Textatelier
BLOG vom: 01.08.2011

720 Jahre Schweiz: Wo Friedrich Dürrenmatts Güllen war

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
1950 schrieb der weltberühmte Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt (1921‒1990) in einem seiner ersten Texte zur Schweiz prophetisch„Vom Ende der Schweiz“. Ähnliche Texte, die zwischen Zorn und Zuneigung lavierten, folgten. Der Berner stocherte gern im Mist, und es ist kein Wunder, dass er den „Besuch der alten Dame“ nach Güllen, einem fiktiven Ort in der Schweiz, verlegte. In seinem Hörspiel „Herkules und der Stall des Augias“ (1954) wühlte er derart in Exkrementen herum, dass man seine Worte wohl als Scheisse bezeichnet hätte, stammten sie nicht von einem angesehenen Schriftsteller, der gerade dem Höhepunkt seines Ruhms zustrebte:
 
ERSTER: Es stinkt in unserem Land, dass es nicht zum Aushalten ist.
ZWEITER: Der Mist steht so hoch, dass man überhaupt nur Mist sieht.
DRITTER: Letztes Jahr sah man noch Hausdächer, nun sieht man auch die nimmer.
VIERTER: Wir sind total vermistet.
ALLE: Vermistet.
AUGIAS mit der Glocke: Ruhe!
Schweigen.
FÜNFTER: Wir sind aber vermistet.
SECHSTER: Bis zum Hals. Und drüber.
SIEBENTER: Verdreckt und verschissen.
ACHTER Versunken und verstunken.
ALLE: Verstunken.
 
Wir wissen seither, was grosse Literatur ausmacht: Begriffe aus der Fäkalsprache gegen seine Heimat werfen. Dabei muss vergessen werden, dass der Mist in der traditionellen bäuerlichen Kultur, in der Vorphase des Kunstdüngers, eine wichtige und positive Rolle spielte. Auf der Ruhmeshöhe konnte Dürrenmatt es sich 1961 bei einem Autorenabend zusammen mit deutschen Schriftstellern leisten, uns Schweizer als „vorsintflutliche Wesen mit ihrem Hang zum Heldenmythos“ herunterzumachen. Und zudem seien die Schweizer das ganze Mittelalter hindurch „so etwas wie die SS-Truppe in Europa“ gewesen, womit er das Söldnerwesen ansprach, in das sich viele Schweizer aus bitterer materieller Not – und sicher nicht zum persönlichen Vergnügen – geflüchtet hatten. Noch 3 Wochen vor seinem Tod hat der grosse Dürrenmatt in seiner Rede zu Ehren von Václav Havel (geboren 1936), dem ehemaligen Regimekritiker der Tschechoslowakei, die Gelegenheit benutzt, um darzulegen, dass die Zustände in der Schweiz noch viel schlimmer als im kommunistischen Ostblock seien. Dürrenmatt verglich sein Land Schweiz mit einem Gefängnis, in dem jeder Gefangene seine Freiheit beweise, indem er sein eigener Wärter sei. Das kam im Ausland gut an, in der Schweiz weniger.
 
Ich selber werde von Nestbeschmutzern ebenfalls nicht zu besonders intensiven Begeisterungsstürmen hingerissen, ohne aber ein Gegner von Leuten zu sein, die Kritik an den Zuständen im eigenen Land sind. Ich selber schrecke davor ebenfalls nicht zurück. Denn gerade demokratische Prozesse erfordern eine breit abgestützte, kritische Betrachtungsweise auch des internen Geschehens. Sie ist eine der Voraussetzungen für Verbesserungen. Aber es besteht doch ein Unterschied darin, ob eine ernsthafte und fundierte Kritik vorliegt oder ob sie zu einem blindwütigen Herumwerfen mit Dreck wird, um im Ausland Anerkennung und Lob zu finden.
 
Sicher gibt es kein Land, das frei von Unzulänglichkeiten und Missständen ist (bei Menschen ist es auch nicht anders). Im Bestreben, Verbesserungen herbeizuführen, besteht eine gesellschaftliche Pflicht, auf Missstände aufmerksam zu machen, die behoben werden müssen. Der Idealfall ist es, wenn gerade auch noch Lösungsvorschläge unterbreitet werden, die man diskutieren kann.
 
Es ist nicht schwer, auf verwerfliche Zustände in der heutigen Schweiz hinzuweisen. Dazu gehört aus meiner persönlichen Sicht vor allem die Bereitschaft vieler Schweizer Politiker bis hinein in die oberste Landesbehörde, den Bundesrat, sich den Forderungen und der Arroganz starker ausländischer Mächte aus Angst vor Repressionen zu unterwerfen. Das ist auch ein Ausdruck fehlenden Selbstvertrauens. Aber das ist für mich noch lange kein Anlass, das ganze Land mitsamt seinem geschichtlichen Hintergrund nach Dürrenmatt-Art in den Schmutz zu ziehen – einfach aus Gefallsucht dem Ausland gegenüber.
 
