Textatelier
BLOG vom: 08.06.2012

Slow-Food-DV in Appenzell: Verein, Idee und Organisation

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Slow Food und Appenzell Innerrhoden. Das passt zusammen. Es ist eine Reduktion aufs Grundsätzliche, Wesentliche, traditionell Gewachsene, Unverfälschte.
 
In jenem Appenzell, Hauptstadt des Halbkantons Innerrhoden, trafen sich am 02.06.2012 die Delegierten der Slow-Food-Vereinigung Schweiz (www.slowfood.ch). Rund 70 Personen versammelten sich in der Ziegelhütte, heute ein angenehm zuwege gemachtes Kulturhaus in der Nähe und etwas oberhalb des ordentlichen Bahnhofs. Eine museumswürdige Barriere gewährleistet den Appenzeller Bahnen eine freie Ein- und Ausfahrt, wie es immer war.
 
Im 1. Stockwerk der Ziegelhütte sieht man in eine riesige Mühle mit wuchtigen Zahnrädern hinein. Das Innere nannten die Ziegelhersteller Kollergang, worin der Lehmmasse noch Wasser oder Ziegelsand, je nach Bedarf, beigemischt wurden. Ein schweres Eisenrad, das sich um die eigene Achse drehte, zermalmte alles, auch Steine und Torfstücke, zu einem einheitlichen Brei, wie er für gute Ziegel nötig war: Die homogene Lehmmasse wurde durch kleine Schlitze in den Bodenplatten in den unteren Auffangteller gedrückt.
 
Appenzeller Stehbuffet
Mit einem Auffangteller und dazu auch gerade noch mit Weingläsern hatten wir uns Delegierte, die zusammen über 3000 Mitglieder vertraten, ausstaffiert, weil von einem Nebenraum jener herrliche Duft ausströmte, den ich noch von meinen Ostschweizer Jugendjahren von heissen Appenzeller Schübligen mit eingebauten und nicht homogenisierten Speckwürfeln kenne. In dieser Welt verheissungsvoller Düfte waren auch die würzigen Käsearomen auszumachen, bis hin zum Rässen, an Duft- und Geschmacksintensität nicht zu übertreffen. Appenzeller Salami, Mostbröckli, in Trockensalz und einer geheimen Gewürzmischung gereift und geräuchert, Pantli, diese viereckige Trockenwurst, und Chäsflade, ein luftiger Brotteig mit etwas eingebautem Käse, Süssspeisen wie der Schlorziflade und „Prennti Grem“ (gebrannte Crème) sowie Biberfladen waren in schöner Präsentation vorhanden. Die Slow-Fooder assen langsam, bedächtig und genossen auch den Sylvaner aus Wienacht-Tobel AR, an sonniger Lage hoch über dem Bodensee in den Monaten vor Weihnachten entstanden, wo die Firma Lutz Weinbau den Dreh, wie man zu delikaten, rechtschaffenen, festlichen Weinen kommt, eindeutig herausgefunden hat. Die Appenzeller vermarkten auch ihr Quellwasser aus Gontenbad AI geschickt, und das Locher-Bier (wie „Quöllfrisch“) ist ein Begriff.
 
Nach Appenzeller Art
Solcherart gestärkt liess man sich vom Landeshauptmann Lorenz Koller, dem Vorsteher des Land- und Forstwirtschaftsdepartements, und Grossrat Ruedi Ulmann, Vertreter von Appenzell Tourismus AI, beide mit der standesüblichen Bodenhaftung gesegnet, über das Innenleben des Kantons Innerrhoden und der Appenzeller orientieren. Sie kommen ohne Autobahn und ohne SBB-Anschluss aus (haben dafür ihre massgeschneiderten Appenzellbahnen), kennen keine bettelnden Parkuhren und wollen also keine Parkgebühren, dulden keine Fast-Food-Ketten, bestenfalls eine Imbissbude im Kleinformat, rennen nicht jedem Marketinggag hinterher. Ihnen musste man das Frauenstimmrecht aufzwingen; sie führten es widerwillig als letzte unter den Schweizer Kantonen ein; dafür waren sie die Ersten bei der Frühenglisch-Ausbildung der Kinder. Man sieht es ihnen nach.
 
