BLOG vom: 04.01.2012
Neujahrsapéro Biberstein: Der Fluss der Dinge und Gedanken
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Die Bewohner der Gemeinde Biberstein (Bezirk Aarau), zu denen ich mich mit Stolz zählen darf, starten jeweils mit Tiefgang in ein neues Jahr. Das Adverb „jeweils“ deutet an, dass es auch das Unveränderliche gibt, aber wirklich nur ausnahmsweise ... und eines Tages wird ohnehin alles anders sein.
Beim Eintritt ins neue Jahr nahm man sich beim Neujahrsapéro am späten Nachmittag des 01.01.2012 unter der Dachreiteruhr im Obergeschoss des Gemeindehauses neben Alltagsgesprächen besonders ausgeprägt der Flusslehre Heraklits an, wie sie in Platons Zitat „Pánta chorei kaì oudèn ménei“ aufgenommen wurde, auch wenn im Dunkel der Philosophiegeschichte über die Herkunft noch verschiedene Unklarheiten herrschen: „Alles bewegt sich fort und nichts bleibt.“ Der Präsident der Kulturkommission Biberstein, Wolfgang K. Schulze, der von seiner Wohnung in der Ihegi aus freie Sicht zur Aare hat, setzte seine Eindrücke mit der Formulierungskunst des pensionierten reformierten Pfarrers in schöne, ja literarische Worte um:
„Die Auenlandschaft an der Aare lädt ebenso zum Wandern ein wie die nahen Jurahöhen. Die Aare gibt manchmal den Blick frei bis auf den Grund, so klar ist das Wasser. Kurz darauf färbt sie sich braun-gelb und bringt mit wuchtiger Strömung allerlei Geschiebe mit sich. Fortwährend verändert sie sich. Wer ist da nicht fasziniert von diesem Schauspiel des Wassers, das bei uns vorbeifliesst, sich in den Rhein hineindrängt, durch Länder ins Meer strömt und wieder zurückkehrt durch Wind und Wolken – ein riesiger Kreislauf, der uns mit den Elementen und den Ländern verbindet!“
Das Wasser war es denn auch, das im abgelaufenen Jahr eine Spur von Unruhe ins harmonische Dorfleben von Biberstein brachte – nach einer langen Trockenperiode wurde es im November 2011 knapp. Inzwischen steht uns bestes, kalkreiches Trinkwasser wieder in überreichem Masse zur Verfügung. Wir erhielten während der Mangellage über eine Notleitung via Küttigen Grundwasser aus dem Aaretal und tranken es tapfer, wenn auch nicht mit der gleichen Lust wie unser einheimisches Quellwasser. Doch die kleine Einschränkung war nichts im Vergleich zu den „erschütternden Umweltkatastrophen, den Überschwemmungen in Japan und Australien, dem Erdbeben in Neuseeland und der langen Trockenzeit mit Hungersnöten in Afrika“, von denen Wolfgang Schulze, weit über den Zaun blickend, sprach. „Immer deutlicher wird, dass die Welt ein Netzwerk ist, in dem alles miteinander verflochten ist und dass sich die Welt immer wieder verändert. Panta rhei: Alles fliesst. Kein Mensch steigt zweimal in denselben Fluss. Die Welt verändert sich.“
Der Referent dachte an den griechischen Philosophen Heraklit, der vor etwa 2500 Jahren lebte und auf den diese zitierten Einsichten zurückgehen. Veränderungen gehören dazu – sie gehören zur Natur, zum Leben: „Und so kann sich das Leben auch positiv entwickeln ... dass man plötzlich einen Menschen kennenlernt, von dem man viel lernen kann ... dass sich eine ausweglose Situation zum Guten wendet ... dass sich Konflikte lösen ... dass einem plötzlich Glück erreicht oder dass man teilnimmt am Dorfleben (so Schulze).“
