BLOG vom: 14.06.2012
Der Hochhamm: Gipfel zwischen Urnäsch und Schönengrund
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
So hoch ist er auch wieder nicht: der Hochhamm mit seinen 1279 Höhenmetern. Doch dieser bewaldete Gipfel im Appenzeller Hinterland bietet eine schöne Aussicht, ganz besonders hinunter nach dem Dorf Schönengrund AR und dem länglichen Weiler Wald-Schönengrund SG, die zusammengewachsen sind. Dieser Hochhamm ist ein Teil der Kette zwischen dem Tal der Urnäsch AR und des Neckers SG.
Einen Teil meiner Jugendjahre habe ich in Wald-Schönengrund (im „Stafel“) verbracht; doch auf den „Hamm“, wie wir die Anhöhe nannten, die wir ständig vor Augen hatten, habe ich es zu jener Zeit nie gebracht. Und das wollte ich am 03.06.2012 nachholen, nachdem ich in Appenzell übernachtet hatte. Kurze, heftige Regengüsse schienen das Vorhaben zu erschweren; doch jedes Wetter hat seinen Reiz, bildet den Rahmen für andere Eindrücke.
Umschau in Urnäsch
Also fuhr ich zuerst einmal nach Urnäsch (830 m ü. M.), wo die Passstrasse zur Schwägalp, am Fusse des Säntis gelegen, beginnt, und ich sammelte bei einem Dorfrundgang einige Eindrücke: ein richtiges hinterwäldlerisches Appenzellerdorf, das am Sonntagmorgen um 9 Uhr noch einen verschlafenen Eindruck machte, obschon die Bauern längst ihren behornten Kühen Milch abgezapft hatten und die Dorfbäckerei bereits frisches Gebäck anbot.
In Urnäsch wird das Brauchtum mit Musik und Trachten noch mit besonderer Inbrunst gelebt und nicht einfach als Touristenattraktion vorgeführt. Ein Brauchtumsmuseum vermittelt das Wissen. Der Alte Silvester (13. Januar) belegt, dass in dieser abgelegenen Talschaft noch mit einer eigenen Zeitrechnung operiert wird. Beim Bahnhof steht eine Skulptur mit versteinerten Silvesterchläusen.
Viele Wanderwege führen hinaus ins Grüne, etwa zum Rossfall, zum Spitzli und zur Hochalp; der Wanderwegweiser auf dem Klosterplatz ist reich bestückt. Landwirtschaftswege lehren, wie ein Bauerntum funktioniert, das noch von überliefertem Wissen zehrt. Viele Gasthäuser bieten die nötige Infrastruktur für Gäste, die hungrig und durstig sind und länger bleiben wollen.
Ich reiste nach Westen zur Schönau auf der Strasse, die zum Weiler Bächli (Gemeinde Hemberg SG) gehört. Die Schönau, 3 km vom Dorf Urnäsch entfernt und immer noch auf Urnäscher Boden, ist von einem ländlichen Restaurant akzentuiert, in dem ich einen Kaffee trank und von Margrit Menet, der mitteilsamen, interessierten und den Charme einer gereiften Frau ausstrahlenden Wirtin, über den Weg zum Hochhamm bestens beraten wurde. Eigentlich wollte ich den Gipfel von hier aus direkt angehen. Doch ich erfuhr, dass der Weg teilweise sehr steil und bei diesem Wetter – es regnete gerade wieder – glitschig sei. Ich folgte ihrem Rat und fuhr zum Punkt 1068 (Osterbüel) hinauf, wo ein kleiner Parkplatz zur Verfügung steht. Die meisten Regenwolken verzogen sich.
Hinauf zum Hochhamm-Gipfel
Beim Parkplatz leitet ein gelber Wegweiser den Hochhamm-Besteiger, der ohne alpinistische Klettertechnik auskommt (gutes Schuhwerk genügt), auf ein zuerst asphaltiertes Landwirtschaftssträsschen, vorbei an einer Pferdeweide und, weiter oben, einem liebevoll geschmückten Bauernhaus mit einer hölzernen Sitzbank („Mis Bänkli“), wobei ich mit dem Schmuck nicht die Siloballen meine. Der steiler werdende Weg ist anschliessend nur noch auf den beiden Fahrspuren befestigt und wird dann vollends zum Naturwanderweg. Bei 2 Ferienhäuschen mit roten Fensterläden, eines mit TV-Satellitenschüssel unter dem konzentrischen Eternit-Schrägdach, kann man durch die Wiese steil aufsteigen oder einen weiter ausholenden und damit bequemeren, breiteren Waldweg benützen. Diese rund halbstündige Wanderung wird von einem ständigen Kuhglockengeläut akustisch begleitet. Und einzelne Rinder haben Hornspangen, eine Abwandlung der menschlichen Zahnspangen, damit die Hörner in der vorgegebenen Form heranwachsen und spiegelbildlich übereinstimmen. Einheitsbehornung hier. Einheitsgebiss dort.