Die Appenzeller tragen zum Überlieferten Sorge, gerade auch zu den Appenzellerziegen, aus deren Milch früher die Kurmolke entstand, in der man badend Heilung fand. Die „Geiss“ gehört zu den gefährdeten Rassen. Ihr Gesamtbestand noch macht schweizweit etwa 3500 Exemplare (wovon etwa 640 in Innerrhoden) aus. Der Schweizer Appenzellerziegen-Bestand liegt also in der Grössenordnung der Zahl der Slow-Food-Mitglieder, ist sogar noch etwas höher. Aufgrund dieses Vergleichs drängt sich die Frage gebieterisch auf, weshalb wohl die SF-Mitglieder nicht unter den Artenschutz von Spezie rara gerieten. Keine Panik, sie vermehren sich langsam (slow), ohne dabei zu einer nennenswerten Bedrohung der Übermacht von Fast-Foodern (Schnellfressern) zu werden.
 
Den etwas abrupten Übergang von den weissen Appenzellerziegen zu den weisen SF-Delegierten möge man mir nachsehen.
 
Der Bekanntheitsgrad von Slow Food vermehrfachte sich in den vergangenen Jahren, was auch in Bezug auf die von dieser Vereinigung zertifizierten Produkte (Presidi genannt) zu sagen ist. Die delikaten Lebensmittel stehen nicht allein im Dienste der Ernährung, sondern es sind auch Überlebenshilfen für Kleinbauern und -gewerbler, die noch altes kulinarisches Kulturgut erhalten helfen und sich so gegen die Vereinheitlichung, gegen die Banalisierung = Globalisierung der Nahrung und der Erde stemmen, eine Herkulesaufgabe.
 
Philosophen und das Essen als Kultur
In den Jahren der Kindheit und des Heranreifens der Slow-Food-Bewegung, bei der Terra Madre (Mutter Erde) kein Fremdwort ist, standen vor allem Persönlichkeiten mit philosophischer Ausrichtung an der Spitze des Geschehens. Sie gingen hin und lehrten alle Völker aus tiefer Überzeugung, dass Esskultur und Geschmacksvielfalt Marksteine am Weg zur Wiederherstellung des irdischen Kulinarik-Paradieses seien, in das nur jener gelangt, der Genuss mit Ethik zu paaren versteht. Die Natur mit ihren Pflanzen, Tieren sowie menschlichen Wesen aller Gattungen und insbesondere das Essen müssen ihre Würde zurückerhalten. Nichts von internationalisierter Abfütterung – ortsangepasst und regional soll die Nahrung sein, genau wie dies in Appenzell der Fall ist. Dann sind die Gaumenfreuden und das gute Gewissen im Preis inbegriffen.
 
Die nicht auf Profit ausgerichtete SF-Organisation (Jahresergebnis 2011: 7863 CHF, bei einem Aufwand von 281 165 CHF) wuchs zu einem stattlichen Verein von weissen Schafen aus der industrialisierten Nahrungsmittelwelt heran, nachdem ernährungs- und verantwortungsbewusste Carlo Petrini den Verein im Juli in Bra (Piemont) gegründet hatte. Er setzte sich für beste, sauber gewachsene Lebensmittel ein und verlangte eine angemessene Entschädigung der Produzenten. Die Slow-Food-Bewegung verbreitete sich bald weltweit, und es gibt heute etwa 100 000 Mitglieder in 50 Ländern, die sich mit Leib und Seele der öno-gastronomischen Freuden und Leiden annehmen. Grossverteiler wie Coop Schweiz unterstützen solche Bestrebungen der Entschleunigung des Essens, die hin zum wahren Genuss bei gutem Gewissen führt.
 
Formalitäten
Wenn aber eine Organisation wächst und die Mitgliederzahlen in die Tausende gehen, braucht es irgendwann professionelle Verwaltungsstrukturen. Zwar fanden und finden sich immer wieder Leute, die solche Aufgaben zum Wohle des Ganzen selbstlos übernehmen, doch die Organisation als Ganzes muss halt ebenfalls straff und übersichtlich sein. Kein Meisterkoch wird die besten Speisen anrichten und sie dann in chaotischer Präsentation den Gast vorsetzen. Und die nationale Schweizer SF-Organisation steht genau vor dem Problem, klarere Strukturen zu schaffen und Kompetenzen zu beschreiben: Es muss professionalisiert werden, wobei das Herz keinen Schaden nehmen darf. Die Organisation darf nicht das Konzept dominieren, sondern muss ihm dienen.
 