Die Stunden und Tage um den Jahreswechsel seien von Besinnlichkeit erfüllt, sinnierte der Referent: „Was geschehen ist, ist geschehen, was gesagt, gesagt und was geschrieben ist, ist geschrieben. Und was die Zukunft betrifft: Sie bleibt trotz intensiver Planung ungewiss, für die einen spannend, für die anderen voll froher Erwartungen und wieder andere sind besorgt.“
Auf der Grundlage des Wunsches für einen „guten Rutsch“ (in der Schweiz sagt man: „Rutsch guet übere“) erteilte Pfarrer Schulze ein Lehrstück in Etymologie: Mit dem Rutsch sei kein Ausrutschen auf einer gefrorenen Strasse gemeint, hielt er fest. (Die Temperatur im schneefreien Biberstein auf rund 400 Metern Meereshöhe war ohnehin deutlich über dem Gefrierpunkt.) Man hoffe auch nicht auf zu viele Ausrutscher im persönlichen Umfeld oder auf dem politischen und wirtschaftlichen Parkett. Vielmehr weise der aus dem Jiddischen übernommene hebräische Ausdruck auf das jüdische Neujahrsfest „Rosch Hashana“ hin. Er bedeutet soviel wie der Kopf oder der Anfang eines Jahres und geht dahin, dass der Start in ein neues Jahr gelingen möge, sei doch ein guter Start die halbe Strecke.
Beim Jahreswechsel stösst man mit einem Glas an und sagt „Prosit Neujahr!“ oder verkürzt „Prost Neujahr!“. Zu deutsch: Wohl bekomm' es – oder: Es möge gelingen. Alle die Neujahrswünsche, ob frei formuliert oder in Reime gefasst, drücken die Hoffnung aus, dass das neue Jahr den Mitmenschen Glück bringen werde – im Wissen darum, dass das Leben ein ständiger Prozess ist.
Nachdem der Kulturpräsident die besten Wünsche für „viel Sonne, genügend Schnee, Zeit für die Stille, angenehme Gäste, mutmachende Gedanken, gutes Essen, Liebe und Leidenschaft, Gespräche und Inspiration, Natur, Abstand vom Alltag, Begeisterung über Gipfelerlebnisse und Geduld mit Talfahrten – kurz: ein aufmerksames und achtsames Leben“ – ans rund 40 Personen umfassende Publikum verteilt hatte, stellte man den Wein und die frischen, butterzarten Zopfschnitten auf den Tisch und applaudierte kräftig. Biberstein sei „ein wunderbarer Ort zum Leben“, hatte Wolfgang Schulze noch eingefügt. Obwohl wir alle das schon wussten, hörten wir es doch aus dem Munde eines sehr gut etablierten Newcomers wieder gern.
Er regte zum eigenen Nachdenken an: Dass der vielschichtige, nicht mehr im ganzen Umfang erhaltene gehaltvolle und vieldeutige Geist von Heraklit (wahrscheinlich 535‒475 v. u. Z.) in solch einer bevorzugten Wohnlage mit Vorliebe herumschwebt, versteht sich von selbst. Genau wie dieses Biberstein entzog sich Heraklit jeder Einordnung (oder Unterordnung als Gemeindefusion). Hier könnte er lernen, dass die Menge nicht taub für die Wahrheit ist, auch wenn diese ihr nahetritt, falls ein Geist noch lernfähig ist. Jedenfalls findet er hier die Bestätigung, dass alles eins ist – wie etwa Tag und Nacht, Hohes und Tiefes, Gerades und Krummes. Erst im Gegenlauf kann sich das wahre Ganze bilden, in der Einheit der Gegensätze. Karl Vorländer schrieb in seiner „Philosophie des Altertums“ dazu: „Krankheit macht die Gesundheit süss, Hunger die Sättigung, Arbeit die Ruhe“ ...
... und der Durst das Wassertrinken, wie man nach dem trockenen Herbst beifügen möchte. Zur Not tut’s, wie beim Neujahrsempfang, ein Glas Wein vom gemeindeeigenen Rebberg „Gheld“ auch, um den ewigen Fluss der Dinge und der Gedanken nicht ins Stocken zu bringen.
Hinweise
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