Textatelier
BLOG vom: 02.11.2011

Claude Monet in Martigny VS: Der Reiz des Schleierhaften

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Die Werke des französischen Malers Claude Monet (1840‒1926) verführen den Betrachter in eine Welt des lichterfüllten Schleierhaften, wo es, abgesehen von ein paar Stürmen, immer Sonntag ist. Für sein Schaffen typisch ist das 1875 entstandene Bild „Der Spaziergang. Frau mit Sonnenschirm“: Eine vornehme Dame mit einem bodenlangen, luftig, spiralig um Hüfte und Beine gewickelten weissen Kleid, in dem sich die Umgebungsfarben spiegeln, lässt sich in einer Wiese vom Wind umgarnen. Ein transparenter Schleier macht ihre ebenmässigen Gesichtszüge sanfter. Ein Knabe schaut interessiert zu, und einige Schäfchenwolken verzaubern den Himmel. Das Bild ist eine Augenweide; man kann gar nicht genug hinschauen. Der Anblick stimmt sanft, weckt Glücksgefühle.
 
Das Gemälde wurde offensichtlich im Freien gemalt, wie es Monet bei jeder Gelegenheit tat, weil dann Stimmungen und Ursprünglichkeit besonders deutlich hervortreten. Das Einfangen von Empfindungen, von Atmosphäre war Monet wichtig. Schatten wird vor allem gebraucht, um das Licht besser zur Geltung zu bringen. Es gibt so viel Helligkeit, dass das Motiv des Sonnenschirms immer wieder zum Einsatz kommt. Manchmal übernimmt ein üppiger, waldartiger Pflanzenbewuchs die Schattierung in einer sonnendurchfluteten Lichtung. Und wenn ein Bild allzu monoton wirken würde, fand sich in der zu Monets Zeiten noch weniger drainierten Landschaft gewiss irgendwo ein Tümpel, Weiher oder See, dessen Spiegelreflexe die nötige Auflockerung herbeiführen konnte. Es ging dem Maler um Anschauungen, um Sichtbarkeiten.
 
Landschaften und Menschen werden mit Vorliebe in Schleierkleider gehüllt, so auch die Frau auf „La Terrasse à Vétheuil“ (1881), die in lässiger, nach hinten geneigter Position, fast liegend, in einen Rosengarten gebettet ist. Das runde Tischchen vor ihr ist leer; denn die Darstellerin entspannt sich, scheint eingenickt zu sein. Die Bilder haben aber wenig zu erzählen, sie sind einfach schön. Durch Nebel verschleiert werden auch Erscheinungsbilder der urtümlichen und gestalteten Natur und Bauwerke wie die „Waterloo Bridge, effet de soleil“ (1899‒1901). Wasser, Brückenbögen und Himmel passen ihre stofflichen und farblichen Qualitäten einander an, verschmelzen zu einer Einheit, als ob die Farben mit einem Schwingbesen eingerührt worden wären, ohne aber undefinierbar zu sein. Ein bisschen Sonnenlicht hat die Aufgabe, den Nebel dort andeutungsweise in Schranken zu weisen, wo etwas wie das Brückenbauwerk besser erkennbar werden soll.
 
Die aus England mitgebrachten Motive sind die Folge mehrerer Reisen Monets nach London um 1900; die Eindrücke verarbeitete er meist in seinem Atelier in Giverny (Haute-Normandie F), ein für den Künstler untypisches Vorgehen zwar, das wahrscheinlich wegen Zeitmangels in London so zustande kam. Zudem hatte er die Jahre während des Deutsch-Französischen Kriegs (1870/71) in London verbracht.
 
Etwas Nebel und Dampf konnten auch dann gute Dienste leisten, wenn es galt, weniger ansprechende Seiten im Bahnhof Saint-Lazare (1877) zu retouchieren; der für damalige Begriffe moderne Bahnhof war frei von traditionellen Wertvorstellungen, stand aber für Macht und Glanz der neuen Verkehrstechnik. Hier war Claude Monet in seinem Element; hier richtete er sich während Tagen ein. Der Direktor der Eisenbahnlinie West, der von Malerei keine Ahnung hatte, half dem noch kaum bekannten Künstler, die gewünschten Motive aufzubauen, hielt Züge an, liess Lokomotiven so viel wolkenartigen Dampf ausblasen, wie ihn Monet für seine Verschleierungstaktik brauchte. Die Wolken erschienen im Schatten der Halle bläulich.
 