Das Herz der Schweizer Convivien (Sektionen) war bis anhin Rafael Pérez, der während 22 Mitgliedschaftsjahren in verschiedenen Funktionen die grossen Zusammenhänge pflegte und sich weniger um Statutarisch-Formelles und Paragraphen kümmerte (bitte beachten Sie den Lebenslauf im Anhang). Er sagte selber, dass er bei seinem Talent fürs Delegieren eben delegiert habe, von unzähligen Hilfskräften unterstützt wurde und seinen Kopf für grosse, wegweisende Gedanken frei hatte. Er hat seit 2001 immer wieder versucht, einen Nachfolger fürs Präsidentenamt zu finden; aber die Vereinsmitglieder wehrten sich gegen den Verlust einer ihrer Seelen.
 
Jetzt aber war der Zeitpunkt für den Rücktritt da. Bei seinem Abschied als nationaler Präsident in Appenzell sprach Pérez von einer „affektiven Intelligenz“: Wir müssen uns in die Lage von kleinen Produzenten versetzen können, Empathie entwickeln – fühlen und mitfühlen, eine gemässigte Anarchie tolerieren: „Wir sind kein Verein, wir sind eine Idee“.
 
Im persönlichen Gespräch sprach ich mit Rafale Perez mit Bezug zur Politik über das Verschwinden der grossen Staatsmänner. Es werde nur noch auf kurze Zeit hinaus verwaltet, ohne Frage nach dem Sinn, sagte der gebürtige Spanier. Vieles richte sich einfach auf die Wiederwahlen aus. Das Wichtigste sind seiner Ansicht nach der Zweifel, das kritische, hinterfragende Denken.
 
Interimistischer Vorstand
Neben Pérez traten auch der langjährige Geschäftsleiter Giuseppe Domeniconi mit seinem ausgesprochenen Vermittlungstalent, sodann Ursula Hasler – sie konzipierte die gepflegte Zeitschrift „Slow.ch“ – sowie Markus Gehri und Sven Ahlborn aus dem Vorstand zurück. In solchen Fällen müssen normalerweise neue Leute gewählt werden. Doch hatten 8 Convivia einen anderslautenden Antrag eingereicht. Darnach sollte die Präsidentenwahl verschoben werden, bis eine neue Struktur der Vereinsführung mit neuem Aufgabenprofil vorliegen wird. Dementsprechend sollte auch eine vorgesehene Statutenänderung verschoben werden. Mit anderen Worten: Die Versammlung wurde von den Höhenflügen auf dem Boden der Realität heruntergeholt, um die Wachstumskrankheit und -schmerzen zu lindern, zu heilen. Und auf dieser irdischen Ebene soll nun eine Arbeitsgruppe eine „griffige Führungsstruktur (inkl. die Rolle des SF-CH-Präsidenten)“ und ein tragfähiges Vereinsbudget entwerfen. Dies soll zusammen mit der Stiftung Slow Food Schweiz geschehen. Die Delegierten stimmten dem Antrag mit 31 : 12 Stimmen bei 6 Enthaltungen zu.
 
Damit die Geschäfte nahtlos weiterlaufen, übernimmt Andrea Ries, Stiftungspräsidentin und hauptberuflich Advisor für Nachhaltigkeit bei der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), interimistisch das Präsidium, und Pepi Helg aus Aarau wird zwischenzeitlich die Administration und die Finanzen betreuen.
 
Die Mitgliederbeiträge wurden belassen: 120 CHF für Einzel- und 160 CHF für Doppelmitglieder; junge Leute bis 30 Jahre zahlen nur 30 CHF im Jahr, Produzenten 50 CHF. Und erfreulicherweise machen sich die Jungen in der Vereinigung bemerkbar, wie Laura Wüthrich in einer erfrischenden Art mit viel Dynamik erzählte: Im Juli 2011 wurde „Slow Food Youth Schweiz“ mit internationaler Ausstrahlung gegründet, die von der bestehenden Vereinigung in jeder Beziehung unterstützt wird. Die Jungen treffen sich häufig zu Eat-ins (Teilnehmer kochen zu Hause und nehmen die Gerichte zum Treffen mit), bringen Ideen ein und verhelfen der gesamten Organisation zu belebenden Ideen (www.slowfoodyouth.ch). Sie pflegen auch Kontakte mit Schulen, wo Garten- und Sensorikkurse durchgeführt werden sollen.
 
Appenzeller Alpenbitter
Das Tagesprogramm klang mit einem Besuch bei der Firma Appenzeller Alpenbitter an der Weissbadtrasse und einem volkstümlichen Abend auf dem Hohen Hirschberg oberhalb von Appenzell aus (beim „Sammelplatz“ nach Osten abzweigen).
 
