Textatelier
BLOG vom: 15.11.2011

Gerhard Ammanns Sicht von der Entjungferung der Jungfrau

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Aarau liegt im Aargau, und die Jungfrau, einer der schönsten und berühmtesten Gipfel der Alpen, türmt sich im Berner Oberland auf. Trotz Distanz und Verschiedenheit ergeben sich enge Beziehungen zwischen den beiden Schauplätzen: Am 1. August 1811 machten sich 2 kühne Männer aus Aarau, die Brüder Johann Rudolf Meyer (1768–1825) und Hieronymus Meyer (1769‒1828), Söhne von Vater Johann Rudolf Meyer (1739‒1813), begleitet von 2 Walliser Gemsjägern, die sie im Lötschental als Bergführer angeheuert hatten, einem Träger aus Guttannen, Kaspar Huber, und 3 ihrer Dienstleute auf, den „höchsten Gipfel des Jungfrauberges“ zu bezwingen. Sie hatten neben Lebensmitteln wie allerhand Luftgetrocknetes auch Brennholz und eine zusammenlegbare Leiter von 20 Fuss Länge sowie Seile von 60 Fuss Länge bei sich.
 
Die Expeditionsteilnehmer stiegen vorerst zur Lötschenlücke auf, wo sie die Dienstleute wieder zurück ins Lötschental sandten. Die Übrigen errichteten am Ostfuss des Kranzbergs das erste Nachtlager, stiessen tags darauf weiter zur Jungfrau vor und erforschten Eistäler. Am Abend des 2. August bezogen sie ihr 2. Nachtlager, wahrscheinlich am südlichen Ausläufer des Trugbergs. Der Träger musste zurück, um weitere Vorräte abzuholen, wobei Brennholz das Wichtigste von allem war. Inzwischen arbeiteten sich die beiden Reisenden aus Aarau und ihre Führer, wie sie später selber berichteten, über die „von der Jungfrau herabhängenden Eis- und Schneemassen“ vor. Zuerst mussten sie einen geeigneten Weg zum Rottalsattel (3857 Höhenmeter) auskundschaften. Es war ein unerhört gefährlicher Aufstieg, insbesondere, wenn man an die nach heutigen Erkenntnissen untaugliche Ausrüstung, zum Beispiel Schuhe mit Ledersohlen und Wadenbinden, denkt. Immerhin erreichten sie an jenem 3. August 1811 nachmittags um 2 Uhr den Jungfrau-Gipfel und liessen sich von der Aussicht überwältigen: „Schaudernd senkte sich der Blick in die entsetzlich finstere Kluft des Lauterbrunnentales.“ Nach einem halbstündigen Aufenthalt mit Rundblick traten sie den gefährlichen Rückmarsch an, und sie erreichten am Abend wohlbehalten das Nachtlager am Kranzberg.
 
Die Rolle von Aarau
Viele Details aus dieser Geschichte förderte Dr. Gerhard Ammann am 29. Oktober 2011 im Pfarreisaal des Katholischen Pfarrhauses in Aarau vor einem ausserordentlich interessierten, etwa 50 Personen umfassenden Publikum aus. In seinen Vortrag bezog sich der kundige Referent auch auf die Erstbesteigung des Finsteraarhorns vom 18. August 1812 durch Rudolf Meyer. Gerhard Ammann, ehemaliger Lehrer an der Neuen Kantonsschule Aarau, hat ein ausserordentliches didaktisches Talent. Er sprach langsam, meisselte Wort um Wort in die Alpinismusgeschichte und schuf zusammen mit Fotos, Zeichnungen und Juxkarten aus der Frühzeit des Alpentourismus eine greifbare Atmosphäre bei guter Laune.
 
Von besonderem Interesse waren seine ausführlichen Schilderungen der Funktion der Meyer-Familie aus Aarau in Zusammenhang mit der Jungfrau-Erstbesteigung. Der Vortragsort war von Gerhard Ammann mit Bedacht gewählt worden: Das Pfarrhaus bei der katholischen Kirche in der Nähe von Hauptpost und Bahnhof Aarau war seinerzeit die Villa des Seidenbandfabrikanten Johann Rudolf Meyer (Sohn); er hatte dieses herrschaftliche, klassizistische Landhaus in den Jahren 1795/97 für sich selber bauen lassen. Es ist ein dreigeschossiger, siebenachsiger Kubus unter einem geknickten Walmdach und besitzt 2 einwärts versetzte Seitenflügel. Die Gartenfassade mit ihren 6 Pilastern unter einem Dreieckgiebel sieht wie eine monumentale Tempelfront aus. Das Haus an der Feerstrasse nennt man Feergut oder Feerhaus. Der Meyer-Sohn Johann Rudolf erbaute auch das Spinnereigebäude bei der Hauptpost und die Meyerschen Stollen; der Zugang zu diesem unterirdischen, begehbaren System befindet sich tief unter der Villa (unter dem neuen Bahnhof Aarau kann man ein kurzes, beleuchtetes und Wasser führendes Teilstück davon sehen).
 
