Textatelier
BLOG vom: 16.11.2011

Die Kartonschachtel: Altpapier, mit Geschichte verbunden

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Sammelwürdiges Altpapier – nicht zum Einstampfen bestimmt, nennen die Engländer „printed ephemera“ und die Franzosen „vieux papier“. Mehrmals habe ich im Pariser Quartier „Le Levallois-Perret“ solche Altpapiermessen besucht. Alte Zeitschriften, Postkarten, Theaterprogramme, Plakatanschläge usw. finden dort ihre Käufer.
 
Am Samstag, 12.11.2011 entdeckte ich in Wimbledon eine 8-eckige luxuriöse Geschenkschachtel, die wohl Seidentücher enthalten haben mochte. Auf dem Deckel war eine kreisrunde, von Hand gefärbte Art-Deco-Gravur eingelassen. Die Innenwände dieser bemerkenswert gut erhalten Kartonschachtel waren mit einem kraftvollen grafischen Design verkleidet. Die Deckeillustration zeigt 4 junge Damen in gebauschten Röcken unter Platanen, einen Ringeltanz drehend. Wie kommt es, dass diese Zierschachtel unvergilbt zuoberst auf einem Altpapierhaufen lag?
 
So beantworte ich die Frage im Freilauf der Fabulierlust wie folgt:
 
Die 16-jährige Géraldine lebte mit ihren Eltern in Leeds. Ihre Tante, die einige Jahre in Frankreich verbracht hatte, schlug vor, dass Géraldine ein Jahr als Haushaltshilfe in einer Familie in Paris verbringen sollte. Dieser Vorschlag war damals noch recht ungewohnt, aber begeisterte Géraldine. Die Tante gab ihr etwas Sprachunterricht und weihte sie in die französischen Umgangsformen ein. Sie solle Bitten der Dame und des Herrn des Hauses immer mit einem „oui Madame“ oder „oui Monsieur“ beantworten. „Discrétion est de rigueur“, betonte ihre Tante, die eine Familie in Neuilly bei Paris kannte, die bereit war, Géraldine gegen Kost, Logis und ein Taschengeld aufzunehmen.
 
Der Tag ihrer Abreise begann. Die Dampflokomotive pustete, die Waggons ziehend, gegen Dover. Géraldine erreichte am Spätnachmittag eines Sonntags den „Gare du Nord“ und schleppte ihre verbeulten Koffer zum Hauptausgang. Paris schien ihr viel anders als Leeds: Viel rascher hasteten die Leute beim Bahnhof vorbei, ein Taxi ums andere flitzte vorüber. Nur weniges war mit Leeds vergleichbar: Die Nässe und Kälte an einem späten Novembertag, wie der Tag dem Nachteinbruch wich. Géraldine trug eine Wollmütze und fröstelte, beim Ausgang wartend. Ein junger Mann, nicht viel älter als sie, sprach sie an: „My parents asked me to get you.“ Er hiess Lazlo und trug ihre Koffer zum Taxi. Im Taxi gab Lazlo zu, dass er „little English” spreche. Sie ihrerseits musste zugeben, dass auch sie nur „un peu“ französisch spreche. So versandete die Konversation im Nu.
 
„Alors, vous êtes Géraldine“, begrüsste und musterte die Dame des Hauses den Ankömmling aus England. „Oui Madame“, antwortete Géraldine artig. Die Dame war eher zugeknöpft, hageren Wuchses und trug ihr fahles Haar zu einem strengen Zopf gewickelt am Hinterkopf. „Alors vous avec congé jusqu’à demain, entliess sie die Dame, hinzufügend Vous trouverez du thé dans la cuisine avec quelques brioches. Davon verstand Géraldine kein Wort und bezog ihr Zimmer im obersten Stock. Zum Glück hatte ihr die Mutter etwas zum Essen mitgegeben.
 
Ein junges Geschöpf wie Géraldine ist anpassungsfähig. Sie versah ihre Aufgaben gewissenhaft und „avec discrétion“. Abends trug sie das Essen auf, räumte nachher das Geschirr weg, wusch und versorgte es am rechten Platz. Herr Hegedus war so einsilbig wie seine Frau. Jeden Morgen musste ihm Géraldine die Zeitung bringen, hinter der er sich verschanzte, bis er aufstand und grusslos zur Arbeit in seine Anwaltspraxis ging.
 
Wäre Lazlo nicht gewesen, hätten sich Géraldines Französischkenntnisse kaum verbessert. Ausser im Beisein seiner Eltern war Lazlo sehr gesprächig und scherzte gern mit Géraldine.
 
Als der Frühling kam, zeigte er ihr übers Wachende die Pariser Sehenswürdigkeiten: Les Champs Elysées, Nôtre Dame, La Seine, Montmartre auf dem Hügel. Kurzum, sie waren einander sehr sympathisch. Sie lernte auch einige seiner Freunde kennen mitsamt ihren Freundinnen.
 
Ohne es zu merken, verliebte sich Géraldine in Lazo. Es war ihre erste Liebe, und das sah man ihr an, da sie leicht errötete. In Lazlos Freundeskreis aufgenommen, besuchten sie Cabarets in Montmartre, tanzten und lachten viel.
 
Der Sommer neigte sich zu Ende. In einem Monat musste Lazlo in die Militärakademie einrücken. Dann war auch Géraldines Pariser Jahr zu Ende. Madame Hegedus hatte wohl bemerkt, dass sich Lazlo zunehmend mit Géraldine abgab, doch konnte sie keinen Einspruch erheben noch Einfluss nehmen, denn Lazlo war inzwischen 18 Jahre alt geworden – „un jeune homme“.
 
Zum Abschied schenkte ihr Lazlo die wundervolle Schachtel mit Taschentüchern, wie eingangs erwähnt. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie versprachen, einander viel zu schreiben. So geschah es auch während einiger Monate, bis sich die Briefpausen seinerseits verlängerten.
 
Nach ihrer Rückkehr fand Géraldine eine gute Stelle als Sekretärin in einem Handelshaus in Leeds, wo ihr Französisch ihr gut zustatten kam. Es war nicht Géraldines Art, Trübsal zu blasen, anpassungsfähig, wie sie war. Innert 2 Jahren verheiratete sich mit einem netten Burschen. Doch immer wieder stiegen alte Erinnerungen auf. Zwischen ihrer Wäsche versteckt, lag die Zierschachtel, sorgfältig aufgehoben. Viele Jahre später starb Géraldine in einem Altersheim. Das Haus wurde geräumt. Die Schachtel endete auf einem Altpapierhaufen. Und mit dieser Geschichte hat sie ihren Zweck erfüllt.
 
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