Unterwegs liegt die Nagelfluh stellenweise offen da. Dieses Gesteinskonglomerat hat das schweizerische und süddeutsche Alpenvorland geprägt. Es sieht wie gepresster, mit Sandsteinsand zusammengeleimter Schotter oder Naturbeton aus und stammt aus dem Erdzeitalter Tertiär, das vor 65 Millionen Jahren begann, wenn die Paläohistoriker richtig gezählt haben. Vulkanismus und der Einbruch des mittelländischen Meers schufen zu jener Zeit Faltengebirge, in denen Tourismusfachleute heute einen hohen Nutzwert erkennen.
Der Gasthof Hochhamm (1211 m) ist bald in Sichtweite, ein einfacher, traditioneller Bau mit einer ausladenden, vorgelagerten Terrasse. Der Blick zum Alpsteinmassiv ist grandios. Diesen hatten auch die Kurgäste, die früher in einem beheizbaren Kübel mit Molke badeten, um ihre Beschwerden zu vertreiben; das Relikt ist noch an Ort und Stelle.
Ich nahm des verhältnismässig trockenen Wetters wegen gleich noch den 15-minütigen Aufstieg auf den Gipfel unter die Wanderschuhe. Der Weg am Waldrand, hinter dem Felsen steil abstürzen, senkt sich zuerst etwas, als ob dem Wanderer Gelegenheit gegeben sollte, Anlauf für den schnell ansteigenden, ziemlich geradlinig verlaufenden Weg zum Gipfel zu nehmen. Früher konkurrenzierte eine Sesselbahn die Wanderwege; von ihr ist nichts mehr zu sehen. Sie machte Konkurs und wurde 1992 abgebrochen.
Unterwegs kann man neben den geologischen auch botanische Studien betreiben; die purpurfarbenen Blüten eines Helm-Knabenkrauts waren eben am Verblühen. Oben auf dem Gipfel sind eine Telekommunikationseinrichtung, ein Triangulationspunkt und eine Ruhebank, die mich von all den Möblierungen am meisten interessierte.
Die Landschaft vom Hamm aus
Ich schaute hinunter nach Schönengrund, wo etwa 500 Menschen leben, und zum Weiler Wald, der früher zur Gemeinde St. Peterzell gehörte, die inzwischen in der Gemeinde Neckertal aufgegangen ist. Wahrscheinlich war eine Spur von Wehmut dabei – ein Stück Jugend mit den Schulerlebnissen, dem Mitmachen bei der Musikgesellschaft Schönengrund-Wald und den Schulschätzchen schien dort unten zu ruhen, eine Jugend, die man nicht zurückholen kann und die es nur noch als Erinnerungsfetzen gibt. Ich sah die weich geformte Landschaft mit ihren versammelten und ihren verstreuten Häusern und Bauernhöfen, den umfangreichen Mustern, die dunkle Tannenwälder in die hellgrünen Wiesen zeichnen, wie aus einem stillstehenden Flugzeug, ein Panorama, in dem ich lebte.
Ob man das Panorama aus Distanz lebt oder in ihm verwoben ist, macht einen grossen Unterschied. Im Dorf, in der Landschaft sieht man Bauten, Strassenzüge, Äcker, von Zäunen umfasste Wiesen, Menschen. Man begegnet alledem, könnte es anfassen. Aus der Vogelschau aber ist man entrückt, sieht den grossen Zusammenhang, lehrt Ostschweizer Geografie bis hinunter zum Bodensee, bis hinüber zum Alpstein. Man betrachtet sozusagen eine Panoramakarte im Massstab 1:1. Ich suchte die leicht diesig verschleierte Landschaft nach den bekannten Objekten ab, zu denen neue hinzugekommen sind, fand unser altes Schulhaus im Stafel, die ehemalige Stoffel-Weberei in einem Taleinschnitt, wo mein Vater als Webermeister das Geld für die Ernährung der Familie verdiente. Und daheim schneiderte Mutter Röcke, jede Woche 1 Exemplar. Und wenn ihre Kundinnen an Gewicht zunahmen oder dünner wurden, änderte sie Kleider ab, die Dynamik der verschiedenen Häute in Übereinstimmung bringend.
