Textatelier
BLOG vom: 14.08.2011

Ländlerfest 2011 in Appenzell: Orgie von Farben und Tönen

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Die Einstimmung war perfekt: Bei der Brauerei Locher in Appenzell, die seit 1886 in grossen Kupferpfannen selbst in Vollmondnächten Gerstensäfte in allen Variationen zusammenbraut, fanden wir am Samstagnachmittag, 06.08.2011, gerade noch den letzten Parkplatz. An der Fassade eines Werkgebäudes zeigte ein grosses Gemälde unter plakativen Schrift APPENZELLER BIER eine sennische Familie mit Bläss (Appenzeller Sennenhund) mit heraushängender Zunge vor Hügeln und dem Alpsteingebirge beim Biertrinken; allein das tierische Wesen widerstand den bierischen Verlockungen. Im Übrigen sagt man dem Bläss dieselben Eigenschaften wie den Appenzellern nach: hart, pfiffig, fleissig, ausdauernd, intelligent, mutig, dem/n Fremden gegenüber vielleicht etwas misstrauisch. So wollen zuerst von einer Person oder einer Sache überzeugt sein, fallen nicht auf jeden Bocksmist herein. Auch das gereicht ihnen zum Vorteil.
 
Die Ischällner
Kaum waren wir aus dem Auto ausgestiegen, schwankten die Ischällner Immenberg getragenen, rhythmischen Schritts mit je 2 grossen Treicheln daher. Sie trugen dunkle Hosen und ockerfarbene Blousen und kamen mir wie ein vom Wellengang rhythmisch bewegtes Schiff vor. Von der Metzibrücke (Metzgereibrücke, ein Bauwerk aus Sandstein) steuerten sie ihrem Car zu. Konzentration war auf ihre luftgebräunten Gesichter geschrieben. Sie bewegten sich im Gleichschritt, so dass die Klöppel der Kuhglocken synchron an die wohltönende, gewölbte Innenwand schlug. Eine Abwandlung der Appenzeller Silvesterkläuse.
 
Die bronzenen Glocken bindet man in der Regel Weidetieren um den Hals, damit verirrtes Vieh im alpinen Gelände besser orten ist. Die Ischällner (was sprachlich vielleicht etwas mit Einläuten zu tun hat) aber blieben in ihrer geschlossenen Formation zusammen – mit einer Ausnahme: Der Glockenträger Armin Zahner aus CH-9504 Friltschen (ein Weiler in der Gemeinde Bussnang TG), kam mit lächelndem, spitzbübischem Gesicht auf mich zu, als wolle er mir ein Privatständchen darbieten. Die Glockenriemen, die sonst um den Hals von Kühen gelegt werden, waren mit Edelweiss- und Enzianmotiven bestickt, das Tragjoch mit einem angenagelten Lederpolster gepuffert. Von ihm erfuhr ich, dass die Ischällner gerade bei einer Hochzeit Spalier gestanden hätten, sich aber ausserhalb des 15. Appenzeller Ländlerfests 2011 bewegten, das an jenem Samstag zur Hochform auflief. 
 
Ja, dieses Appenzell, ohnehin eine Augenweide, wurde nun durch einen Hörgenuss ergänzt, durch eine Ohrenweide, möchte man sagen. So buntscheckig, farbig und festfreudig habe ich den Hauptort des Kantons Appenzell Innerrhoden bisher nicht erlebt. Sogar eine meiner Begleiterinnen, meine aus Asien stammende Schwägerin Alice, wurde davon ergriffen und entschied sich spontan, auf einen Umzug in die Schweiz hinarbeiten zu wollen. Im Ortszentrum, von lüpfiger Ländlermusik und Alphornklängen erfüllt, sorgte Spätnachmittagssonne für ein Aufblitzen der goldenen Schilder und ein Leuchten der Farben. Und irgendwie spürt man, dass in diesem selbständigen Staatswesen, das Appenzell Innerrhoden seit dem 08.09.1597 ist, die Freiheitsfackeln unentwegt brennen.
 