Im Alpenbitter-Unternehmen erzählte Regula Forrer die Geschichte des 1902 von Lohnbrenner Emil Ebneter gegründeten Unternehmens – damals wurde alles gebrannt, was sich brennen liess. Und die Bauersfrauen brachten ihre Kräuterrezepte ein. Das führte zur Produktion eines Magenbitters, der den Bauchschmerzen den Garaus machte. Aus dem Magenbitter wurde 1967 der Alpenbitter, der allerdings nicht nur bitter, sonder ziemlich süss ist. Die Rezeptur blieb beinahe immer gleich und umfasste 43 Gewürze und Kräuter. Doch als die Alpenrose 1935 unter Schutz gestellt war, wurde sie ersatzlos aus der Rezeptur gestrichen, die von vielen Geheimnissen umrankt ist. Nur 2 Personen kennen das genau Rezept, das zudem in einem Banksafe hinterlegt ist.
 
Der Alpenbitter entsteht aus 7 Mischungen, die zum Teil destilliert (5) und zum Teil mazeriert (eingelegt und kalt abgepresst) wird. Auch wird ein Enzian aus den Wurzeln des Gelben Enzians aus dem französischen Jura fabriziert (Wasser, Wurzeln und Hefe werden einen Gärprozess ausgesetzt). Wenn man zuviel von dem allem erwischt, heisst es nicht, man sei betrunken, sondern „überkräutert“.
 
Das Unternehmen, das seine Geschäftstätigkeit auch auf Tee, Designergetränke und verschiedene Spirituosen usf. ausgedehnt hat, beschäftigt heute rund 35 Mitarbeiter.
 
Auf dem Hohen Hirschberg
Der annähernd volle Mond beleuchtete das St. Galler Rheintal bis weit ins Vorarlbergische hinaus, als sich die SF-Gesellschaft zu einem urigen Abendessen mit einem gemischten Salat, auf dem der Ziegenkäse nicht fehlen durfte, Appenzeller Siedwurst mit Chäsmageronen (Hörnli ohne Kartoffeln) zu hausgemachtem Apfelmus (Mundart: Epfelmues) und einem abschliessenden Biberfladen-Parfait traf. Das Volksmusik-Trio „Spindle“ spielte mit Geige, Hackbrett und Bass lustvoll und jauchzend , was das Zeug hielt. Die reife, fröhliche Angela Seifert mit der Geige traktierte ihren Bogen derart, dass einzelne Saiten rissen. Und als dann das Talerschwingen im konischen Milchbecken auffallend laut klang, schaute ich den Trick hinter diesem Gefässrasseln genauer an: Der Älpler hatte einen silbernen Fünfliber (Fünffrankenstück, Jahrgang 1933) im Einsatz. Silber macht die bessere Musik als die heute gebräuchliche billige Kupfer-Nickellegierung. Der Anlass wurde vom Convivium Ostschweiz mit Michael Higi mit Geschick und Hingabe ans Detail organisiert.
 
Ich übernachtete im Hotel „Appenzell“ am Landsgemeindeplatz in Appenzell, wurde vom Inhaber Leo Sutter bestens betreut und schlief in dem einfachen, aber mit allem Nötigen ausgestatteten Zimmer wunderbar. Mitten in Appenzell wurde es gegen Mitternacht ruhig – durch offene Fenster zum grossen zentralen Platz drang kein Lärm (Zimmerpreis inkl. Frühstück vom breiten Buffet: 135.- CHF im Einzelzimmer).
 
So sind die Appenzeller in ihrem Lebensstil und auch in ihrer Klangwelt, wie auch bei der Nachtruhe, beim qualitativ Hochwertigen verharrt. Sie dienen als Vorbilder und reiten in fast jeder Beziehung aus der Erfolgsschiene. Sie haben es verdient und werden hoffentlich weiterhin modernen Einflüssen etwas störrisch gegenüberstehen. Dementsprechend verdienen sie es, unter Denkmalschutz gestellt zu werden.
 
