BLOG vom: 24.08.2011
Sepp Rausser 85: Es ist wie's ist, und es kommt wie's muss
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Es kam, wie es kommen musste, und es wird kommen, wie es muss, aber man weiss nicht, wie es gekommen wäre, wenn es nicht so gekommen wäre, wie es gekommen ist. Mit anderen Worten: Man weiss, wie es gewesen ist, weiss aber nicht, wie es gewesen wäre, wenn es anders gekommen wäre.
In der Berner Mundart würde das alles viel heimeliger, anmächeliger tönen, wie an diesem Beispiel aus dem politischen Alltag erläutert werden kann: „Mi wääut die einten u merkt de gly mau, dass me gschyder di angere gwääut hätt“ (Man wählt die Einen und merkt bald einmal, dass man gescheiter die Anderen gewählt hätte). Und der sprachgewandte Heinz Däpp (www.heinzdäpp.ch), Publizist, Schriftsteller und Geschichtenerzähler aus der Berner Altstadt, fügte an der Geburtstagsfeier „85 Jahre Fernand (Sepp) Rausser“ vom 20.08.2011 noch bei, man solle froh sein, dass es noch Leute wie den Sepp gebe, denn im Allgemeinen würden die Leute immer dümmer und seien bald einmal so dumm wie gewisse Politiker, die meinen, der Komponist Orlando di Lasso sei ein Cowboy in einem Spaghetti-Western, der Adalbert Stifter ein Stift im 2. Lehrjahr und der Komponist Frank Martin der kleinere Bruder vom Rémy Martin – und es sind da solche, die denken, Vasella sei ein Brotaufstrich und Nutella der Boss von Novartis und ein Minarett ein Kanonenrohr. Und unter diesem Volk gebe es junge Alte und alte Junge, aber auch alte Alte und junge Junge.
Viele, vor allem spätmittelalterliche Alte wie unsereiner, aber auch junge Junge hatten sich in der Mahogany Hall nahe an der Aare in Bern (Klösterlistutz 18) eingefunden, also im Lokal des seit 1968 bestehenden gleichnamigen Jazzclubs (Verein Mahogany Hall Bern). Ursula Rausser und Sepp hatten eingeladen, und alle ihre Freunde kamen, die sich im Verlaufe der Jahrzehnte zusammengeläppert hatten, auch die älteren Herren von der Old Man River Jazzband aus Burgdorf (www.oldmanriver.ch). Sie gehören in diesen Kreis.
Mich bei über 30 °C mit Holderblütensirup erfrischend, sass ich am gleichen Tisch mit Elizabeth Neuenschwander, deren Wirken in Pakistan und Afghanistan vom ehemaligen Radiomann Roland Jeanneret vorgestellt wurde. Nicht einmal einen Namen habe Frau Neuenschwanders Hilfswerk, aber wirksam sei es ... auch wenn dessen Umsatzzahl mehrere Nullen weniger als die „Glückskette“ hat – für diese diente Jeanneret während Jahren als Sprachrohr (und nicht als Kanonenrohr). Die betagte, bescheidene Helferin Neuenschwander, die im 11. Stock eines Hochhauses in Bern wohnt und in 2 Wochen wieder in die Kriegsgebiete am Hindukusch verreist, lehrt dort Ausbildnerinnen das Nähen, Lesen und Schreiben. Sie verteilte bisher rund 7000 Handnähmaschinen an die Lernwilligen, um den Frauen eine bessere Existenz und mehr Bedeutung zu geben. Die Emmentalerin mit ihrem kleinen und umso effizienteren Hilfswerk sei beharrlich, hartnäckig und bleibe dran, sagte Jeanneret noch. Es gehe ihr um die Sache, nicht um ihre Person. Und sie liefere ein Exempel, wie aus Wenig Viel herausgeholt werden kann.
Für sie wurde Geld gesammelt, ebenso für den brasilianischen Befreiungstheologen Leonardo Boff, der „zum Laien befördert“ worden war, weil der die Machtansprüche des vatikanischen Katholizismus beim Namen genannt hatte und kritisierte, dass die Kirche die Armen vergesse. Da Boff wegen gesundheitlicher Probleme in Bern nicht anwesend sein konnte, wurde er von Angelika Boesch vorgestellt. Sie wirkte auch an einen Buch („Leonardo Boff – Anwalt der Armen“) mit, das 2008 im Wegwarte-Verlag von Fernand „Sepp“ und Ursula Rausser, CH-3065 Bolligen, erschienen ist.
Damit ist auch etwas über den feinfühligen Fotografen Sepp gesagt, der die Leute mit seinen Bildern das Hinschauen lehrt, der mit der Kamera gegen das Unrecht auf der Welt ankämpft, noch im Alter 77 zum Jungverleger wurde und am 24.08.2011 genau 85 Jahre alt wird. Sepp ist ein national bekannter Fotograf, der selber überall mithalf, wo etwas zu helfen war, und auch als Verleger auf den Weltenirrlauf Einfluss nimmt, durch die Auswahl der Themen und Autoren. Heinz Däpp beschrieb ihn in der schollen- und volksverbundenen Bernersprache treffend so: „Der Sepp isch es ganz es bsungers Pflänzli. Gradlinig wi ne Chünigscherze, fynfüehlig wi nes Haagröseli, warmhärzig wi ne Wägwarte, tröihärzig wi nes Strüssli Vergissmeinnicht, bodeständig wi ne Söiblueme im ene früsch bschütteten Acker, tiefgründig wi nes Nachtschattegwächs, u bi au däm glychwoou bescheide wi nes Brombeerigschtrüpp im ene verwiuderete Pflanzblätz.“ Eine adäquate Übersetzung ist nicht hinzukriegen, würde den schönen Klang und den Duft des Landlebendigen beeinträchtigen.
