BLOG vom: 13.12.2011
Ein Bücherwurm stahl der Schweizer Geschichte fast die Schau
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Papyrus, Pergament, Papier und dergleichen Werkstoffe üben auf mich eine unwahrscheinliche Faszination aus, besonders, wenn sie bedruckt sind. Offenbar ist das nicht der Normalfall, zumal einem alte Bücher in Antiquariaten, Brockenhäusern, Antiquitäten- und Flohmärkten zu Spottpreisen überlassen werden. Ich profitiere gern von solchen Gelegenheiten. Und so habe ich kürzlich an einem Antiquitätenverkauf in Zofingen AG den 1. Band der „Geschichte der Schweizerischen Eidsgenossenschaft“ von J. Conrad Vögelin, Pfarrer zu Benken (im St. Galler Linthgebiet), für 10 CHF kaufen können. Das 844 Seiten starke Buch mit einem gut erhaltenen Lederrücken ist 1827 in der Gessner’schen Buchhandlung in Zürich erschienen. Das Werk ist ausgezeichnet erhalten. Die mittelbraunen Altersflecken auf dem vergilbten Papier würde ich vermissen, wären sie nicht da. Ich habe das Buch sorgfältig entstaubt und den Rücken mit einer hochwertigen, transparenten Schuhwichse geschmeidiger gemacht.
Solche Bücher erwerbe ich nicht in erster Linie, um sie in irgendeinem Gestell zu verstauen, sondern ich lese sie und freue mich am Inhalt und an der kunstvollen Schrift – im vorliegenden Fall ist es eine leicht modernisierte, entschnörkelte Art der Augsburger Fraktur-Variante aus dem 16. Jahrhundert (im Mittelalter war Augsburg nicht nur ein wichtiges Handelszentrum, sondern auch einer der führenden Druckplätze, auch während der Reformation). Selbstverständlich interessiert mich auch die Sprache. Leseprobe aus dem Kapitel „Zürichs Bund mit Oesterreich 1356“: „Weil man die Schweiz nicht hatte mit Waffen bezwingen können; so versuchte man, die Eidsgenossen mit Hinterlist in Uneinigkeit, durch diese ins Verderben zu bringen.“
So haben sich eigentlich weder die Schrift noch die Methoden seither wesentlich geändert – ein sprechendes Beispiel sind die Aufwiegelungen zu Bürgerkriegen durch Geheimdienste, die auf labile Verhältnisse abzielen, so dass es einfacher wird, ein Land von aussen zu beherrschen und dessen Rohstoffe auszubeuten. Das war schon in Zeiten der Kolonisation so, und aktuell haben damit die Westmächte am meisten praktische Erfahrungen.
Als ich über die erfreulich widerspenstige Schweiz auf Seite 211 las, sinnierte und gerade beim Thorbergischen Frieden von 1357 angelangt war, fiel mir auf der rechten unteren Hälfte der Seite ein 8 Millimeter grosses, stilisiertes Männchen mit 2 kurzen Beinen, einem langen nach vorn und einem kurzen nach hinten ausgestreckten Arm auf; sein Kopf scheint mit einer Zipfelmütze bedeckt zu ein. Es ist ins Papier eingestanzt. Auf den nachfolgenden Seiten wiederholt sich die durchs Papier gestanzte Figur. Sie wird von Seite zu Seite grösser, schwingt allmählich wie mit Peitschen um sich und löst sich allmählich in wirre, beliebig gebogene Linien auf, die sich dann auf eine einzige, schräge, wannenartige reduzieren. Diese wird allmählich immer kleiner und ist auf Seite 263 verschwunden.
Die ausgeschnittenen Rinnen (das Papier ist spurlos verschwunden) lassen einen Vergleich mit den Gängen von Holzwürmern zu. Und wie Schuppen fiel mir vor Augen, dass hier vor langer Zeit ein Bücherwurm in Aktion gewesen sein musste, also einer meiner Verwandten ... Viele Buchhandlungen sind nach uns Bücherwürmern benannt. Und einen Mensch-gewordenen Bücherwurm hat der Münchner Maler Carl Spitzweg um 1850 gemalt, also gut 20 Jahre nach dem Erscheinen meines Geschichtsbuchs: Ein kauziger, bibliophiler, kurzsichtiger Mann mit leicht nach vorn gekrümmtem Rücken steht auf einer Leiter in einer hohen, barocken Bibliothek, vertieft sich dort oben in ein Buch, und ein Sonnenstrahl leuchtet die besinnliche Szene aus. Ein weiteres Werk hält er mit dem Ellbogen fest – er kann vom Lesen offensichtlich nicht genug bekommen.
Die Metapher Bücherwurm für einen Büchernarren ist gebräuchlich: Man gräbt sich in Bücher ein. Das Wort „Büchernarr“ imponiert mir weniger; denn Vielleser können keine Narren sein; das sind schon eher Leute, die nie ein Buch zur Hand nehmen und ihre Unwissenheit vor dem TV-Gerät pflegen.
