andere Aufstiegsmöglichkeiten:
Das Sulztal ist abgelegen, eine in sich gekehrte Gegend, die ihre Selbständigkeit auf den 01.01.2010 bei der Fusion mit Laufenburg leider geopfert hat. Bis dahin war das Sulztal die einzige Aargauer Landschaft gewesen, die nur durch eine einzige Gemeinde zusammengefasst wurde, und es ist immer schade, wenn solche Eigenarten im Verödungsprozess der Globalisierung vermanscht werden.
Ursprünglich waren im Sulztal neben der Landwirtschaft, heute vom Rebbau, Obstbau, Getreidebau und Viehwirtschaft dominiert, die Weberei, Strohflechterei, Nagelschmiede und Posamenterie (Bänderherstellung) vertreten. Kleinere Industriebetriebe richteten sich in Rheinsulz am unteren Talende ein. In einer Gipsgrube wurde der Dünger für die Landwirtschaft gewonnen. Und auch Salz konnte abgebaut werden – davon stammt der Name Sulz ab; er hat also höchstens indirekt mit Sülze (in Gelee eingelegtes Fleisch oder Gemüse) zu tun. Selbst das Wappen der ehemaligen Gemeinde Sulz zeigt in Rot einen schwarzen mit Silber beschlagenen und mit einem silbernen „S“ überdeckten Salzbottich, beidseitig von je einem sechsstrahligen weissen Stern flankiert.
Der Pfingstsprützlig
An Pfingsten wurde wie jedes Jahr der Pfingstsprützlig gefeiert. Das ist der Name für einen kräftigen Knaben, der am Pfingstsonntag in ein dichtes Kleid aus Buchenlaub eingepackt wird, bis über den Kopf hinaus, und ganz oben wird ein Wiesenblumenstrauss angebracht. Der Pfingstsprützlig (Pfeistsprützlig) wird dann ins Dorf geführt, und, unterstützt von 2 Helfern, schreitet er schwerfällig durchs Dorf, gefolgt von einer Schweizerfahne und Viehglockengeläut. Vor dem ersten Brunnen macht er Halt, taucht seine Laubarme tief ins Wasser und spritzt die im Halbkreis um ihn herumstehenden Zuschauer an. Vor allem die Mädchen wollen benetzt werden, und sie rufen: „Mir au en Sprutz!“ Denn es heisst ja schliesslich, dass dies die Fruchtbarkeit beflügle, und fruchtbare Mädchen kann die Schweiz sehr gut gebrauchen, dem demografischen Wandel zuliebe. Dann wühlt der spritzende Sprützlig das Wasser im Brunnen auf, verspritzt es nach allen Seiten und sorgt so für einen feuchten und entsprechend fruchtbaren Sommer.
Der Pfingstsonntag 2011 war warm und trocken, und die Dusche war willkommen. Tags darauf stellte sich den auch prompt feuchtes, unbeständig, von gelegentlichem Regen belebtes Wetter ein. Woraus man sieht, dass die Sulzer geschickte, talentierte Wettermacher sind.
Von Mittelsulz zum Turm
Der Weg vom Dorf hinauf zum neuen Turm ist mit verwaschenen grün-gelben Wegweisern, die schwer zu lesen sind, im Übrigen gut signalisiert. 1 Std. 20 Min. soll es laut Wegweiser in Mittelsulz dauern, bis man oben ankommt. Wir brauchten genau 2 Stunden, weil wir während des Spaziergangs uns immer wieder umdrehten und das sich ausweitende Landschaftsbild mit dem allmählich bescheidener in Erscheinung tretenden Dorf Sulz auf uns wirken liessen. Der Weg führt an ausgedehnten, steilen Rebflächen an Südostlage vorbei, die seit 1982 angelegt wurden. Man hat auch Starkstromleitungen zu unterqueren, die bei mir immer ein Klingeln im Gehörbereich verursachen. Man wird dann zum Eichhof und weiter durch den Grosshalden-Wald auf Waldstrassen und auf steilen Pfaden ins Cheisachergebiet geleitet, wo sich eine Feldstrasse in einigen Windungen gegen den Grundboden nahe beim Aussichtspunkt emporschraubt.
Die Jungschar Vindonissa (Windisch) hatte hier oben ihr Zeltlager aufgestellt. Ein Mädchen, das gestürzt war, weinte, und junge Männer trugen einen grossen Kessel voll mit weiter unten perfekt zubereiteter Porridge herbei, ein dampfender Haferbrei, um den wir die Jungmannschaft beneidet haben. Noch bevor man auf dem Aussichtspunkt ist, wird bei einem Kreuz mit dem vergoldeten Jesus ein Blick übers Land gewährt, gewissermassen eine Kostprobe für das, was noch an Nah- und Fernsicht kommen sollte.
Auf dem Cheisacherturm
Der Cheisacherturm war überraschend gut belebt. Kinder, Eltern und ältere Leute wie unsereiner bewältigten die durchlochten, griffigen Eisenstufen zwischen der lockeren Holzverkleidung, von Zwischenboden zu Zwischenboden bis hinauf zur Aussichtsplattform. Die Namen der Spender sind auf den Stufen verewigt, und ein bisschen Reklame darf ja wohl sein; denn ohne Sponsoren wäre dieses schöne Werk nicht zu verwirklichen gewesen. Sogar die Nagra (Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle) ist hier verewigt, während im Hintergrund der Kühlturm des Kernkraftwerks Leibstadt dampft, eine Landmark.
Wir machten uns, nachdem wir uns sattgesehen hatten, auf den Rückweg, der in 1 Stunde problemlos zu erledigen ist. Beim Schulhaus, der Kirche Sulz und vor dem Feuerwehrmagazin war um 19 Uhr ein ausklingender Pfingstsprützlig-Festbetrieb im Gange. Wir fanden hier die Gelegenheit, unseren Durst zu löschen. Für eine Förderung der Fruchtbarkeit aber war es eindeutig zu spät; diesbezüglich sind bei uns Hopfen und Malz verloren. Ich glich das mit einer Flasche Feldschlösschen-Bier zu einem schmackhaften Spiess ab Grill aus. Man soll schliesslich nie aufgeben.
Quelle
Weber, Ulrich, und Fröhlich, Heinz: „Aargauer Bräuche“, AT Verlag, Aarau 1983.
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