Rausser hatte einen ähnlichen Lebenslauf wie der an der Feier in Bern anwesende Friedrich Engesser – beide waren z. B. im 2. Weltkrieg die ersten Schweizer Armeefotografen und teilten sich im privaten Berufs- und Erwerbsleben die Schweiz in einen Osten (Engesser) und einen Westen (Rausser) auf, wobei die Demarkationslinie durch Rothrist AG verlief, die aber nie eingehalten wurde. Die Lebensläufe waren so facettenreich, dass man sie nur in Buchform einigermassen umfassend darstellen könnte.
Mir gegenüber sassen der IP-Suisse-Geschäftsführer Fritz Rothen und seine Frau Maria, angenehme und anregende Gesprächspartner, wobei wir uns unter anderem über den Emmer- und Hartweizenanbau im grösseren Stil in der Schweiz unterhielten. Hartweizen findet etwa im Kanton Schaffhausen günstige Bedingungen. Bisher hiess es immer, die Schweiz eigne sich für die Hartweizenproduktion nicht. Wir lernen auch das noch, mit klimatischer Hilfe.
Neben mir sass der Luzerner Kapuziner Walter Ludin, der im Wegwarte-Verlag zusammen mit Anke Maggauer-Kirsche 3 Geschenkbändchen veröffentlicht hat („Pfeilspitzen“, „Sticheleien“, „Bagatellen“) und einen toleranten Katholizismus sieht. Und dann waren da auch der tschechische Professor und Kunsthistoriker Jaromír Adamec, der während des „Prager Frühlings“, der in der russischen Kälte erstarrte, während einiger Wochen bei Sepp Rausser eine Unterkunft gefunden hatte. Von ihm nahm ich die Aussage mit, dass die Schweiz den Totalitarismus nicht aus eigener Erfahrung kenne und deshalb leichtfertig mit Freiheit und Unabhängigkeit umgehe – eine weise Feststellung.
Inzwischen spielte die jung gebliebene Old Man River Jazzband (Hansruedi Jordi, Jürg Kauer, Hans Kaufmann, Hans Ammeter, Hans G. Steiner, Werner Eichenberger, Marc Eigenheer) Evergreens aus dem Dixieland, Swings, Blues, Boogie Woogies. Die Schweisstücher, die rege benutzt wurden, hatten so viel Format wie die Musikanten, bei ähnlichem Feuchtigkeitswert. Und wenn Christine Lauterburg zu einem Jodelgesang anhub und sich selber auf der Geige begleitete, stimmte auch die Jazzband ein, als ob gemeinsame Auftritte an der Tagesordnung seien. Natürlich kennt man einander.
Ebenso wie die Rhetorik und die Tön habe ich die originelle Verpflegung in mich aufgesogen; die Brote und Züpfen von Patrick Joray hatten es mir schon beim Anblick angetan. Und dazu noch diese herrlichen Suppen von „Mama Zuppa“ (www.mamazuppa.ch): eine honduranische Suppe, eine Kartoffelsuppe (am Besten zu Nussbrot) und eine kalte, kühlende Gazpacho. Zudem standen u. a. kühle, samtweiche Egger-Biere aus Worb BE („Maximus“) bereit. Wenn diese Kühlungsbemühungen nicht halfen, konnte mit Softeis oder einen Sprung von der nahen, etwa 8 Meter hohen Untertorbrücke im Mattequartier in die Aare nachgeholfen werden, wozu wir Älteren aber nicht mehr jung genug waren. Berner Knaben machten vor, wie das gehen würde, wäre man noch so jung wie sie, was wir ja auch einmal waren, und die Jahre plätscherten dahin.
Sepp Rausser ist nicht nur ein Suppenliebhaber, sondern auch ein grossartiger Suppenkoch. Laut Heinz Däpp ist Sepps legendäre Ochsenschwanzsuppe mit 3 Michelin-Sternen dekoriert. Solche dekorative Elemente in grosser Zahl verdiente der gelungene Sommerabend auch in den übrigen Belangen. Der Berner Dialekt herrschte vor, auch die geistreich beschauliche Art der Berner kam zum Durchbruch: das Leben zu nehmen, wie es ist, und dies im Wissen, dass es kommt, wie es kommen muss.
Eines ist sicher: „’S isch eifach nümm wi aube“ (es ist nicht mehr wie früher). Aber – und das sollte nicht vergessen werden: „S’isch' o nid gäng gsi, wi's hätt söue“ (es war nicht immer so, wie es hätte sein sollen) – so Däpp. Man ist geneigt, ihm Recht zu geben. Wie auch, als er bekannt gab, 85 sei zwar nicht mehr 50, aber immer noch besser als 95.
Der Wegwarte-Verlag im Internet
Kommende Auftritte von Heinz Däpp
Vorstellungen zum Schweizer Wahlherbst 2011:
09.10., 17.00 Uhr – 10.10. und 17.10.2011, jeweils um 1930 Uhr im Lokal
„La Capella“, Allmendstrasse 24, Ch-3014 Bern.
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