BLOG vom: 24.10.2011
Schweizer Wahlen 2011: Am Kuchen essen mehr Esser mit
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
„In der heutigen Zeitung ,Der Sonntag’ (23.10.2011) wurde die Vorschau auf die Schweizer National- und Ständeratswahlen unter dem Titel „Die Einigkeit steht auf dem Spiel“ publiziert (Untertitel: ,Nach den heutigen Parlamentswahlen droht der Schweiz ein Umbruch im politischen System’). Stimmen diese Äusserungen?“ Dies schrieb mir Heinz Scholz aus Schopfheim D am frühen Sonntagmorgen. Spontan antwortete ich dem interessierten Mitblogger aus Süddeutschland, der sich für das Geschehen im Nachbarland interessiert: „Ich glaube nicht, dass es zu grossen Veränderungen, wohl aber zu einigen Verschiebungen im Bereich weniger Prozente kommen wird. Das CH-System und die Wählerschaft bewegen sich nur langsam, garantieren Kontinuität und Stabilität, was dem Land ja auch zu Ansehen verholfen hat. Wenn alle 4 Jahre das Gegenteil vom Gegenteil gelten würde, blieben die besten Kräfte und die Sicherheit auf der Strecke. Ein austariertes System wie das schweizerische hat schon seine enormen Vorteile. Kein anderes Land kann da mithalten.“
Die inzwischen vorliegenden Wahlresultate und Hochrechnungen haben meine Prognose bestätigt, ohne dass ich mich damit brüsten will. Sie beruhte auf Erfahrungswerten, auf Selbstverständlichkeiten. Zu kleineren oder mittleren Verschiebungen musste es kommen, weil vom gleich grossen Kuchen mehrere Liebhaber ein Stück wollen, so dass, wie jede Familienmutter weiss, die zu verteilenden Stücke notgedrungen kleiner werden. Dabei erhält die grössten Stücke, wer im Moment am beliebtesten ist – und umgekehrt. Das ändert ständig.
Schon die kurz nach den Urnenschliessungen am Sonntag, mittags um 12 Uhr, vorliegenden Hochrechnungen bestätigten die Voraussagen. Sie liessen erkennen, dass der rechte politische Eckpfeiler SVP (Schweizerische Volkspartei), der sich fast 29 Prozent des Kuchens zugeschanzt hatte, sich mit 2,4 % weniger Wähleranteil zufriedengeben muss, ohne allerdings seine dominante Stellung aufzugeben. Der SVP-Aufschwung, an den man sich schon gewöhnt hatte, konnte nicht fortgesetzt werden, im Gegenteil, es ging etwas nach unten. Der bisher erfolgreiche und verdienstvolle Einsatz der SVP gegen einen Schweizer EU-Beitritt scheint bei den Zerfallserscheinungen der aus Brüssel gelenkten Fehlkonstruktion weniger als auch schon nötig zu sein. Auch der angestrebte Ausbau der Vertretung im Ständerat (Kleine Kammer, Kantonsvertretungen) gelang der Partei nicht. Immerhin wurde der grosse SVP-Stratege Christoph Blocher wieder in den Nationalrat gewählt. Er kandidierte im Kanton Zürich auch für den Ständerat, muss sich aber dem 2. Wahlgang stellen (dann würde sein Nationalratsmandat hinfällig). In Bezug auf die Ständeratswahlen bleibt vieles offen, weil dort das Absolute Mehr gilt – bis zum 2. Wahlgang. Deshalb sind zum jetzigen Zeitpunkt auch noch keine abschliessenden Beurteilungen möglich. Die SP (Sozialdemokratische Partei der Schweiz) konnte ihre Bastion halten, was unter den gegebenen Umständen als Erfolg zu werten ist.
Die bedeutendsten Veränderungen konzentrierten sich auf die politische Mitte, wo bisher vor allem die CVP (Christlich-demokratische Volkspartei) und die FDP (Freisinnig-demokratische Partei) eine feste Bleibe suchten und nicht fanden. Genau in jenem Mittelsektor wurden 2 neue politische Organisationen wie die GLP (Grünliberale Partei Schweiz; Präsident: Martin Bäumle), die vor keinen Listenverbindungstricks zurückschreckte, und die BDP (Bürgerlich-Demokratische Partei Schweiz, die sich am 01.11.2008 von der SVP abgespalten hat und erstmals an nationalen Wahlen teilnahm) aktiv. Die politischen Programme sind allerdings noch nebulös wie ein Herbsttag im Mittelland. Die Mitte erlitt damit einen zusätzlichen chronischen Schwächeanfall; eine Verzettlung kann ja keine Stärkung sein.
