Textatelier
BLOG vom: 24.03.2012

Im Urwald der indischen Region Coorg: Naturverbundenheit

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein, zurzeit in Bangalore, Indien
 
Parallel zur Ost- und zur Westküstenlinie in Südindien verlaufen Gebirgszüge, die Ghats. Der Weg von Bangalore nach Mangalore an der Westküste des Arabischen Meers führt über die West Ghats. Dort sind die Berge bis etwa 1600 m hoch. Die Region ist unter dem Namen Coorg (ausgesprochen: „Kurg“) bekannt. Mein Ziel war der kleine Ort Madikeri.
 
In diesem Gebiet gibt es Kaffeeplantagen. Ausserdem werden Gewürze wie Kardamom angebaut; es wachsen Bananen, Zitrusfrüchte, Paprika und natürlich auch Kokosnüsse. Das Klima ist durch die Höhe gemässigter und nicht so heiss wie in Bangalore.
 
Man kann sogenannte Trekkingtouren unternehmen, also Wandertouren mit einem Führer. Sie führen durch kleine Dörfer, auf die Berge und durch die Plantagen. Mir wurden bei den beiden Touren, die ich unternommen habe, wild wachsende Äpfel gezeigt, weich, innen ganz weiss und klebrig, und nach dem Genuss blieb der klebrige Geschmack noch lange im Mund und an den Lippen. Die Kaffeefrüchte sahen aus wie etwas grössere Kirschen in den Farben von Grün bis Rot. Der Wanderführer fand Waldfrüchte, die in unseren Breiten unbekannt sind, manchmal süss, manchmal herb schmeckend. Ich habe Vögel gesehen, wie den Coorg-Adler, ein grosser, schwarzer Vogel mit Hakenschnabel, ebenso andere Vögel, einer mit einem langen schwarzen Schwanz, Vögel, die man nicht zu Gesicht bekam, die ein Geräusch ähnlich wie jenes des Kuckucks ausstossen. Ein Hirsch, der „Barking deer“ genannt wird, da er bellende Geräusche macht, sprang schnell ins Dickicht. Eine hellgrüne Schlange hing im Baum, sie ist ungiftig, und der Wanderführer hielt sie solange am Schwanz fest, bis sie ihren Kopf in meine Richtung drehte und zu mir hinüber schaute, wie verwundert.
 
Neben der Strasse gibt es einen kleinen Dorffriedhof, 3 fast nicht erkennbare unscheinbare Gräber und ein steinernes Grabmal, bunt angemalt. Es war erst vor kurzem errichtet worden, das Sterbedatum auf der Grabtafel weist darauf hin. Der Wanderführer erläuterte, dass dort die Einäscherung stattgefunden habe und die Asche vergraben wurde; diese Familie hatte wohl mehr Geld als diejenigen, zu denen die anderen Gräber gehören. Der Weg führt an kleinen Hindutempeln vorbei, die Ungläubige nicht betreten dürfen.
 
Man kommt nach einer längeren Wanderung zu einem mehrere Hektar grossen Gebiet, das Sacred Ground, Heiliges Land, genannt wird. Es wird durch einen Stacheldrahtzaun von der kleinen Strasse abgegrenzt. Ist dieser überwunden, befindet man sich im Urwald oder Dschungel, wie er hier genannt wird, ein waldiges Gebiet, das nicht bewirtschaftet wird, ausser dass hier die Dörfler ab und zu ihren Holzbedarf für das Kochen und Heizen befriedigen. Wir haben einen Baum entdeckt, dessen kreisrunde Öffnung durch ein Stück Holz etwas abgedichtet worden war. Hinter dieser Öffnung befindet sich ein Bienenvolk, und die Dorfbewohner holen sich ab und zu die Waben mit Honig heraus. Das aber sind schon die einzigen Zeichen menschlicher Tätigkeit in diesem Gebiet. Es ist hügelig; man läuft auf einem weichen Laubboden. Manchmal sackte ich tief darin ein, denn die kleinen Löcher sind nicht erkennbar. Im Tal ist es neben einem kleinen Bachlauf mit Steinen sumpfig. Zwischen den Bäumen wachsen Sträucher und Farnkraut, das viel grösser ist als jenes in Europa. Die Bäume sind oft riesengross und mehrere hundert Jahre alt. Die Wurzeln sehen wie lange, dicke, schwarze, zusammengefaltete Zeitungen aus, bei denen der Falz einen halben Meter aus dem Boden ragt. Es gibt Bäume mit einer Musterung, wie sie von Uniformen bekannt sind. Soldaten könnten sich davor oder dahinter mühelos verstecken. Einige Bäume sind abgebrochen, halb vermodert und bemoost; die Höhlung dient als Unterkunft für Tiere. An den meisten Bäumen schlängeln sich dünne Lianen empor, manchmal mit Widerhaken, die aussehen wie Militärstacheldraht, andere wieder mit Dornen. Die Lianen schlingen sich durch die Luft, von einem Baum zum anderen, und sie hinderten mich daran, weiterzugehen. Dabei musste ich vorsichtig sein, um meine Haut nicht aufzuritzen.
 
