BLOG vom: 08.03.2012
Börsenirritationen: Verluste als Gewinnmitnahmen besungen
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Wie beschrieb er es doch so schön, der grosse Börsen- und Finanzexperte sowie Spekulant André Kostolany (1906‒1999), der als Sohn jüdischer Eltern in Ungarn geboren wurde und nicht nur auf sein Vermögen, sondern in die Abgründe der menschlichen Psyche schaute: „Gott sei Dank gibt es sehr viele Dummköpfe an der Börse. Was wäre die Börse, wenn es keine Dummköpfe gäbe? Ich gehe gern in die Börsensäle (egal, in welchem Land), denn nirgends auf der Welt kann ich pro Quadratmeter so vielen Menschen begegnen, die stark über ihre geistigen Verhältnisse leben. Jeder, dem es einmal gelingt, einen Kursschnitt von 100 auf 110 zu machen, bildet sich ein, ein Genie zu sein; und schon rechnet er sich sein neues Jahreseinkommen aus. Die Armen, sie wissen noch nicht, welche Watschen sie erwarten“ (im Buch „Kostolanys Börsenpsychologie“, Econ Verlag 1997, Seiten 209/210).
Bemerkenswerterweise spielen auch die Banken und die eingebetteten Finanzmedien das Spiel mit. Sie brauchen Stars und Genies, und sie verbreiten Schönwetterlaune, selbst wenn es stürmt, damit ihr Ruf erhalten bleibt. Zu diesem edlen Zweck haben sie eine beschönigende Sprache erfunden, die sich ganz lustig liest. Wenn zum Beispiel die Kurse im Sinkflug sind, dann führen sie das auf „Gewinnmitnahmen“ zurück, locker vom Hocker. Wollte man zu etwas Klartext Zuflucht nehmen, müsste man feststellen, dass die Kurse fallen, weil mehr Anleger verkaufen als kaufen und viele die Flucht ergreifen, um noch zu retten, was zu retten ist. Das Wort Gewinnmitnahme bzw. Gewinnrealisierung wäre nur dann angebracht, wenn jeder Aktienverkauf zwangsläufig mit einem Gewinn, also mit einer positiven Differenz zwischen Ertrag und Aufwand, verbunden wäre. Man muss kein Kostolany-Nachkomme sein, um zu wissen, dass viele Aktien zum kleineren Preis verkauft werden als sie erworben wurden, weil die Prognosen schlecht sind und man den Verlust begrenzen will, etwa mit einer Kursuntergrenze (Stop-Loss-Limit) – es geht also um die Kunst des Aussteigens.
Folglich müsste es auch den Begriff „Verlustmitnahme“ geben, der aber nur in ganz seltenen Fällen auftaucht, höchstens einmal in einem konkreten Fall – wenn man beispielsweise in Bezug auf ein konkursites Unternehmen weiss, dass auf einem bestimmten tiefen Aktienpreis-Niveau keine Gewinne möglich waren und jedes verbale Verdrehungsmanöver durchschaubar wäre.
Zur Börsensprache gehören auch die sogenannten Vorgaben aus den USA, womit die Analytiker und Börsenberichterstatter zugeben, dass die Weltbörsen noch heute hinter dem marodesten Land dieser Erde, den unbeschreiblich tief verschuldeten USA, herlaufen und vom eher früher als später bevorstehenden Dollar-Kollaps keine Vorahnung haben. Das erinnert mich exakt an den Body-Mass-Index (BMI), auf den sich amerikanische Lebensversicherungen 1972 stürzten, um ein Geschäft mit dem Übergewicht zu machen. In den USA, wo Hormonfleisch, Billigfette und Zuckerlawinen einen wesentlichen Teil des Volk aufblähen, mag dieser Geschäftstrick ja noch angehen, aber dass dann die ganze Welt in einen Schlankheitswahn made in USA verfallen musste, um dem BMI zu huldigen, versteht man weniger. Viele Menschen sind mit ein paar Kilo mehr gesünder als ausgehungerte, abgemagerte Knochengerüste. Würde die Theorie stimmen, wonach jedes Kilo Mindergewicht mehr Gesundheit bedeutet, wäre die Hungersnot, unter der angeblich eine Milliarde Menschen leidet, ein Segen, was die Gesundheit anbelangt. Ausgerechnet die Nation, die durch falsche Gefahreneinschätzungen, eine ungebremste Risikofreude und Schlampigkeiten sich selber ruiniert, wurde zum Vorbild, und die noch dümmeren Mitläufer, die sich als Untertanen gebärden, erachten jeden Unsinn und jeden erfundenen Arbeitsmarkt- und Wirtschaftszahlenschmarren als Vorgabe. Das sind die Folgen der in langer Propagandaarbeit konditionierten Reflexe.
Somit hat das Börsengeschehen sehr vieles mit der Wallstreet zu tun, auch was die geistigen Mauern anbelangt. Die NZZ-Online berichtete zum Wochenstart vom 27.02.2012 in der abgedroschenen, gedankenlosen Mainstream-Ausdrucksweise: „Negative Vorgaben aus den USA und anhaltende Sorgen um Europa dürften den Handelsstart der wichtigsten europäischen Börsen am Montag belasten.“ Das Geschehen in Asien bleibt in diesen Geisteswelten meistens ausgespart.
Neben dem Nachvollzug der US-Vorgaben gibt es auch konkrete Einmischungen von drüben. So erfrecht sich die USA-Führung, den Europäern zu befehlen, die Unsummen für die diversen sogenannten EU-Rettungsschirme (ESM, EFSF) zu erhöhen (so der US-Finanzminister Timothy Geithner am G20-Treffen in Mexiko); es sei eine „starke und glaubhafte Brandschutzmauer zu errichten“. Ausgerechnet die USA, die die ganze Welt bestehlen müssen, um ihre ständigen Kriege finanzieren zu können, erscheinen als Ratgeber auf fernen Kontinenten – ein Land mit einer Weltwährung, die nur noch ein Schatten dessen ist, was sie einmal war und die dem Schuldenexport diente. Die Brandschutzmauern sind längst eingestürzt. Die US-Glaubwürdigkeit ist unvermindert übergross ... und die Knechte und Zudiener machen dennoch unverdrossen mit, um Strafaktionen zu entgehen. So können die USA-Finanzmanager ihre Gewinne mitnehmen.
Herr Kostolany vertrat die Ansicht, es komme nicht auf die Ereignisse an, sondern ausschliesslich auf die Reaktion des Publikums darauf. Ja, wenn man den irritierten Massen weismachen kann, auch Verluste seien Gewinnmitnahmen, dann ist das wenigstens erheiternd.
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