Hinter der katholischen Pfarrkirche St. Mauritius, etwas oberhalb der Sitter, von wo aus die grüne, gewellte Landschaft mit der baulichen Möblierung im Heimatstil einzusehen ist, war eine Hochzeitsgesellschaft versammelt. Sie liess soeben rote Ballone aufsteigen, dorthin, wohin der massive, quadratische, spätgotische Kirchturm zeigte. Was auf dem Ziffernblatt steht – „una ex illis/tua ultima“ („Eine dieser Stunden wird deine letzte sein“) – dürfte wohl in dieser frohen Stimmung jedermann überlesen haben, dominierte hier doch die jugendliche Zuversicht. Der globalisierungsbedingte Zerfall regionaler Besonderheiten, ja ganzer Staaten und Finanzsysteme, soziale Unruhen und Schlachten zwischen Jugendlichen und Polizei, Kriege um Öl und Macht – all das und die übrigen Kollateralschäden der Weltvereinheitlichung kommen in dieser abgeschotteten Welt mit der selbstbewussten Bevölkerung nur als Randnotiz der aktuellen Geschichte an.
 
Mit Alpenblumen bemalte Alphörner lagen auf einer Hecke, die Kanonenrohre der Friedfertigen, denen Töne und keine Kugeln entweichen. Diese Geröllhaldensaxofone, wie man sie spasseshalber auch nennt, brauchten nicht mehr lange auf ihren Einsatz zu warten. Die Braut, grösser als das Appenzeller Standardmass, mit dem langen, von Schläfen und vom Hinterkopf locker abfallenden, rehbraunen Haar und einer Strähne über der rechten Wange, trug ein langes Kleid in Weiss, eine Art Magiebridalkleid mit der Tendenz zur Noblesse; die Perlenkette mutete vergleichsweise bescheiden an. Die schöne, liebreizende Dame, das Brautbouquet in einer Hand, wirkte entspannt und glücklich.
 
Nicht weniger angetan hat es mir ein Dreiappenzellerkäsehoch: ein in der Originaltracht an einem Baumstamm sitzender, vielleicht dreijähriger Knabe, der sich von seinem Nuggi (Schnuller) gleich über der vergoldeten Silberbrosche noch nicht gelöst hat, die Miniaturausgabe eines festlich gekleideten Sennen. Der Bub trug eine scharlachrote Weste und die gelbe Hose, wie sie zur Festtagstracht für die Alpfahrt gehören. Und Hosenträger mit dem Messingbeschlag sind Selbstverständlichkeiten. Es schien, als sei der Minisenn einer Puppenstube entlaufen.
 
Ländler-Fest
Wir arbeiteten uns dann in die Innerstadt vor, wo man für 18 CHF pro Person alle Auftritte der Ländlerformationen besuchen konnte, auch jene in den umliegenden Restaurants. Auf dem Kanzleiplatz war gerade die einheimische Appenzellerformation (AF) „Edelstee“ voll in Fahrt – mit der jodelnden Erika Fässler, ein Naturwesen voller Charme,  am Akkordeon, Hans Keller als Akkordarbeiter am Hackbrett und Daniel Dobler am Klavier, bei den Elektrizität eine gewisse Rolle spielte. Mit ihren lüpfigen „Buuchriibeli“, wie sie die herzerfrischenden Volksmusikstücke nennen, fanden sie den verdienten Applaus. Da war keine Show dabei; die 3 jungen Musikanten sassen ruhig hinter ihren Instrumenten, aus denen Melodien voller Schwung und Schmiss erklangen; ekstatische Gymnastikübungen brauchten sie nicht. Ihre Musik stand im Zentrum, und die wirkte.
 
Auf dem Postplatz war die Ländlerkapelle „Chaltbächlergruess“ in Aktion, leistete filigrane Schwerarbeit, und diese beschwingten, frohmütigen Töne klangen in unseren Ohren noch lange nach.
 
Via Rheintal nach Rorschach
Das war Appenzell, wie es lebt, leibt und musiziert. Über den Stoss, wo am 17.06.1405 die zahlenmässig unterlegenen Appenzeller den hochgerüsteten Habsburgern den Meister gezeigt (um nicht zu sagen: den Grind eingeschlagen) haben, tauchten wir ins St. Galler Rheintal hinab, wie es auch die Appenzellerbahn bei gutem Wetter mit einem offenen Aussichtswagen zwischen Gais AR und Altstätten SG tat, und wir fuhren, an Wild Heerbrugg (heute:Leica) vorbei, so etwas wie eine Gedenkstätte für meinen Bruder Rolf. In jungen Jahren hatte er Mess-Präzisionsgeräte dieses Unternehmens von Hongkong aus in Asien verkauft.
 