Die GLP, die erfolgreichere von beiden Parteien der „Neuen Mitte" (Medien-Jargon), gibt sich ökologisch und gleichzeitig liberal. Sie ging eindeutig als Wahlsiegerin hervor. Sie schadete zusammen mit der BDP, die vor allem der Rettung des wackelnden Sitzes von Bundesrätin Evelyn Widmer-Schlumpf dient, der diffus in der politischen Landschaft umherstreunenden FDP, die 2,5 % Wähleranteil verlor und zusammen mit der SVP als Verliererin aus dem Rennen ging, womit ihr auch der Verlust eines Sitzes im 7-köpfigen Bundesrat droht. Selbst der Präsident der nationalen FDP, der Tessiner Nationalrat Fulvio Pelli (seit 1995 NR und seit 2005 glückloser FDP-Präsident) wurde beinahe abgewählt; erste Hochrechnungen des im Rechnen nicht sehr begabten Tessiner Fernsehens deuteten darauf hin. Doch er schaffte die Wiederwahl dennoch ganz knapp.
Selbst die „Grünen“, die der SP nahestehen und diese meist links überholen, wurden zur Kasse gebeten (-1,2 %), obschon sie alles taten, um politisches Kapital aus dem japanischen Tsunami zu schlagen, bei dem die KKW-Anlage in Fukushima schwer getroffen wurde; sie waren ja nicht die Einzigen, die Zuflucht zu solchen politischen Mätzchen suchten (siehe unten: CVP). Josef („Jo“) Lang (Alternative-die Grünen), der seit Jahrzehnten in absolut unbelehrbarer Weise die Schweizer Verteidigungsarmee abschaffen will, wurde vom Zuger Stimmvolk aus dem Gefecht genommen, d. h. nicht wiedergewählt.
Die CVP kam, abgesehen vom Aargau, in überraschender Weise verhältnismässig glimpflich davon (-2,2 %), gehört aber ebenfalls zu den Verliererinnen. Wahrscheinlich profitiert sie von der merkwürdigen Beliebtheit der auch in der Energiepolitik nach dem Hüst-und-Hott-Prinzip agierenden Bundesrätin Doris Leuthard, die zuerst einmal Ziele nennt und erst dann darüber forschen lassen will, welche Auswirkungen ihr Entscheid haben wird. Da stimmt etwas mit der Reihenfolge nicht. Und dadurch wird die gleiche Ikone zur Belastung. So etwas schafft kein Vertrauen für eine Partei, deren Ansehen auch durch das im Parteinamen mitgeschleppte C (christlich) belastet ist.
Im Aargau, aus dem die schöne Doris Leuthard stammt (aus Merenschwand im Freiamt), verlor die CVP 2 der bisher 3 Nationalratsmandate. Der abrupte energiepolitische Schwenker hin zum KKW-Ausstieg hat im Atomkanton Aargau mit seinen 3 Kernkraftwerken (2 × Beznau und Leibstadt) keinen Anklang gefunden. Die Rechnungen für diesen unüberlegten Fukushima-Reflex werden in Zukunft Schlag auf Schlag eintreffen – auch via Stromrechnungen und Landschaftsverschandelungen. Das wird dann hinterher aufgearbeitet.
Immerhin können die Wölfe im Wallis etwas aufatmen: CVP-Nationalrat Roberto Schmidt, der den Wolfsschutz aufweichen wollte (also ein Abschuss-Befürworter ist), schaffte die Wiederwahl nicht. Ich stelle immer wieder das gleiche Syndrom fest: Christen hatten noch nie ein Herz für Tiere – im Gegenteil. Man erkundige sich z. B. bei den Schlangen, sofern sie als biblische Inkarnationen des Teufels noch nicht erschlagen wurden.
