Textatelier
BLOG vom: 15.04.2012

Frühling in Zürich: Sechseläuten, mit dem Böögg gefeiert

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
 
Der Böögg ist ein Schneemann aus Watte, der den Winter symbolisiert. Er gehört zum Frühlingsfest der Zürcher. Das Fest selbst trägt den Namen Sechseläuten. Und dieser weist auf eine Ordnung aus dem Mittelalter hin. Damals wurde auch eine Sommerzeit bestimmt. Läutete die Feierabendglocke bis dahin um 5 Uhr abends, wurde sie nach der Tag- und Nachtgleiche auf 6 Uhr abends verschoben.
 
Zu dieser Zeit werden die Tage länger und heller. Es wurde damals möglich und erlaubt, 1 Stunde länger zu arbeiten und Geschäfte zu betreiben. Und die Stadttore werden wohl um diese eine Stunde länger offen gewesen sein.
 
Die Freude am wiederkehrenden Licht und der wieder erwachten Natur liegt unserem Fest auch heute noch zugrunde. Wir feiern es mit vielen Blumen, wehenden Fahnen, Umzügen, Blasmusik und heiter gestimmtem Publikum. Am Sonntag sind die Kinder unterwegs. In historische Gewänder gekleidet, stellt ihr Umzug ein Stück Geschichte dar. Und gleichzeitig ist er Begleitung für den Böögg, der in die Stadt geführt wird.
 
Früher waren die Zünfte Handwerker-Vereinigungen. Sie gehörten zur Stadtregierung. Heute haben sie nur noch gesellschaftliche Funktionen. Sie organisieren das Sechseläuten. Am Montag führen sie uns in historischen Kostümen, vielfach hoch zu Ross, ebenfalls in die Vergangenheit. Im Umzug gehen auch Gäste mit. Auf diesem Weg wird ihnen applaudiert und es werden ihnen Blumen zugeworfen. Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport und Militär und die Zünfter selber geniessen diesen fröhlichen Beifall. Da wird dann sichtbar, wie beliebt man ist.
 
Und schlussendlich begleiten alle – auch die Zuschauer – den Böögg aufs Schafott, wo er Punkt 6 Uhr, während dem Sechs-Uhr-Läuten der Kirchenglocken (Sechseläuten), angezündet wird. In seinem Innern sind Petarden versteckt, die das Feuer dann zum Krachen bringen. Das sind jeweils sehr emotionale Momente, die Feststimmung auf dem Höhepunkt. Der Winter ist dann vorbei, wenn der Kopf zerfetzt oder verbrannt ist.
 
Unsere Töchter konnten mehrmals am Kinderumzug teilnehmen. Und heuer gehören unsere Enkelkinder zu den Gästen am Strassenrand. Wir werden also, wie früher, mit all unseren Emotionen dabei sein.
 
Letizia, unsere in Zürich lebende Tochter, beschreibt anschliessend ihre Erinnerungen und ihre Einstellung zu diesem Fest:
 
Damals ... unvergesslich
„Das Sechseläuten-Wochenende ist mir heilig. Nie wieder möchte ich das Zürcher Frühlingsfest fernab der Heimat verbringen. Vor bald 20 Jahren weilte ich an einem solchen Tag am Hafen von Québec City, traurig und voller Heimweh, während meine Liebsten am Zürcher Bellevue dem grossen Knall entgegen fieberten. Nie mehr! schwor ich damals, schlotternd im Wind. Nie wieder!
 
Meine ältesten Erinnerungen ans Sechseläuten zeigen mich auf den Schultern meines Vaters. Um halb 6 Uhr bei Teppich Forster! Noch immer gilt dieser Treff- und Zeitpunkt, auch wenn es dieses Teppichgeschäft an der Seefeldstrasse nicht mehr gibt. Hier trifft sich die Familie jedesmal, wenn wir aus verschiedenen Himmelsrichtungen zusammen kommen. Als Kleinkind auf den Schultern von Papi schlängelten wir dann zielstrebig durch die Menschenmenge. Wir hatten unseren Stammplatz, wo die Zünfter ihre Pferde einstellten. Da gab es Absperrgitter, und genau hinter diesen Gittern verfolgten wir über Jahre das Krachen der Böller, bis der Böögg zerbarst. Ja, als kleines Mädchen hatte ich Angst, denn nicht nur die Schallwelle des finalen Böllers drückt jeweils auf die Brust und lässt diese erschüttern, nein, jeder einzelne Knall geht durch Mark und Bein. Auf Papis Schultern war ich sicher, hatte die beste Aussicht und genoss jede Sekunde in vollen Zügen.
 
Die Reiter, die hoch zu Pferd um den lodernd brennenden Holzstoss reiten, die bunten historischen Kostüme und, nicht zu vergessen, die Musik haben für mich bis heute nichts an Faszination eingebüsst. Man erzählt sich schmunzelnd, dass ich schon als kleines Kind wie ein General im Schritt der Marschmusik durch die Strassen stolziert sei.
 
