Textatelier
BLOG vom: 28.09.2011

Guarda Val im Weiler Sporz GR: Edelfrass im Maiensässhotel

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Gerade bei einem festlichen Mahl in grösseren Gesellschaften erlebt man immer wieder die Auswirkungen einer einengenden Futterprägung, die viele Menschen ein Leben lang nicht abschütteln bzw. erweitern können. Schon der Fötus wird im Mutterleib mit verschiedenen Geschmäckern konfrontiert, und dann werden auch Geschmacks- und Duftstoffe über die Muttermilch auf den Säugling weitergegeben. Das spätere Essen bei Tische vermittelt weitere starke, bleibende Eindrücke. Wie das nach dem Dauerverzehr von künstlich aromatisch manipulierter Industriekost herauskommen wird, kann man sich kaum ausmalen: irritierter Geschmackssinn, Fehlleitung in Richtung synthetischer Aromen mit der Endstation Allergie.
 
Ursprünglich, das heisst vor der industriellen Gleichschaltung der Futtersuche, war die Nahrung auf das Lebensumfeld abgestimmt. Man ass, was dort wuchs, und je nach den klimatischen Bedingungen, welche die Anbaumethoden entscheidend beeinflussen, war das Essen leicht (in südlichen Regionen) oder üppig, fett und schwer (in kälteren Zonen). Die Kost passt sich überall den Lebensumständen und der Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln an. Das ist selbst im Zeitalter der mobilitätsfördernden Shoppingcenters noch immer so. Selbst in alpinen Regionen ist das Leben inzwischen weit weniger kräftezehrend geworden, und die Küche kann sich anpassen, auch wenn das ein Prozess über Generationen ist.
 
Unter Walsern im Guarda Val
Mir sind solche Zusammenhänge einmal mehr bewusst geworden, als ich an einer familiären Feierstunde am 21.09.2011 im Maiensässhotel Guarda Val im Weiler Sporz in der Nähe der Lenzerheide GR (www.guardaval.ch) tafelte. Rund die Hälfte der Gäste setzten sich, hier oben, auf etwa 1600 Höhenmetern, aus bestandenen Walsern zusammen, ein währschaftes, fleissiges, hartes Bergvolk mit einem gewissen Hang zu Mythen, das als Alemannen ins Wallis kam und von dort aus in Einzelschüben die Alpen durchsiedelte. Die genaue Motivation zu diesem Verhalten habe ich noch nicht ermitteln können.
 
Das Volk der Walser fand in mageren alpinen bis hochalpinen Gebieten sein bescheidenes Auskommen, rang dem Boden das Wenige ab, was ihm abzuringen war und betrieb Vorsorge im Hinblick auf den langen, kalten und schneereichen Winter. Äxte und Sensen waren neben Geräten zur Steinbearbeitung und Kochutensilien die wichtigsten Werkzeuge. Noch heute erhalten wir vonseiten der Familie meiner Frau Eva, geborene Pfosi, mütterlicherseits: Allemann (richtige Walser-Namen) immer wieder Eingemachtes, Zubereitetes aus eigener Produktion oder Früchte mühevoller Sammeltätigkeit: wohlschmeckende Konfitüren, konzentrierte Säfte aus Beeren, ganze Kesseli voll handgelesener Preisel- und Heidelbeeren, gedörrte Apfelschnitze, Dauergebäck wie Nusstorten und selbst getrocknetes Fleisch usf. Das alles hat höchste gastronomische Qualitäten. Unübertrefflich.
 
Innerhalb dieser Familie wählten wir für die erwähnte Feier eines runden Geburtstags das rustikale Hotel Guarda Val „auf der Heid’“ (Lenzerheide) aus, wie man sagt, am Rande des herkömmlichen Lebensraums der Pfosi-Familie und anverwandter Walser gelegen. Das Hotel umfasst neben den zentralen Bauten in umgewandelten Bauernhäusern und Ställen 50 Zimmer unter Verwendung von viel altem Eschen-, Lärchen- und Tannenholz, vor allem im Walser-Baustil in der Strickbau-Art (sich überkreuzende und vorstehende Balken in den Ecken), einfache Giebeldachhäuser mit geringer Dachneigung. Sie sind zum Teil gemauert und bestehen zum anderen Teil aus zugeschnittenen schweren, verwitterten Balken; für die Ställe und Heulager wurden Rundbalken verwendet, die weniger dicht sind und gleich für die Durchlüftung sorgen. Man arbeitete mit dem, was es an Ort und Stelle eben gab. Die Bauwerke sind für bäuerlich-nüchterne Menschen, die sich auf das Wesentliche konzentrieren, gebaut. Diese Halb- bis Viertelnomaden kletterten im Frühjahr mit ihrem Vieh in höhere Lagen, hatten dort ein einfaches Haus und einen Stall, ein Maiensäss eben, und fuhren vor dem Einwintern mit ihren Tieren wieder von der Alp ab, in die Geborgenheit der Talschaften.
 