Der Wahlkampf
Der Wahlkampf setzte etwa vor 1 Jahr und damit viel zu früh ein. Er wurde zwar immer wieder durch prägende Ereignisse (Fukushima mit den damit verbundenen Fehlinterpretationen und den darauf basierenden unüberlegten Wirkungen auf die Energiepolitik) und die Schädigung der Exportindustrie durch die Stärke des Schweizer Frankens (die damit verbundenen Vorteile wurden praktisch nicht thematisiert) neu belebt. Die Schweizerische Nationalbank bereitete mit beliebigen Milliardenbeträgen für den Aufkauf zerfallender Euros bei 1.20 CHF/Euro dem Währungsspuk ein vorläufiges, höchst provisorisches Ende. Dadurch war das Thema Frankenstärke vorerst einmal vom Tisch. Und andere Fragen, welche die Schweiz bewegen, wie etwa die Migration (Masseneinwanderung), wurden weitgehend ausgeklammert, wenn sie von einer Partei „besetzt“ waren – im erwähnten Fall von der SVP. Da spielt so etwas wie die Politik des Totschweigens mit, die ja auch von den Medien mit Inbrunst betrieben wird: publiziert wird nur, was dem Hauptstrom genehm ist.
So wurde der lange Wahlkampf am Ende, als alle müde waren, auch noch langweilig. Trotzdem gingen noch 48,5 % der Wahlberechtigten an die Urne (wenn sie nicht per Post abstimmten); das ist für CH-Verhältnisse, wo die Anforderungen an die Entscheidungsfähigkeit hoch sind, stattlich. Wer sich nicht damit befasst, bleibt besser zu Hause.
Die meisten Schweizer – und ich zähle mich zu ihnen – konnten das Wahltheater mit all seinen billigen, durchschaubaren Mätzchen nicht mehr ertragen, schauten und hörten weg. Eine konsequente, auf das Landesinteresse ausgerichtete Haltung wurde zu oft dem Herumbasteln an Wahlchancen untergeordnet. Die Plakate mit vielen der landesweit 3458 Kandidaten, ein Rekord in der Geschichte der Schweiz übrigens, wurden als Landschaftsverschandelung empfunden. Wie bei Zahnpasta-Reklamen alter Schule mit den in Richtung Schneeweiss retouchierten Zähnen lächelten die an Laternenpfählen befestigten Kandidaten dem Volk zu, hatten keine Botschaft, abgesehen vom Aufruf, sie 2 Mal auf jede Liste zu schreiben.
Das Wahlzentrum
Bewunderung verdienen die Schweizer Gemeindekanzleien bzw. die darin installierten Wahlbüros, die dieses unvorstellbar komplizierte Wahlprozedere mit Bravour innert kürzester Zeit meisterten – bei aller Zuverlässigkeit. Besonders hervorgetan hat sich der Kanton Aargau, der Minuten nach der Wahllokalschliessung bereits mit ersten Hochrechnungen glänzte; etwas gemütlicher nimmt man es im Kanton Waadt mit dem pannenanfälligen Computer. In den USA, wo das Zählen weniger gut gelingt, würde man in diesem Zusammenhang von „Helden“ sprechen.
Interessant ist der Umstand, dass das SRG-Fernsehstudio in Zürich bei der Bekanntgabe von Abstimmungs- und Wahlresultaten dem Bundeshaus (der Bundeskanzlei) im entfernten Bern den Rang abgelaufen und das Zepter übernommen hat. Ich will unumwunden zugeben, dass die Berichterstattung und Kommentierung unter der Leitung des sympathischen, starallürenfreien Moderators Urs Gredig professionell daher kam. Die Politiker, die am Wahlsonntag in den Medien erscheinen möchten, wurden nach Zürich aufgeboten. Und die schreibende Zunft folgte ihnen auf den Fersen, erhielt im TV-Haus ein Plätzchen, um ihre ohnehin mit Verspätung beim Volk eintreffenden Buchstaben eintippen zu dürfen. Fotografieren erlaubt. Fotografen konnte man als Staffage gut ins Bild einrücken.
Logischerweise müssten auch die eidgenössischen Räte gleich im Zürcher Fernsehhaus tagen. Dort wird ja sowieso viel Politik gemacht, wenn auch ohne durchschlagenden Erfolg. Sonst wäre der linke Flügel wesentlich stärker geworden.
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