Die Aarauer Katholische Kirche St. Peter und Paul, ein Eisenbetonskelettbau, entstand 1937/39 an der Stelle, wo vorher die Seidenbandfabrik war. Gerhard Ammann verbrachte seine Jugendjahre im unmittelbaren Umfeld des Feerguts und konnte den Kirchenbau miterleben. So fühlt er sich am Rande in die Geschichte der Meyer-Familie und deren alpinistische Leistungen eingebunden. Und Ammann teilt zudem die Bewunderung für die Schönheit von Finsteraarhorn, Jungfrau, Mönch und Eiger. Sie bilden tatsächlich eine der attraktivsten Gipfelgruppen der Alpen.
 
Die Bilder von meinem eigenen Besuch des Eigergletschers am 15.12.1974 und der Anblick der sich gewaltig auftürmenden Bergriesen in Mürren vom 28.10.2006 sowie von weiteren Ausflugsorten in der Umgebung wurden mir zu bleibenden Erinnerungen. Bei klarem Wetter ist die aus verschiedenen Individuen bestehende Eigergruppe sogar von unserem Haus in Biberstein bei Aarau aus zu sehen. Die frei stehende Jungfrau ist besonders eindrücklich auch von Interlaken aus wahrzunehmen und hat fast etwas von einem gotischen Münster an sich, entspricht die Form des Bergs doch dem Goldenen Schnitt. Nicht umsonst ist gerade die Jungfrau ein beliebtes Briefmarken-Motiv; ihre Nachbarberge kommen auch gelegentlich zu solchen philatelistischen Ehren. Das Finsteraarhorn wurde von Hans Thöni auf einer Briefmarke verewigt. Auch Zeichner, Maler und Fotografen halten die Bilder auf ihre persönliche Weise gern fest.
 
Das Finsteraarhorn
Die Besteigung des Finsteraarhorns vom Lötschental aus, von der Gerhard Ammann ebenfalls erzählte, war „unendlich schwieriger“. Das Finsteraarhorn ist mit 4273 Metern und 90 Zentimetern der höchste Berg der Berner Alpen. Vielleicht sei es der schönste Berg, mutmasste der Referent, der in ihm die Form einer riesigen Haifischflosse erkennt, die das Gebirge vor sich her stösst. Von Bern aus betrachtet, scheint diesem Berg die Pyramide des Schreckhorns die Schau zu stehlen – ganz zu schweigen vom Dreigestirn der Alpen zur Rechten. Der Alpinismus-Schriftsteller Daniel Anker beurteilte es so: „Das Finsteraarhorn drängt sich nicht in den Vordergrund wie Jungfrau und Wetterhorn, lässt sich nicht durchbohren wie Eiger und Mönch. Etwas zurückgezogen lebt der höchste Berner, abseits von Bahnen und Liften. Nur gerade eine Hütte duldet er direkt an seinem Fuss, zu der Alpinisten nur auf Tagesmärschen über weite Gletscher gelangen. Und auch die Oberaarjochhütte und das Aarbiwak, beide ebenfalls Ausgangspunkte für eine Besteigung des hohen Berges, gehören nicht zur Kategorie der leicht und schnell erreichbaren alpinen Unterkünfte. Kein Wunder, dass das Blatt ,Finsteraarhorn’ der Landeskarte der Schweiz im Massstab 1: 25 000 das einzige der 249 Blätter ist, auf dem keine asphaltierte Strasse zu finden ist.“
 
Es war schon fast ein Wunder, dass diese abgelegene Viertausender so früh schon erstbestiegen wurde – und dies ausgerechnet über eine besonders schwierige, ja scheinbar unmögliche Route. Der diesbezügliche Pionier Rudolf Meyer (1791‒1833), der Enkel des frühen Unternehmers und ältester Sohn von dessen Nachfolger, bewältigte die Aufgabe 1812 im Rahmen von aufeinander abgestimmten Teilexpeditionen: die Erstbesteigungen des Finsteraarhorns und des Mönchs, die Zweitbesteigung der Jungfrau und die Traversierung nach Grindelwald.
 