Das Maiensässhotel Guarda Val ist noch eine Erinnerung daran und hat möglichst viele Rustikal-Attribute behalten, ist aber inwendig doch mit allem modernen Komfort ausgestattet. Es wird von Christine Abel und Matthias Wettstein geführt. Sogar mein iPad konnte ich im Gebäude „Tgiesa Fux“ über den internen Internetanschluss in Betrieb setzen und zu nachmitternächtlicher Stunde noch erfahren, was sich draussen in der hektischen Welt beim Tiefflug der Börsen alles tat.
 
Ankunft und Apéro
Wir kamen in der Mitte des Nachmittags an und konnten uns gleich zu Kaffee, Tee und herrlichem Kuchen wie einer Kirschenwähe setzen, ein verheissungsvoller Auftakt. Dass auf einer Sitzbank am Hoteleingang ein Körbchen mit Lesematerial bereitstand, berührte mich sympathisch, ebenso wie die ordentliche Bibliothek im Hause, in der auch die neuesten Presseerzeugnisse aufliegen.
 
Der Apéro fand am frühen Abend auf der Terrasse vor dem Hotel statt. Werner Allemann aus Malix GR, mein bewährter Reiseleiter bei Exkursionen in die Innereien des Bündnerlands, klärte meine Schwiegersöhne Franz und Urs und mich über die umgebenden Gebirgsmassive auf. Sie hatten in den vorangegangenen Tagen gerade eine weisse Kappe verpasst erhalten – im Hinblick auf den herannahenden Winter. Die Bilder – unten in Grün, oben in Weiss – waren entzückend, eine Gegenüberstellung von Sommer und Winter. Vom Parpaner Weisshorn mit dem vorgelagerten Urden Fürggli zum Aroser Rothorn, zum Piz Naira und zum Lenzerhorn und zum Piz Linard und Piz Michel war alles zu haben. Und etwas verdeckt sei noch Savognin; Werner zeigte ziemlich genau nach Süden.
 
Nach all den Gipfeln wandten wir uns den viel näher liegenden, kalt servierten Schinken- und Käsegipfeli (der Diminutiv ist verdient) zu. In ihrem Innern hatten sie eine nur angedeutete Füllung; auch den kleinen Crostini mit Tomaten und Oliven, unspektakulär, ohne jede Dekoration, und den Auberginen-Tapas galt jetzt unser Hauptinteresse. Wahrscheinlich war der Grossteil der stattlichen Kosten (um 4 CHF pro Stück) für die Miniaturisierung der sogenannten Gourmet-Häppchen draufgegangen.
 
Von rustikaler Herbe, wie ich sie mag, war der Malanser Freisamer (Kreuzung von Sylvaner und Grauburgunder) von Cotinelli gezeichnet, ein kompletter und komplexer, angenehm herber und goldener Wein (55 CHF /7-dl-Flasche). Dominique Nistico war ein angenehmer Kellner.
 
Im Weinkeller wurde gerade eine Degustation für Gäste durchgeführt, auf die wir schon bei der Ankunft hingewiesen wurden, die der gastronomisch interessierte Franz nicht verpassen wollte. Es sei eine Trocken-Degustation mit interessanten Informationen gewesen, erzählte er nach einem Augenschein (er war länger dort, ohne einen Tropfen angeboten zu bekommen). Nichts gegen trockene Weine ... aber einiges gegen trockene Degustationen!
 
Das Festmenu
Als sich die Sonne verabschiedete, war der Zeitpunkt zum Bezug des Gourmet-Restaurants gekommen, das vom Duft von Rosenschönheiten aus dem Garten von Lily Fetz-Pfosi in Ems GR erfüllt war.
 
Die Erdenschwere der Nahrung, die es auf diese Höhenlage einst gab, war verflogen. Der einleitende „Gruss aus der Küche“ zur Appetitanregung war opulent: Ein Arrangement aus Kartoffelsuppe mit Kartoffelwürfeli, im Eiweiss(zitronen)schaum versenkte Melonenkugeln mit einem Stückchen Entenfleisch und ein Fleischpralinée im Sesammantel. Den Chefkoch Karl-Heinz Schuhmair lernten wir leider nicht kennen; vielleicht hatte er frei.
 
Die nachfolgende Gartenkräutersuppe mit einem Randenraviolo wurde originell serviert: in einem Einmachglas mit Bügelverschluss in einem Nest aus weissen Servietten.
 