Ab und an sieht man zwischen Baumgabelungen schwarze, ballonartige Gebilde, kunstvoll eingefügt: die Kinderstuben der Termiten. Ich entdeckte eine Verwachsung an einem Baum, die aussieht wie das grosse Gesicht eines Löwen, sodann verschlungene Äste, die an eine Python erinnern, die im Baum hängt, dann ein Ast, der bogenartig gewachsen ist und dadurch ein Auge bildet, durch das das Tageslicht scheint. Die Stille wurde nur durch Geräusche von Wildtauben und anderen Vögeln unterbrochen. Die Luft war feuchtwarm, die Sonne drang nur ab und zu durch die Baumkronen. Es raschelte im Laub, zu sehen aber war nichts. Der Wanderführer zeigte auf Adlernester hoch in den Bäumen, fand immer wieder eine Waldfrucht, die man essen kann. Er wies auf einen Strauch hin, dessen Berührung zu einer Nervenkrankheit führen kann, oder auf grüne giftige Pflanzen, die man nicht anfassen sollte.
 
Es soll in diesem Gebiet sogar Tiger geben. Wir fanden aber weder einen Nachweis noch Spuren. Die Knospe einer Waldblume hatte die Form und die Farbe eines kleinen Herzens, ein golden leuchtender geflochtener kleiner Strumpf war einst der Kokon für einen Schmetterling. Baumnüsse in der Grösse von Haselnüssen, aber ganz rund, einmal rot leuchtend, dann wieder grün oder schwarz, lagen auf dem Waldbogen oder fielen von den Bäumen.
 
Der Weg war beschwerlich, auf und ab. Für mich war nur selten ein Pfad erkennbar, den der Wanderführer schon lange verfolgte. Es ging kilometerweit durch diesen Urwald, ein unbeschreibliches Gefühl der Verbundenheit mit der Natur stellte sich ein.
 
Dann verliessen wir den Urwald und wanderten steil auf einen Berg mit einer unglaublich schönen Aussicht auf die Wälder mit vielfältig grün leuchtenden Farben in den Tälern und auf den Bergen, soweit das Auge blicken kann.
 
Unten im Tal kehrten wir in einem Dorf in ein kleines Bauernhaus ein, und die Frau des Hauses bereitete uns ein einfaches, aber herrlich schmeckendes indisches Mahl zu, zu dem ein Glas selbst gepresster Zitronensaft angeboten wurde. Man erzählte uns, dass es in den Wintermonaten auch einmal sehr kalt werden kann, und dass das Haus schon über 100 Jahre alt sei. Hinein kommt man über eine Stufe und eine offene Terrasse, die rechts und links durch Türen begrenzt ist.
 
Die einkehrenden Fremden durften früher nicht in die Stube und mussten sich draussen oder in diesen Räumen aufhalten oder auch dort schlafen. Oben an den Wänden hängen schwarzweisse, vergilbte Bilder der Vorfahren und Grosseltern, als ob sie auf das Geschehen herunter schauten – inmitten ihrer Familie. Eine Katze strich zwischen unsere Beine. Das verschiedenartige Gebell des Hundes zeigte den Bewohnern an, ob Fremde kommen oder Dorfbewohner oder die Familie.
 
Ich spürte trotz der ärmlichen Ausstattung des Hauses Zufriedenheit und Harmonie und blickte in das freundliche Gesicht unserer Gastgeberin.
 
Hinweis auf einen weiteren Indien-Bericht von Richard Gerd Bernardy
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