Das war einmal. Ich stieg zum Restaurant Hochhamm ab, worin bereits einige Gästegruppen Siedwürste, Schüblige und dergleichen Leckereien schälten und zu Thomy-Senf mit Wollust verzehrten, setzte mich an einen Tisch mit Blick zum Säntismassiv, das von Wolken umgarnt wurde. Nach einer ausreichenden Wartezeit näherte sich eine junge Frau vom Buffet her, schaute mich fragend an. „Einen Süssmost, bitte“, bestellte ich. „Schorle heisst das“, belehrte sie mich etwas ungehalten. Offenbar weiss sie nicht, dass Schorle ein verdünnter, „gespritzer“ Süssmost ist, und ich sehe ihr das nach. Ich habe gelernt, dass man Frauen nicht widersprechen darf, besonders, wenn sie schlecht gelaunt sind, weil sie an einem Sonntagmorgen arbeiten müssen. Sie knallte nach 2 Minuten ein Glas mit dem wässrigen, leicht gelblichen Zuckerwasser mit einer Spur von Apfelaroma vor mich hin und beachtete mich in der Folge nicht mehr, selbst als ich zahlen wollte. So begab ich mich an die Theke, und bei einer netten, mittelalterlichen Wirtsfrau fand ich einen Weg, die 3,20 CHF für die 3 dl abzugeben. Ein Trinkgeld schien mir unter solchen Umständen nicht am Platze zu sein.
Für Schönengrund, der „Gemeinde am Hamm“, sind solche Erlebnisse nicht typisch, im Gegenteil. Die Bevölkerung ist herzlich, offen und eigenständig. Die Gemeinde löste sich 1720 von Urnäsch los und wuchs dank eines blühenden Textilgewerbes, als es noch keine nennenswerte ausländische Konkurrenz gab, eine Zeitlang. Das Textilgewerbe begann zunehmend unter der ausländischen Konkurrenz zu leiden.
Via Hemberg SG
Dann stieg ich auf die andere, die Urnäscher Hamm-Seite ab, woher ich gekommen war, ebenfalls ein schön modellierter Grund. Die Fahrt zum Weiler Bächli und dann hinauf über die Rennstrecke nach Hemberg genoss ich bei der bedächtigen Fahrtweise der Sonntagsfahrer. Schnelleren Autos machte ich Platz, liess sie überholen. In Hemberg unternahm ich den kleinen Dorfrundgang, weil die besten Aussichtspunkte auf der Anhöhe mit Blick ins Neckertal in Privatbesitz, überbaut und unzugänglich sind. An der Dreiegglistrasse sprach ich mit der 88-jährigen Irma Fischbacher, die in ihrem Blumen- und Sträuchergarten mit Blick nach Oberhelfenschwil zum Rechten schaute und mir von ihrer beschwerlichen Kindheit und vom Grossen Haus ganz in der Nähe erzählte, das vom Baumwollunternehmer Abraham Brunner (1749‒1820, der „dicke Brunner“ genannt) in Auftrag gegeben worden war. Brunners Verkaufsschlager waren vor allem weisse Halsbinden. In dem 7-geschossigen, breit ausladenden und sparsam verzierten Haus mit Satteldach – die 1. Etage zählt allein an der Hauptfassade 14 Fenster – wuchs eine meiner unvergesslichen Schulkolleginnen, Martha Brunner, auf – wie ist die Welt doch klein, stellten Frau Fischbacher und ich übereinstimmend fest.
Ich kaufte in der Bäckerei Schelling noch einen herrlichen, mit zerkleinerten Nüssen vollgestopften Mandelfisch, der jeden Rauchlachs in den Schatten stellt.
Via Bendel und Ämelsberg reiste ich nach Neu St. Johann, Wattwil und Lichtensteig. Das historische Städtchen am Fusse der Wasserfluh war von Drehorgelmusik erfüllt. An diesem Drehorgeltreffen fand ich eine St. Galler Bratwurst vom Grill mit ihrem wunderbaren Muskatblütenduft und ein Stück Ruchbrot. Damit war mein Ostschweiz-Erlebnis diesmal komplett.
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