Nach meinen Beobachtungen der Rinnen im Geschichtsbuch lief meine Frage darauf hinaus, was es denn eigentlich mit dem Bücherwurm als Tier auf sich habe. In einem Bibliothekarischen Glossar steht unter „Bücherwurm“ zu lesen: „Allgemeine Sammelbezeichnung für die Larven verschiedener Käferarten, die ihre Eier in Büchern ablegen und deren Larven sich dann unter Umständen mehrere Jahre durch ihre Umgebung fressen und dabei erhebliche Schäden verursachen.“
Ich zog mein 25-bändiges „Meyers Enzyklopädisches Lexikon“ zu Rate und fand unter „Bücherwurm“ die Aufforderung, ich sollte durch unter „Bücherbohrer“ sozusagen weiterbohren. Zitat:
„Bücherbohrer (Bücherwurm, Gekämmter Pochkäfer, Ptilinus pectinicornis), etwa 4‒5 mm langer, schwarzer oder brauner Klopfkäfer mit ausgeprägt zylindrischem Körper; Flügeldecken gelbbraun, Fühler säge- (Š) oder kammartig (‰). Der B. (auch die Larven) befällt häufig Möbel (bes. aus Buche) und durchbohrt hölzerne Geräte und Bücher mit Holzeinbänden.“
Mein Geschichtsbuch hat keinen Holzrücken, doch offenbar tut’s Papier auch. Im vortrefflichen „Pierer’s Universallexikon“ steht unter Pochkäfer, dieser bohre Löcher in Bücher, Holz und andere Dinge. Wenn er sich an Holz zu schaffen mache, ergebe sich durch das Anstossen mit den Kiefern ans Holz ein Ton, der ans Ticken einer Taschenuhr erinnere, wobei abergläubische Leute glaubten, dass in dem Hause, in dem es tickt, bald jemand sterbe.
Zum Glück tickt mein Geschichtsbuch nicht. Im gleichen Kapitel wird noch auf den Federhornkäfer (Ptilinus Fabr.) hingewiesen, der ebenfalls Bücherbohrer genannt wird, weil er nicht nur in Baumstämmen und hölzernen Geräten, sondern auch in Büchern gräbt.
Weil das Graben in Büchern auch meine Lieblingsbeschäftigung ist, habe ich Verständnis für solche Tiere; sie stehen mir nahe. Ich kann lesen, währenddem das Radio vor sich hin trällert und palavert oder der Fernsehkasten seinen „Trash“ (Umerto Eco) verbreitet. Das Lesen ist stärker, fesselt mich, entrückt mich in eine neue Welt. Doch für einmal waren die Bohrgänge im uralten Geschichtsbuch aufsehenerregender als der Buchinhalt – ich liess mich ablenken. Und spätestens nach der Lektüre des Pfaffenbriefs von 1370 wechselte ich von der Geschichte hinüber in die Biologie, forschte nach dem Bücherwurm.
Beim Pfaffenbrief handelte es sich übrigens um ein Schriftstück, mit dem die „Gewaltbothen von Zürich, Zug, Luzern und den Waldstätten“ die Sonderrechte der Geistlichkeit abgeschafft werden sollten. Der Brief sollte deren „selbst bey grossen Vergehungen oft behauptete Straflosigkeit aufheben, die häufigen Ausbrüche grausamer Hinterlist und Rachsucht beschränken und auch den Clerus allen Gesetzen, Verordnungen und Gerichten seines Landes, welchen er sich nur allzu gern entzog, unterwerfen (...).“
Ausgerechnet auf der Seite 221, wo das zu lesen ist, hat mein verehrter Bücherwurm die grössten Frassspuren angelegt, allerdings nur am unteren, unbedruckten Seitenrand, so dass der beherzigenswerte Text unbehelligt blieb. Die Rillen wirken wie ein Buchzeichen. Daraus schliesse ich, dass mein Bücherbohrer von Sonderrechten für die Pfaffia ebenso wenig wie ich hält, eine weitere Gemeinsamkeit.
Interessant ist ja, dass das Geschichtsbuch von einem Pfarrer Vögelin geschrieben wurde, was einen weiteren Rückschluss provoziert: Tatsächlich gibt es auch rechtdenkende Pfarrherren, welche die Wahrheitsliebe hochhalten und sie dem Volk nicht durch Totschweigen – diese verbreitete Form der Lüge – vorenthalten. Der ehrenwerte Pfarrer schrieb im Vorwort, dass in ihm der Sinn für Volk und Vaterland immer kräftiger aufgelebt sei und ihn ermutigt habe, „ungehindert von niederen Rücksichten, nur dasjenige zu schreiben, was ihm Wahrheit und unserem Volk erspriesslich schien“.
Was Wunder, dass wir Buchwürmer uns alle in seinem Werk wohlgefühlt haben.
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