Bei der Sonnenkönigin in Rorschach
In Rorschach machten wir einen Halt. Abgesehen von einigen wunderschönen Erkern im Ortszentrum machte Rorschach, besonders im Hafen-/Uferbereich des Bodensees, einen wenig attraktiven Eindruck. Etwas gestalterische Politur mit mehr Naturbezug und weniger Asphaltufern könnten hier nicht schaden. Umso festlicher trat das vertäute Luxusschiff Sonnenkönigin aus Bregenz AU in Erscheinung, in das etwa 13 Millionen Euro (heute = CHF) investiert wurden. Es zirkuliert seit September 2008 auf dem See, scheint aber, auch kostenmässig, eine Schuhnummer zu gross zu sein. Eine nautische Attraktion ist das alleweil, aber ein kostendeckender Betrieb ist bisher nicht gelungen; die Auslastung ist zu gering.
 
Das Schiff sieht gut aus: Die geschwungene, verspiegelte Glasfläche des Ball- und Kongresssaals auf 3 Decks hat sich kühn über alle Traditionen des Schiffbaus hinweggesetzt: Die Silhouette ist ausnahmsweise nach vorne orientiert. Eine festliche Gesellschaft, die Damen und die Herren meist in Weiss, trank beim Schiffssteg ihre Apéros, und ein extrem langgestrecktes Taxi mit SG-Nummer stand bereit, wie es sich für den Premium-Eventbereich gehört, um es zeitgemäss auszudrücken. Die überlange Luxus-Limousine überholte uns auf der Heimfahrt nahe von der Stadt St. Gallen.
 
Bad Horn
Wir suchten eine gute Fischbeiz und fanden sie endlich im Hotel Bad Horn (Bezirk Arbon am Ostende des Kantons Thurgau am Bodensee (www.badhorn.ch), wo jeweils die Gespräche von Mathias Ackeret mit Christoph Blocher aufgezeichnet werden und viele SVP-Veranstaltungen stattfinden.
 
Das Bad Horn ist ein gepflegtes 4-Sterne-Haus. Wir sassen zuerst im Gartenrestaurant am See unter einen ausladenden Sonnen- bzw. Regenschirm und genehmigten eine Tomaten- oder eine Litschisuppe. Ein Barpianist improvisierte verträumte Melodien. Die Seenlandschaft wurde am frühen Abend immer grauer, Winde und Regen setzten ein, und wir wurden ins Haus beordert, obschon mir solche Naturschauspiele gefallen. Der Musikant zog sein Instrument auf Rollen in die Eingangshalle.
 
Im Restaurant drinnen bestand keine Gefahr, dass uns die mit Sorgfalt zubereiteten Saibling- und Zandergerichte vom Teller geblasen und der Yvorne-Wein aus dem Waadtland verdünnt würden. Draussen waren die Sonnenschirme zu tropfenden Stoffbündeln verkommen.
 
Zurück
Gestärkt fuhren wir nach Herrliberg ZH, hoch über den Zürichsee erhaben. Nicht weil der SVP-Chefstratege Blocher an jener Goldküste wohnt, sondern weil dort auch Rolf und Alice während ihres Schweizer Aufenthalts ihre Unterkunft haben, in Sichtweite und nahe von Blochers. Und so wissen wir jetzt wenigstens, wie weit der unermüdliche Kämpfer für eine unabhängige Schweiz zwischen seinem Heim und Bad Horn jeweils reisen muss. Dies war allerdings nicht das Hauptergebnis dieses vielseitigen Exkursionstags zu Schweizer Spezialitäten, wie ich sie meinen aus dem fernen Asien angereisten, mit unserem schönen Land verbundenen Gästen vorführen wollte. Die Ostschweiz bietet ausserdem eine Überfülle davon.
 
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