Ist das der Normalfall? Gestern Abend habe ich die ausführlichen Begleittexte zum ausgezeichneten Fotoband „Sibirien“ von Fred Mayer gelesen (Orell Füssli Verlag, Zürich), das 1983 erschienen ist, also noch zur Zeit der Sowjetherrschaft. Man kennt die Geschichte von Sibirien einigermassen, eigentlich ein eigener Erdteil von unvorstellbarer Grösse. In uns ist vor allem noch das Bild verhaftet, dass die Sowjetunion viele Kriminelle dorthin abschob. In manchen Gegenden Sibiriens gab es ihrer mehr als Einheimische, was sich in einem hemmungslosen Vagabundentum äusserte. Doch wird man dem grossartigen Land und seinen unbeugsamen, gastfreundlichen Menschen nicht gerecht, wenn man alles nur darauf reduziert; das war nur eine Randnotiz der Geschichte. Vorherrschend sind unter anderem die unvorstellbar schwierigen klimatischen Verhältnisse mit brutaler Kälte und fast unerträglicher Hitze bei ebensolchen Moskitoplagen, von denen ich auf einer Sibirienreise, die mich 1997 auf dem Jenissei bis nach Norilsk führte, einen kleinen Eindruck erhielt.
 
Im erwähnten Sibirien-Buch schrieb Valentin Rasputin (geboren 1937), einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller unter dem Titel „Hier, hinterm Ural, in der Ferne ...“ über die Menschen im gewaltigen, rauen und auch reichen Land mit seiner rätselhaften Natur: „Für uns, in Sibirien geborene und Lebende, ist es die Heimat, und nichts in der Welt ist uns teurer und näher; wie jede Heimat ist es auf Liebe und Schutz angewiesen. Und was andere in Sibirien schreckt, ist uns Sibiriern nicht nur gewohnt, sondern auch notwendig: es atmet sich leichter, wenn es im Winter friert und nicht taut; wir empfinden Ruhe, nicht Furcht in der unberührten wilden Taiga; die masslosen Weiten und mächtige Flüsse haben unsere freie, eigensinnige Seele geprägt.“
 
Fatalismus hin oder her: Das ist eine grossartige Haltung, die Hinnahme eines Schicksals, das man nicht ändern, aber überwinden kann. Man kann sich vorstellen, was für eine Beschreibung resultiert hätte, wäre Dürrenmatt, der kein Verständnis für landestypische Eigenschaften aufzubringen imstande war, Sibirier gewesen ... Statt von Mist hätte er wohl eine seelische Eiseskälte hochstilisiert und die Bevölkerung als Blutsauger nach Moskito-Art abgekanzelt.
 
Ich empfinde eine tiefe Ehrfurcht für Menschen, die zu ihrem Land stehen, zum Beispiel für Deutsche, die Deutschland lieben, für Engländer, die England mögen und Kalifornier, die ihrem Staat Positives abgewinnen können.
 
Gleichermassen habe ich alle Achtung vor Familienangehörigen, wenn sie sich nicht gegenseitig intern und extern beschmutzen, sondern auch in schwierigen Zeiten zueinander stehen. In diesem Sinne hat mich die bildhübsche Wendi Deng, die Frau des Medienzaren Rupert Murdoch, tief beeindruckt, die mit einem schnellen Hechtsprung ihren alten Mann vor dem Attentäter schützte und dem Tortenwerfer ins Gesicht schlug, um ihn ausser Gefecht zu setzen. Es ist schön, dass es auch im fortgeschrittenen Lebensalter noch Paare gibt, die Schwächen des Partners akzeptieren und dem modernen Druck der Gesellschaft zu Trennung und Scheidung im Rahmen der von feministischen Irritationen beschleunigten Familienauflösung widerstehen. Es ist heute fast kriminell, Worte wie dauerhafte Partnerschaft oder gar Heimat in den Mund zu nehmen. Für zeitgemäss denkende Aussenstehende ist es fast unerträglich, wenn Paare sagen, dass sie ein schönes gemeinsames Leben haben. Wegen der Anpassungsdrucks und Gefallsucht geschieht das nur noch in Ausnahmefällen. Umso mehr berührt es mich, wenn ein Mann zu seiner Frau, eine Frau zu ihrem Mann, die Eltern zu ihrem Nachwuchs und der Nachwuchs zu seinen Eltern stehen. Etwas Erhebenderes kann man sich kaum wünschen, auch wenn es gegen die Zeitrechnung verstösst.
 
Die Schweiz feiert am heutigen 01.08.2011 ihren 720. Geburtstag. Sie ist nicht hinter den Alpen, die ihr die freie Sicht aufs Mittelmeer versperren, verkommen. Sie hat ihre Neider wie ein glückliches Ehepaar. Sie wurde und wird genauso von innen und aussen attackiert wie jeder andere Organismus auch. Und sie muss sich, wie jedes Individuum, durch ein korrektes Verhalten ein stabiles Immunsystem erarbeiten, das ihr erlaubt, Angriffe abzuwehren. Fehler müssen behoben werden, aber nach Dürrenmatt-Muster in jedem Miststock herumzustochern und ihn auszupressen, auf dass unten ein möglichst grosser Güllensee entsteht, den man dem Ausland genüsslich präsentieren kann, ist ein Blödsinn. Dürrenmatts Beschmutzungen seines Heimatlands wären in der alten Sowjetunion mit einer Deportation nach Sibirien geahndet worden, dorthin, wo noch gelehrt wird, was eine Heimat bedeuten kann – in all ihrer Unvollkommenheit.
 
Dürrenmatt wollte das Ende der Schweiz einläuten. Seine Rechnung ging nicht auf. Auf seine schäbige Haltung trifft zu, was der ACHTE (siehe oben) von sich zu geben hatte.
 
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