Der Hauptgang war eine Ehrerbietung an ein entbeintes Rinderkotelette (Hochrippenstück), am Stück angebraten und dann niedertemperaturig auf die richtige Hitze gebracht. Die Stücke mit der schönen Kruste wurden uns in der Kasserole gezeigt. Eine Rotweinsauce und eine Art Sauce Béarnaise mit Estragon wurden direkt auf dem Teller mitserviert; Rotweinsauce wurde noch nachgeschöpft.
 
Der Estragon, den Anita bei der Menu-Auswahl und -Besprechung ausschliessen wollte, weil dieses süsslich-aromatische, an Wermut erinnernde Gewürz nicht lauter Liebhaber findet, liess sich nicht vermeiden; die Menumanagerin hatte sich bei der Vorbereitung von einer eher unflexiblen, wenig kundenfreundlichen Seite gezeigt. Der Estragon fand sich auch in der marinierten Kruste des im Ofen gebratenen Fleischs, das nach meinem Empfinden zum richtigen Zeitpunkt aus der Röhre genommen und à point“ (medium, rosa) serviert wurde. Einige wenige Gäste hätten es lieber „bien cuit“ (durchgebraten) gehabt, was für die Hochrippenstücke von bester Qualität doch etwas gewagt gewesen wäre, da man dann bald einmal in den Sektor der Lederfabrikation kommt. Aber eine Küche müsste in der Lage sein, auf solche Wünsche einzugehen. Das Gemüse war zart und wohlschmeckend, das Kartoffel-Steinpilz-Gratin eher auf der rohen Seite, was die hauchdünnen Kartoffelscheiben anbelangt, die Auswirkung einer ungeeigneten Kartoffelsorte.
 
Ein Lichtblick war der dunkelrote, überreiche Rotwein „Il Bruciato“ von Bolgheri (Tenuta Guado al Tasso, 2008) in Magnum-Qualität (136 CHF), einem Haus, das mir schon bei der letzten Toskana-Reise positiv aufgefallen war. Damit räumlich eng verbunden ist die „Viale dei Cipressi“, die berühmte Zypressenallee. Der blumig-erdige, ausgesprochen körperreiche Wein setzt sich aus Cabernet-Sauvignon-, Merlot- und Syrah-Trauben zusammen, und er ist zu rotem Fleisch wie geschaffen.
 
Unverzeihlich war, dass die 2 Vegetarierinnen, die sich abmachungsgemäss vor Ort entscheiden würden, keine Speisekarte erhielten und einfach mit dem üblichen Menu minus Fleisch und Sauce abgespeist wurden – und zwar mit Mini-Portionen. Nachserviert wurde nicht. Bei einem 3-Gang-Menupreis von 105 CHF pro Person (Ruccola-lastige Herbstsalate wurden mit je 14 CHF separat berechnet) hätte ich erwartet, dass auch Vegetarier zu einem kompletten Menu im Sinne eines vollwertigen Fleischersatzes kommen würden.
 
So reflektierten sich die 16 Gault-Millau-Punkte ganz unbescheiden und damit unwalserisch vor allem in den Preisen. Man zahlt gern einen guten Preis, wenn er mit dem Angebot übereinstimmt. Anderseits kann man sich angesichts der CH-Franken-Stärke freuen, dass in der Schweizer Gastronomie offensichtlich noch etwas Preisreduktionspotenzial drinliegt ...
 
Das Dessert nach Wahl zeigte sich von der besseren Seite; in meinem Falle handelte es sich um eine frische Beerensülze im Baumkuchenmantel auf Marsalasabayone; mit Süssstoffen wurde grosszügig umgegangen. Dazu wurden noch hausgemachte Friandises (Truffées-Pralinen mit Minze parfümiert, Schokomousse auf Mürbeteigbödeli, garniert mit einer Himbeere und Sablés) gereicht. Als wir abschliessend noch die Bar aufsuchten, erschrak der Barkeeper über unser Auftauchen; er hätte lieber Feierabend gehabt.
 
Morgenröte
Wir schliefen neben einem Bächlein gut; die letzten Häufchen des ersten Schnees schmolzen an einem neuen Herbsttag ruhig dahin. An diesem Morgen des 22.09.2011 fanden wir uns zu einem Frühstück im Guarda-Val-Restaurant ein, das keine Wünsche offen liess. Sogar die Rösti und Weisswürstchen waren sehr gut. Aus Gemüse (Rüebli, Fenchel u. a.) und Orangen konnte frischer Saft gepresst werden. So behalten die Früchte landwirtschaftlichen Tuns ihren vollen Wert; Vitamine und Enzyme bleiben im Rahmen der idealen Umgebung intakt.
 
„Die können es schon, wenn sie wollen“, sagte jemand an unserem Tisch. Und alle pflichteten bei. Punktgenau war das Hotelpersonal einer Feststellung des bayerischen Originals Karl Valentin gefolgt: „Wollen hätten wir schon können, aber sollen haben wir nicht gewusst.“ 
 
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