Die 2. Teilexpedition, die aus 5 Personen bestand, startete am 14. August beim Grimsel-Hospiz und führte zur Oberaaralp. Tags darauf wurde das Oberaarjoch bis zur Gemslücke bewältigt. Und am 16. August erfolgte der 6 Stunden dauernde Aufstieg durch die Ostwand des Finsteraarhorns, einer schwarzen, steilen Felspyramide, auf den Südostgrat. Erstmals verfügte die Gruppe über Steigeisen, ein gewaltiger Sicherheitssprung, aber Schnee und Eis waren nach wie vor trügerisch, von Schründen und Spalten durchsetzt. Rudolf Meyer und wahrscheinlich auch Kaspar Huber waren erschöpft und blieben beim Felsturm zurück, der später „Meyers Peak“ genannt wurde. Die beiden Bergführer Joseph Volker und Alois Bortis sowie vielleicht auch Arnold Abbühl, Knecht des Grimsel-Hospizes, erreichten den Gipfel als Einzige. Der Abstieg über den Südostgrat bot weniger Probleme.
 
Der Solothurner Naturforscher Franz Josef Hugi vertrat die Ansicht, die Besteigung durch die lange, schwierige Ostwand sei ein Ding der Unmöglichkeit. Waren die Männer wirklich auf dem Gipfel gewesen? Hugi stellte das in Abrede und löste einen Alpenkrimi aus. Laut Gerhard Ammann lässt sich die Frage nicht mehr genau beantworten. Die Meyersche Route wird jedenfalls kaum noch berücksichtigt; die heutige Normalroute führt über die Südwestflanke und den Nordwestgrat. Sie wurde erstmals am 10. August 1829 durch die Haslitaler Bergführer Jakob Leuthold und Johann Währen begangen. Hugi musste wegen eines verstauchten Fusses oberhalb des später nach ihm benannten Sattels (4088 m ü. M.) zurückbleiben. Oft sind es Pleiten und Pannen, die namengebend wirken.
 
Der sich hoch auftürmende Berg besteht aus dunklem Amphibolit, einem Gestein aus Hornblende und Feldspat, das schiefrig verwittert, und somit sind die Steinschlaggefahren erheblich. Die dunkle Farbe des Gesteins hat zum Namen Finsteraarhorn beigetragen – früher hiess es Schwarzhorn, genau wie über 30 andere Gipfel der Schweiz.
 
Landkarten-Geschichte
Gerhard Ammann ist ein ausgesprochener Kenner der Kartografie-Geschichte, und sein diesbezügliches Wissen bezog er in seinen Vortrag ein. Er verwies zum Beispiel auf die 1538 entstandene Schweizerkarte des berühmten Glarners Aegidius Tschudi, die bis 1803 überändert blieb und die als Zeichnung ohne Vermessungsgrundlagen entstanden und damit ein Hilfsmittel von beschränktem Wert war. Auch diesbezüglich stand nur eine mangelhafte Ausrüstung zur Verfügung – und umso bewundernswerter sind die Leistungen der naturforschenden Meyer-Familie und deren Helfer. Vater Meyer musste vor der Planung der Expeditionen notgedrungen möglichst viele Berggipfel einmessen und so eine eigene Karten herstellen.
*
Nach diesen Ausführungen kehrten wir, das Publikum, aus der dünnen Hochgebirgsluft in den Sphären der Alpengipfel wieder ins Kirchgemeindehaus von Aarau zurück. Der Referent hatte Mineralwasser und spanischen Weisswein aus Penedes mitgebracht, die auf eine Fensterbank vor der Glasscheibe zur Kühlhaltung gestellt wurden. Im Feerpark hielten sich einige Arbeitslose oder Asylsuchende auf, von denen einer den Verlockungen erlag und sich eine Flasche Wein behändigte, diese aber ohne Weiteres zurückgab, als ihm bedeutet worden war, sie sei für andere Zwecke bestimmt.
 
So sind eben Menschen immer bereit, Risiken einzugehen. Das war auf ihre Weise schon bei den Aarauer und Berner Alpinisten der Fall, die der Jungfrau die Unschuld raubten und sie eigentlich zur Frau Meyer machten.
 
 
Quellen
Ammann, Gerhard: Vortrag „Die 200 Jahre-Jubiläen der Erstbesteigung der Jungfrau am 3. August 1811 und des Finsteraarhorns am 18. August 1812“ vom 29. Oktober 2011 im Katholischen Pfarrhaus in Aarau.
Ammann, Gerhard: „200 Jahre ‚Atlas Suisse’“, Eigenverlag des Autors, Aarau 2003.
Ammann, Gerhard: „Frühe Erstbesteigungen im Hochgebirge durch Aarauer". http://www.jungfrau4000plus.ch
Anker, Daniel: „Finsteraarhorn – die einsame Spitze“, AS Verlag, Zürich 1997.
Lauper, Hans: „Altes und Neues von der Jungfrau“, in „Die Alpen III-1927“, Monatsschrift des Schweizer Alpenclubs, Verlag Stämpfli & Cie, Bern 1927.
 
 
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