BLOG vom: 10.05.2012
Hinschied von Walter Roderer: Die Lücke im Komödienstadel
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Soviel konzentrierte Publizität wurde dem Schweizer Volksschauspieler Walter Roderer wohl selten aufs Mal zuteil wie am Tag nach seinem Tod in Illnau-Effretikon ZH; er starb in der Nacht zum 08.05.2012 im 91. Lebensjahr. Roderer hatte in letzter Zeit zunehmend Mühe mit der seiner angenehm temperierten Stimme, die immer leiser wurde – und mit dem Gehen. Die Medien holten nach seinem Hinschied besonders grosse Buchstaben hervor, und das Schweizer Fernsehen DRS stellte gar sein Abendprogramm um. Offenbar war beim äusserst beliebten nationalen Spassmacher, der das Volk erfreuen, unterhalten, zum Lachen bringen und von seinen Sorgen ablenken wollte, doch nicht so viel rechtsextremistisches Gedankengut vorhanden, wie es der linksextremistische Schriftsteller Niklaus Meienberg am 14.12.1992 in einem Artikel in „Der Spiegel“ unter dem Titel „Schweizer Komödienstadel“ ausgemacht haben wollte.
Der aus St. Gallen stammende, eher scheu wirkende Walter Roderer war keine ausgesprochen politische Natur, enthielt sich in der Regel politischer Stellungnahmen, schon deshalb, um niemanden vor den Kopf zu stossen; sie gehörten nicht zu seinem Repertoire. Stattdessen persiflierte er die Kleinbürgerlichkeit, kleine Leute, die sich mit List durchsetzen, wenn nicht gar obenauf schwingen konnten. Er war der Schweiz, seiner Heimat, herzlich zugetan, ihren Eigenarten und Schönheiten.
Er mimte zum Beispiel den tollpatschigen, pingeligen Buchhalter Nötzli und verkörperte damit den sagenhaften Bünzli mit so viel komödiantischem Talent, dass sich das Publikum die Bäuche hielt. Als es aber 1992 darum ging, die Schweiz in den EWR (Europäischen Wirtschaftsraum, eine Freihandelszone zwischen EU und EFTA) einzuverleiben, mochte er nicht untätig zusehen. Er publizierte einen „Offenen Brief“ als Anzeigenkampagne, worin zu lesen stand: „Wenn Herr René Felber (der Bundespräsident) sagt, er hätte in den EG-Ländern keinen Identitätsverlust feststellen können, so hat er wohl recht. Wer emigriert denn schon nach Portugal, Spanien, Griechenland oder in Zukunft gar nach Polen? Aber in die Schweiz, in das Paradies, von dem sie gehört haben, werden sie strömen, so wie die Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung in Westdeutschland eingeströmt sind ... In 700 Jahren hat sich unsere Demokratie entwickelt. Die Demokratien der EG-Länder sind demgegenüber nur ein paar Jahre alt.“
Meienberg (1940‒1993) empörte sich: „Was ist in diesen sonst leidlich vernünftigen Schweizer gefahren? In welches Vakuum sind Christoph Blocher, Walter Roderer und ähnliche Figuren gestossen?“ Der Historiker und Schriftsteller Meienberg, welcher dem „muffigsten Nationalismus“ einen „frischen Gesellschaftsentwurf“ (im Klartext: die Auflösung der Schweiz und ihre Unterstellung an übergeordnete Organisationen) entgegensetzen wollte, ertrug es nicht, dass ihm dies misslang und schied freiwillig aus dem Leben, weil er sich ganz allgemein auf dieser Erde nicht mehr zurechtfand. Und nachdem seine Gegenspieler in jüngster Zeit in allen Teilen Recht bekommen haben und es mit dieser von einem nicht gewählten Beamtenapparat Europäischen Union (EU) übler herausgekommen ist, als sich auch der grösste Skeptiker 1992 auszumalen gewagt hatte (als Fehlkonstruktion steht sie gerade vor den Zerfall, beflügelt von der gemeinsamen Währung), würde er es sowieso nicht mehr aushalten – diesmal aber auch deshalb, weil er seine Fehlbeurteilung einsehen müsste. Was er als „ideologisches Gebräu“ beurteilt hatte, fiel gewissermassen an den Absender zurück.
Im Kanton Basel-Landschaft verhinderten EWG-Enthusiasten 1992 den Billettverkauf für Theater-Aufführungen von Walter Roderer, so dass diese ausfallen mussten. Er war angeblich sogar gezwungen, einen Leibwächter zu engagieren, da die Anrempelungen bedrohlich wurden.
Wer in der Schweiz auf einem kulturellen Gebiet Karriere machen möchte, muss linkstrendig sein, Meinungsfreiheit hin oder her; die Regel wird höchstens aus Quotengründen durchbrochen. Einige wenige Schriftsteller und andere Kulturträger haben das geschafft. Und Roderer seinerseits hatte sich durch Leistung und Talent genügend Bekanntheit erworben, dass er trotz seiner SVP-Lastigkeit, die bei der Globalisierungsverblödung schon fast als kriminell gilt, dem Publikum als Mediensubjekt erhalten blieb, selbst nachdem er sich 1993 von der aktiven Schauspielerei verabschiedet hatte (seit 1957 hatte er sein eigenes Tourneetheater). Aufmerksamkeit erreichte 2005 seine heimliche 3. Heirat mit seiner um 60 Jahre jüngeren Grossnichte Anina Stancu (aus fiskalischen Gründen, wie er selber sagte), mit der aber nicht zusammenlebte, nachdem seine beiden ersten Frauen an Krebs gestorben waren, und seine Mitteilung, er sei der Sterbehilfeorganisation „Exit“ beigetreten.
Meienberg würde wohl von einem Rührstück im Komödienstadel schreiben. Und er würde sich wohl insgeheim freuen, dass die Schweiz mit Roderers Abgang ein bisschen „entblochert“ worden ist. Aber zur Bewahrung seiner Treue zur zerfallenden EU als US-Filiale müsste er schon tief in die Requisitenkiste greifen.
Niklaus Meienberg und Walter Roderer mögen in Frieden ruhen, wenn auch ausserhalb einer gemeinsamen Urne, wie man sie sonst in der Schweiz für Abstimmungen braucht, sondern gesinnungsmässig und geografisch getrennt.
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