BLOG vom: 01.05.2012
Die Hektik und der Friede im Zusammensein mit Kindern
Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
Es widerstrebte mir, mit den Enkelinnen in der Stadt Zürich herumzukurven. Da würden sie ohnehin von der dort herrschenden Betriebsamkeit und der daraus resultierenden Hektik erfasst und mir nicht mehr folgen.
Wir erlebten es beispielsweise, wenn wir mit ihnen das Tram, den Bus oder die S-Bahn benützen mussten. Da wurde das Gehorchen ausgetrickst. Angetrieben von einer Art Wettstreit, eroberten sie sich Sitzplätze, um sie sogleich wieder zu verlassen, um noch bessere zu ergattern. Primo verglich die Kinder mit auf Waldästen turnenden Gibbonaffen. Rücksichtslos und vor allem wider die Vorgaben der Grosseltern.
Im Wald war das dann anders. Weder auf schmalen noch auf den breiten Wegen kam Hetze auf. Hier gab der natürliche Raum die Themen vor: Ruhe und Frieden und ein Hauch von Ehrfurcht. Und vor allem auch die Möglichkeit, die Kinder einfach loszulassen, ihnen Entdeckungen zu ermöglichen.
Wir strebten einem schönen Spielplatz zu. Ich ging mit ihnen auf ausholenden Wegen, damit die Wanderung lange dauerte. Es gab keine Langeweile. Der Wald liess uns immer wieder staunen. Vom Boden mit dem grünen Moos, den weissen Glöckchen im Klee über die Bäume zum Himmel hin gab es unendlich vieles zu entdecken.
Auf dem vorangegangenen Anmarschweg hatte ich den Kindern erzählt, wie ich als 7-Jährige von einem frechen Bub verfolgt wurde. Ich rannte vor ihm her so schnell ich konnte, stolperte aber auf der Naturstrasse meines Schulweges und fiel hin. Ein spitzer Stein verletzte mich oberhalb eines Knies. Das Blut aus der tiefen Wunde erschreckte sogar auch meine Eltern. Die 4 cm lange Narbe, jetzt 65-jährig, ist immer noch zu sehen. Und sie beeindruckte vor allem Nora. Auf unserer Wanderung wollte sie darum plötzlich einen Stein finden, der ihr erzählen könnte, wie ich verletzt worden bin. Ständig hob sie Steine auf, wollte wissen: War es ein solcher? Und immer fand sie nur abgeschliffene, aus einem Flussbett stammende Kiesel, die niemals Fleisch aufschneiden können. Mit der ihr angeborenen Hartnäckigkeit bückte sie sich erneut, stellte die gleiche Frage, warf den Stein weg und suchte weiter. Und dann fand sie einen, der das Unglück von damals hätte hervorgebracht haben können. Ein Stück Bruchstein mit einer markanten, scharfen Spitze. Lange behielt sie ihn in den Händen, trug ihn mit sich. Gegen Abend beklagte sie sich dann über ihren schweren Rucksack, und ich fand in ihm einige Steine, denen sie die Frage nach dem Unglück gestellt haben musste.
Weil ihre Blicke wegen dieser Steingeschichte hauptsächlich auf den Boden zielten, wurde sie noch auf Hufeisenabdrücke und vor allem auf Pferdeäpfel – wir nennen sie Rosspoppele – aufmerksam. Da begann ein Spiel. Mena schlug vor, alle Rosspoppele-Haufen zu zählen. Am Ende unseres Wanderwegs sollten dann die Resultate verglichen werden. Alte, also schon lange hier liegende, zertretene oder überfahrene Haufen konnten leicht übersehen werden. Aufmerksamkeit war auch da wieder gefragt. Und so verging die Zeit des Wanderns, und wir kamen auf dem Spielplatz an.
Am Sonntag zuvor war es hier noch ungemütlich gewesen. Der Regen hatte den Erdboden zu Matsch werden lassen, und die Rutschbahn war klebrig. Heute hatten wir Stofflappen bei uns. Auf ihnen rutschten die Mädchen einige Male hinunter, trockneten und polierten die Bahn, und bald einmal war sie von mehreren Kindern bevölkert. Ich sass eine Stunde lang in ihrer Nähe und freute mich über den Frieden, der auch von dieser Rutschbahn ausging. Mena war die Älteste, und obwohl sie nichts dirigierte, richteten sich kleinere Kinder nach ihr aus. Ihre Rutschvarianten wurden nachgeahmt oder noch ausgereizt. Ein Bub aus Äthiopien wurde zum fröhlichen Clown, und ein scheues Mädchen, das anfänglich nur quer in die Bahn sass und alle stoppte, getraute sich nach und nach die Lust zuzulassen, die bis dahin ausser ihr alle anwesenden Kinder angetrieben hatte. Hier erstaunte mich, wie meine Enkelinnen Mena und Nora ihre Unruhe und das gibbonartige Verhalten verloren hatten und die Freude am Spiel mit allen teilten. Hier war der Friede des Walds am Werk, folgerte ich.
Tage später, als unsere Enkelkinder schon wieder nach Paris zurückgekehrt waren, spazierten Primo und ich durch den Wald hinter dem Kloster Fahr AG zu den jetzt wieder zugedeckten Kiesgruben hin. Wir schauten ins Land und vor allem zu den Alpen hin. Dank Föhn zeigten sie sich uns sehr nahe. Auf dem Rückweg zeigte Primo auf eine grosse Richtstrahlantenne (um den Verkehr im Gubrist zu kontrollieren), und er sagte, es wundere ihn, dass generell nicht mehr über ihre Einflüsse gesprochen werde. Als diese neu gebaut wurden, gab es viele Bedenken wegen der elektromagnetischen Strahlungen, auch offensichtliche gesundheitliche Belastungen. In unserem Bekanntenkreis wurde eine sensible Musikerin sehr krank und konnte nur gesunden, weil sie ihr damaliges Heim verliess und sich an einem weniger belasteten Ort niederliess.
Und jetzt frage ich mich, gerade nach dem 2-wöchigen Zusammensein mit den Enkelinnen, ob das immer mehr verdichtete energetische Gewebe die grosse Unruhe in den Menschen hervorgebracht habe, die für mich nicht mehr normal ist. Meine Generation hat viel geleistet, viel gearbeitet, aber doch auch die entspannende Ruhe gekannt. Heute ist die Unruhe übergross. Man reizt alles aus, was nur möglich ist. Beschaulichkeit ist ein fremder Begriff geworden. Es wird gerannt, gehetzt, alle Möglichkeiten ausgereizt, auch der Mensch von heute. Darum gehen vielleicht auch manche Ehen in Brüche.
*
Auf unserem Heimweg, wir waren insgesamt über 3 Stunden unterwegs, sangen wir den französischsprachigen Kinderreim:
Un kilomètre à pied, ça use, ça useun kilomètre à pied, ça use nos souliers.
Der sinngemässe Inhalt des Lieds: Ein Kilometer zu Fuss, verbraucht unsere Schuhe (nützt die Schuhe ab).
Da waren wir die müden Kumpels, denen ein Lied half, durchzuhalten, fröhlich zu bleiben und gut aufzupassen, dass sich die Zahl der Strophe übereinstimmend ändere. (Ein Kilometer zu Fuss, dann 2 Kilometer zu Fuss usw.)
Im Internet singt auf YouTube ein Frosch dieses Lied, und zu meiner Überraschung gehört es auch in die schweizerische Kinderliedsammlung (www.falleri.ch).
Mena hat es mir beigebracht.
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