BLOG vom: 07.10.2011
Der gebrechliche Brestenberg könnte eine Heilkur ertragen
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
„Brestenberg“ heisst „gebrochener Berg“. Der Name ist nahe beim Begriff Gebresten (Gebrechen = einen Mangel haben). Wenn es stimmen sollte, dass ein Name den Träger beeinflusst, dann trifft dies auf das Schloss Brestenberg zumindest in seiner jüngeren Geschichte zu. Es liegt auf einer kleinen Anhöhe, etwa 200 Meter vom unteren Hallwilersee-Zopf entfernt, und präsentiert sich wie ein opulentes Bürgerhaus aus dem 17. Jahrhundert. Dem Dorf Seengen, das dem Dorfbild überraschend wenig Aufmerksamkeit zuteil werden liess und nicht Wakkerpreis-verdächtig ist, gereicht es, aus Distanz betrachtet, zur Zierde. Ein Relikt aus einer beschaulichen Vergangenheit.
Als ich am späteren Nachmittag des 01.10.2011 einen Spaziergang vom Schloss Hallwyl auf dem Wanderweg durchs Seenger Moos in Richtung Meisterschwanden unternahm, war es nach dem Verschwinden des Nebels von der Herbstsonne angestrahlt und auch wegen der exponierter Hanglage nicht zu übersehen. Eine Schweizer und eine Aargauer Fahne schmückten die dem See zugewandte Westfassade. Der Rechteckbau mit einem Satteldach, das von Gerschilden (dreieckigen Querschilden) seitlich abgeschlossen wird, vereinigt Stilelemente aus der Gotik und dem Barock. Die Hofseite ist von einem Treppenturm („Schneggen“) geprägt. Als Erbauer des Schlosses gilt ein geschäftstüchtiger, wohlhabender Geistlicher, der Prädikant und Dekan Samuel Gruner aus Seengen.
Über dem Eingangsbogen auf der Gartenseite ist das Bezugsdatum des Neubaus („1625“) durch den neuen Besitzer Hans Rudolf von Hallwyl und seine Gattin Anna Maria von Ulm angebracht. Die Anlage wechselte häufig den Inhaber und wurde immer wieder umgestaltet, auch um sie neuen Verwendungszwecken nutzbar zu machen. So kaufte Dr. med. Adolf Erismann am 01.04.1844 die Anlage und wandelte den Patriziersitz in eine Wasserheilanstalt um. Die Kuren sollen eigentliche Torturen gewesen sein, auf ein noch wenig verweichlichtes Publikum ausgerichtet. Kalte Wickel, Abwaschungen, Abklatschungen, brutale Wasserduschen am Hallwilersee unten (das Wasser stürzte von 4 m Höhe auf die Leidenden), Wassertrinken fast bis zum Bersten und Hungern sollten dem Körper Gesundheit und Lebensfrische zurückbringen. Ein Eichenholzbottich enthielt auf 8 °C gekühltes Wasser, in das die Kurgäste hineinspringen mussten.
Die Kurgäste strömten dennoch in Scharen herbei. Später wurde aus der Wasserheilanstalt eine Kuranstalt für physikalische Therapie, verbunden mit Psycho- und Arbeitstherapie. Nach 1921, als die Anstalt an Rudolf Häusermann übergegangen war, wurden auch Moorbäder angeboten; der Torf wurde im Seenger Moos geholt, also ganz in der Nähe. Nach 1946 nannte sich die Anlage Bad- und Kurhaus Schloss Brestenberg. Dieser Betrieb wurde 1954 eingestellt und aus dem „Brestenberg“ entstand ein Hotel. Dieses wurde im Herbst 1977 durch das Bezirksgericht Lenzburg wegen baulicher Mängel und eines Konkursverfahrens geschlossen.
Anläufe für Renovationen versandeten, weil die Finanzen fehlten. 1985 kaufte der heute betagte Winterthurer Immobilienhändler Bruno Stefanini den Brestenberg, weil er ein Domizil für seine „Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte“ suchte. Die Gemeinde Seengen und die Aargauer Denkmalpflege begrüssten das Projekt; doch ideelle Schutzverbände beschritten den Rechtsweg gegen den ausufernden Um- und Ausbau, weil sich Stefanini angeblich nicht an den ausgehandelten Kompromissvorschlag hielt. Sie bremsten den Elan des Eigentümers, und im Frühjahr 1993 wurde der Rohbau der Museumshallen mit einem Baustopp belegt. Der Brestenberg in der Nähe der teilweise geschützten Hallwilersee-Moorlandschaft wurde als denkbar ungünstiger Museumsstandort erkannt. Die erweiterte Anlage hätte sich mit den vorgesehenen Freizeiteinrichtungen bis ans Seegelände erstreckt.
Dafür hat das kleine Pfahlbauerhaus neben dem Seerundweg gerade ein neues, dickes Schilfdach erhalten.
In kurzer Distanz, etwas weiter oben, gammelt der „Brestenberg“ vor sich hin. Seine schön geformte Dachlandschaft ist noch einigermassen intakt, aber aus der Nähe sieht man zum Beispiel ein zertrümmertes Fensterglas. Man erkennt, dass es bei ungenutzten Anlagen halt eben zu Standschäden kommt. So wartet man denn laut den Berichten in den Lokalmedien sehnlich auf einen Märchenprinzen, der das Herz und das Portemonnaie am rechten Fleck hat, der die Gebresten des Brestenbergs heilt und dieser Anlage an sonniger Lage neben einem Rebhang neues Leben einhaucht.
Man darf allerdings nicht vergessen, dass es auch Schauermärchen gibt, die gern in der Nähe von Mooren und Sümpfen spielen – und wohl auch in gebrochenen Bergen.
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