Anhang
 
Rafael Pérez zum Abschied vom Slow-Food-Präsidium Schweiz 
Referat von Dr. Jürg Ewald, CH-4424 Arboldswil, früherer SF-CH-Vizepräsident und derzeitiger Präsident des Conviviums Basel (seit 1998), gehalten am 02.06.2012 in Appenzell AI
 
Liebe Freundinnen und Freunde
 
Rafael Pérez hat seine langjährige „Drohung“ nun wahrgemacht: Er ist seit kurzen Momenten nicht mehr Präsident von SF Schweiz. Seine sogenannte Drohung hatte allerdings 2 Effekte – einen positiv anspornenden und einen nachgerade negativ hindernden, denn sein Wahrspruch hatte gelautet: „Ich bleibe, bis Slow Food, bis SF Schweiz 3000 Mitglieder hat". Das hiess, je intensiver wir uns der Mitgliederwerbung widmeten, desto eher würde Rafael das Handtuch werfen; also musste man – wenn man Rafael bei der Stange halten wollte, die Marke 2999 Mitgliedern tunlichst nicht überschreiten. Aber das wäre ja auch gar nicht in seinem Sinne gewesen.
 
Anfangs 2010 stand der Mitgliederzähler bei 2954. Im letzten Jahr wurde die Marke geknackt: im April 2011 lieferte die Statistik die Zahl 3030 – und Rafaels Abgang war damit besiegelt – Zeit also, sein Wirken zu beleuchten.
 
Ich erinnere mich gut an seinen ersten Auftritt im Kreise der Präsidentenkonferenz – es muss 1999 gewesen sein. Ich muss es gestehen – ich dachte: „Der Mann kommt ja nicht zur Sache – er philosophiert über Slow Food, dabei gäbe es dermassen viele Geschäfte ... wie soll das bloss weitergehen?" Ich muss weiter gestehen: Ich habe mich gründlich getäuscht; denn genau das war eine seiner vielen Stärken, das, was wir dann stets zu Recht als sein Charisma verstanden und geschätzt haben. Er war es immer – und ich hoffe, er wird das als gewöhnliches Mitglied auch weiter tun – der uns immer wieder an die Grundsätze „gut – sauber – gerecht“ (nicht „fair“, wofür wir zusammen immer wieder plädiert haben) gemahnt und darauf eingeschworen hat, wenn wir dabei waren, vor lauter Traktanden-Bäumen den Slow-Food-Wald nicht mehr erkennen zu können – eine Erscheinung, die wir auch heute wieder einmal ein wenig miterleben durften ...
 
Auch wenn er es vielleicht nicht so gerne hört: Er wird im Laufe des kommenden Jahrs 2013 eine 7 anstelle der 6 vorne in seiner persönlichen Altersstatistik einsetzen müssen. Aber bereits heute darf man feststellen, dass Rafael schon über ein halbes Jahrhundert in Europa unterwegs war und ist. Seine Kenntnis vieler Länder und Sprachen hat ihm denn auch stets den nötigen Abstand zu den Tagesgeschäften verschafft, und SF Schweiz hat davon viel profitiert.
 
Mit 18 Jahren (anno 1961) schon ist er aus seiner Heimat Spanien ausgewandert. Ja, Spanien war damals – und ist es heute z. T. (leider?) wieder – ein Auswanderungsland. England, Deutschland, Schweden, das waren seine ersten Stationen. Zusammen mit seinem Freund Armando – einem Pianisten – hat er das Zimmer geteilt und sich jeweils die nötigen Sprachen angeeignet. Gearbeitet hat er als Nachtportier, tagsüber sass er an den Universitäten und in den Bibliotheken, werkte aber auch als Schwerarbeiter in der Gelsenkirchener Industrie. Noch war Slow Food nicht angesagt: Man verpflegte sich mit Ravioli – kalt aus der Büchse ...!
 
Dann kam er in die Schweiz. Bei Heer & Compagnie in Olten ging es um Lochbleche. Dann von Olten nach Luzern. Hier bestand er die Aufnahmeprüfung in der Kunstgewerbeschule. Aber statt zum Kunstgewerbe zu wechseln, machte er ein Nachtstudium an der Dolmetscherschule. Daher auch sein perfektes Deutsch, Französisch, Italienisch, Englisch, Schweizerdeutsch – und natürlich Spanisch. Auf einer gemeinsamen Reise durch die Türkei durfte ich seine stupenden Fähigkeiten in der Simultanübersetzung aus nächster Nähe erleben – ein Talent, das ihm auch beim Zusammenführen von SF-Deutschschweiz, Romandie und Ticino am 04.10.2003 – Rafael hat diese Versammlung selbst erwähnt – in der damaligen Brauerei Hürlimann zu Luzern sehr zustatten kam.
 
1968/69 hat er tagsüber Kuckucksuhren und Trachtenfiguren verkauft und nachts weiterstudiert. Er jobbte aber auch im Spanischen Konsulat in Zürich. 1970 folgte der Abschluss der Dolmetscherschule in Luzern, wo er auch seine Brigitte kennenlernte. Er wurde Lehrer an dieser Schule und wirkte als Übersetzer bei der Wirtschaftsabteilung der Bankgesellschaft.
 