Monet war auch vom Japonismus entzückt, der ab der Mitte des 19.Jahrhunderts über die europäischen Metropolen hereinbrach. Und wenn er eine Japanerin in der japanischen Tracht malte, wie das beispielsweise 1875 geschah, fand er zur herkömmlichen Gegenständlichkeit zurück und bewies, dass er nicht nur malen, sondern auch nach alter Schule zeichnen konnte.
 
Wie oft auf dieser verwirrten Welt, waren Maler wie Monet, Renoir, Pissarro, Sisley, Degas, Cézanne und viele andere zu ihren Lebzeiten wenig erfolgreich. Sie wurden von den offiziellen Stellen abgelehnt. Deshalb veranstalteten die verkannten Maler im Frühling 1874 am Pariser Boulevard des Capucines ihre eigene Ausstellung. Da die Kritiker vor allem ihre Verachtung ausdrückten, war die Schau nicht eben erfolgreich. Monet stellte sein Bild „Impression – Sonnenaufgang“ (soleil levant, 1873) aus, das eine Morgenstimmung mit einem glühenden Sonnenball im Hafen von Le Havre zeigt. Das Werk wurde vom Kritiker Louis Leroy heruntergemacht. Die Bilder seien nicht fertig gemalt, brach es aus ihm heraus. Es seien bloss Impressionen. „Eine Tapete im Urzustand ist besser ausgearbeitet als dieses Seestück.“ Immerhin war damit der Name für die neue Kunstrichtung geboren: Impressionismus. Der Begriff hat sich in der Kunstwissenschaft etabliert. Und Monet forderte mit seinen gelegentlich banalen Motiven die hohe Kunst weiterhin heraus
 
Die atmosphärischen Bedingungen und die Farbe als Folge von Licht sind wichtige Merkmale dieser Kunstform, die heute noch – und wahrscheinlich mehr denn je – anspricht. Ich greife diese Feststellung nicht aus der Luft heraus, sondern sie ist das Resultat meines Besuchs der Monet-Ausstellung (17. Juni bis 20. November 2011) in der Fondation Pierre Gianadda in Martigny im Unterwallis vom 25.10.2011. An jenem gewöhnlichen Dienstagnachmittag musste schon an der Kasse angestanden werden; der Publikumsandrang war gross. Oft war es recht wegen des Gedränges schwierig, die richtige Position und Distanz zum Betrachten von einem der rund 70 Bilder einnehmen zu können.
 
Etwa 25 der Gemälde stammen aus dem Musée Marmottan Monet in Paris, welches die grösste Monet-Sammlung besitzt, nach dem der Sohn und Alleinerbe Monets, Michel Monet, dem Museum über 100 Gemälde und Zeichnungen vermacht hatte. Die übrigen Exponate stammen aus öffentlichen und privaten Schweizer Sammlungen. So besteht in Martigny eine erstklassige Gelegenheit, mit dem Werk Monets vertraut zu werden.
 
Zu sehen ist im Moment auch eine umfangreiche Sammlung japanischer Holzschnitte, formschöne Werke mit Sinn für Dekoratives und Naturgefühl, die sich in Monets Umfeld nicht als Fremdkörper ausnehmen, im Gegenteil. Der japanische Farbholzschnitt wurde seit dem Impressionismus zur Inspirationsquelle für europäische Maler, auch für den Funktionalismus in Beton und Glas.
 
Das Museum wurde am Ausgrabungsort der Überreste eines gallo-römischen Tempels errichtet, die 1976 gefunden worden waren. Es gehört zu den bedeutendsten Museen der Schweiz. Darin sind die wichtigsten archäologischen Funde aus Martigny untergebracht, ebenso ein Automobilmuseum mit vielen Schweizer Modellen.
 
Bei diesem Thema könnte man einen Bezug zum Grossen Sankt Bernhard herstellen, an dessen Nordfuss das Museum erbaut wurde. Mit dem Auto (wie auch mit der Eisenbahn) wurde das Sehen aus seiner Beschaulichkeit herausgerissen, auch wenn die Gesetze des Farbensehens unverändert blieben. Die Wahrheiten aber änderten sich: Wahr sind alle jene Erscheinungen für das menschliche Auge, die innerhalb jenes Wellenbereichs liegen, auf den es zu reagieren vermag. Das Tempo beschleunigt und verringert den Umfang der Reaktionen, und damit schränkt es die Wahrheiten ein. Deshalb ist es eine Lust und Beruhigung, sich in Monets Zeiten zurückzuversetzen, um die Bilder tiefer zu ergründen.
 
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