Wir sind keine Zünfter-Familie. So sind wir am Sächsilüüte-Mäntig (Sechseläuten-Montag) „nur“ Zuschauer. Auch wenn viele meiner Zeitgenossen die Nase rümpfen und abschätzig lästern, dass sie den Reichen ganz sicher nicht zuklatschen würden, kann man mir die einzigartige Atmosphäre an diesem Wochenende nicht madig machen.
 
Der Tag, an welchem meine Mutter beschloss, meine ältere Schwester und ein paar Nachbarskinder für den Kinderumzug am Sechseläuten-Sonntag anzumelden, müssten wir eigentlich zu einem Feiertag erklären. „Danke Mami, es war eine grossartige Idee!“
 
In meinem Fotoalbum gibt es ein Bild, datiert mit 1975, welches meine Schwester als Chinesin zeigt. Sie durfte in der Gruppe Fremde Völker am Umzug teilnehmen. Ich war damals noch zu klein, aber ich bewunderte die grossen Kinder sehr. Die einzige bleibende Erinnerung von damals ist, dass meine Schwester kaugummikauend an uns vorbeizog und meine Eltern darüber verständnislos den Kopf schüttelten.
 
3 Jahre später war die Zeit endlich reif, und auch ich durfte am Kinderumzug teilnehmen. Aus der Verwandtschaft väterlicherseits konnte meine Mutter echte Hallauer Trachten ausleihen. Ich platzte fast vor Stolz, denn als einzige durfte ich den silbernen Familienschmuck meiner Verwandten tragen. Die Vorfreude war gross und die Angst, das Wetter könnte uns einen Strich durch die Rechnung machen, riesig. Der Umzug wurde nur bei schönem Wetter durchgeführt. Wenn der Turm von Sankt Peter am Sonntagmorgen beflaggt war, hiess dieses Zeichen, der Umzug werde durchgeführt. Es gab auch eine Telefonnummer, unter welcher man erfahren konnte, ob der Anlass stattfinde. Wenn dann die Stimme ab Band verkündete: Zürich, Sechseläuten Kinderumzug: Der Umzug wird durchgeführt, wurde aus der kribbeligen Vorfreude eine unglaubliche Nervosität. Wahrscheinlich sprang ich dann in jenem Moment jubelnd durchs Wohnzimmer. Nur ein kleines Detail schmälerte damals meine Riesenfreude. Mami verlangte, dass ich unter die puffärmlige Leinenbluse einen wollenen Pullover anziehe. Auf der Waid (Aussichtspunkt oberhalb Zürich-Wipkingen) lag Schnee. Ich war entsetzt. Das Betteln, Jammern und Klönen nützten nichts. Mami war nicht weichzukochen. Es war erst April und manchmal nur ein paar Grad über Null. Auch an der Strumpfhose kam ich nicht vorbei.
 
Ein paar Jahre später waren wir zu sechst, als wir uns im Kostümfundus des Zentralkomitees der Zürcher Zünfte einkleiden liessen. Wir Mädchen waren uns im Vorfeld einig, es müssten Rokoko- oder Biedermeierkleider sein. Mit diesem Wunsch waren wir nicht alleine. Jedes Mädchen träumte von einem märchenhaften Kleid mit Reifrock. Man zeigte uns die weniger glamourösen Kostüme der Herrliberger Marktfahrer und so verwandelten wir uns rasch in eine fröhliche Marktfahrer-Gruppe.
 
Beim Einstehen vor dem Umzug überreichten uns die Verantwortlichen grosse Weidenkörbe gefüllt mit frischem Gemüse und Salaten und instruierten uns: Bringt die Körbe leer zurück. Ihr dürft alles an die Zuschauer verschenken. Zu zweit trugen wir die grossen Körbe durch die Zürcher Innenstadt. Und gegen Ende der Umzugsroute verteilten wir Kopfsalate an Verkehrspolizisten, Radieschen an Securitas-Beamte und Rüebli an versteinert guckende ältere Herren. Das war vielleicht ein Spass.
 
Und so überfällt mich am Sächsilüüte-Sunntig noch heute Gänsehaut, wenn ich ein Kind mit „meinem“ Kostüm an mir vorbeiziehen sehe. Während des gesamten Umzuges ist mir flau und ich wünsche, er würde nie enden. Doch wenn der Böögg von einem Pferdegespann gezogen an mir vorbei fährt, dann vertröste ich mich einfach mit der Vorfreude auf das nächste Sächsilüüte im kommenden Jahr."
 
Letizia Lorenzetti
 
Hinweise
Sechseläuten-Sonntag, 15. April 2012:
Kinderumzug ab Sechseläutenwiese
Start beim Bellevue um 14 30 Uhr.
 
Sechseläuten-Montag, 16. April 2012:
Zug der Zünfte zum Feuer
Start ab Bahnhofstrasse mit Kontermarsch um 15 Uhr.
 
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