1979‒1981 finden wir das Paar wieder zurück in Spanien. Rafael war damals administrativer Leiter der (kommunistischen) Zeitung „Mundo obrero“. Nach 2 Tagen mit Bravour bestandener Aufnahmeprüfung studierte er Wirtschaft in Madrid und schloss den 1. Teil ab. Aber allzu wohl wurde es ihm nicht mehr in seiner ehemaligen Heimat: Beim „Mundo obrero“ hatte er zwar 132 Leute unter sich, aber verlassen konnte er sich nur auf 3 davon – eine Erscheinung, die ihn eindeutig lebenslang bestimmt hat und die auch bei mir persönlich zum Axiom geführt hat: „Brauchen kannst Du nur jene Leute, die ohnehin schon überlastet sind!“
 
Also zurück in die Schweiz. Rafael arbeitete – für uns, die wir ihn als Slowfoodista kennen, schwer vorstellbar – bei einer Versicherung. Schliesslich holte ihn jemand ins Weingeschäft, ursprünglich in die Grappa-Handlung „bello spirito“. Um 1992 macht er daraus die „Vinothek“, die heute von seiner Schwiegertochter geführt wird.
 
Wann genau, wo und wie Rafael zu Slow Food kam, wusste ich bis heute nicht. Er hat es uns gesagt: Vor ganzen 22 Jahren also, 1990, ist er im Piemont zu Slow Food gestossen, und Carlo Petrini hat ihn als „primero miembro detrás de los Alpes“ begrüsst. Natürlich war er am sagenhaften Schweizer Gründungsanlass vom 27.11.1993 auf dem Üetliberg dabei. Und er hatte schon sehr früh Beziehungen zum Condotto Ticino – unserem ältesten Convivium, das ja lange vor der Gründung von SF-Schweiz schon als italienische Exklave existiert hat. Seine persönliche Freundschaft mit unserem – fast möchte ich sagen „Propheten“ – Carlo Petrini hat Manches für Slow Food erleichtert und gefördert. Nachdem er – wie wir heute hörten – am 27.06.2001 Petrini seinen „definitiven Rücktritt“ bekanntgab, hat dieser das schlicht nicht akzeptiert, sondern gesagt: „Pérez hat die Strategie und die Themen von Slow Food wirklich begriffen!" Ja, er ist mit „affektiver Intelligenz“ – ein Begriff, den ich heute zum ersten Mal gehört habe – und mit hoher Empathie ausgestattet, zumal Slow Food stets eine „austera anarchia“, quasi eine "Anarchie in Würde“, vertreten muss.
 
Dürfen wir annehmen, dass die harte Schule mit den kalten Büchsenravioli schliesslich den Gourmet hervorgebracht hat, der weiss, was „schlechtes Essen“ eben bedeutet – nicht nur für den einzelnen Geniesser, sondern – sagen wir es durchaus pathetisch – für die Menschheit als Ganzes, die nur eine einzige Terra Madre zur Verfügung hat?!
 
Im Schnellzugstempo – wobei noch manche Haltestelle ausgelassen wurde – sind wir so durch ein bewegtes Leben geeilt – das Leben eines Mannes, der es gewohnt war (und ist?), sich nicht in einer 35-Stunden-Woche zu sonnen, sondern der nach der Maxime lebte: Der Tag hat 24 Stunden, und wenn das nicht reicht, nimmt man noch die Nacht dazu.
 
Trotz aller Schwierig- und Widrigkeiten, die bei Slow Food nun einmal auch weltweit an der Tagesordnung sind, und die nur da sind, um überwunden zu werden, dürfen wir feststellen, dass Slow Food Schweiz in dem guten Dutzend Jahren Deines Präsidiums, lieber Rafael, seine Mitgliederzahl ziemlich genau verdoppelt, sich von den Fesseln der Slow Promotion befreit, seine Statuten mehrfach erneuert, seine Zeitschrift (Slow.ch) mehrmals verbessert, das Patrimoine culinaire aus der Taufe gehoben, die Arche des Geschmacks kreiert, die Zusammenarbeit mit Coop erfunden und gefestigt und fast 30 Presidi hervorgebracht hat.
 
Es bleibt uns, lieber Rafael, Dir für Dein Wirken herzlich zu danken und Dich zu Brigitte in den weiteren Unruhestand zu entlassen.
 
 
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