BLOG vom: 17.06.2012
Biberstein AG: Knochenarbeiten im Dienste der Demokratie
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Auch steinalte Menschen dürfen in der Demokratie Schweiz mitbestimmen. Im Gegensatz zur Fahrtauglichkeit (Lenken eines Motorfahrzeugs) müssen wir Grufties unsere Entscheidungsfähigkeit im Hinblick auf Abstimmungen und Wahlen nicht alle 2 Jahre ärztlich untersuchen und bescheinigen lassen. Ich habe daran nichts auszusetzen.
Doch wenn man sich als 75 Jahre altes, stimmberechtigtes Occasionsmodell (Oldtimer) über Schulhausbaufragen äussern soll, tauchen unwillkürlich moralische Bedenken auf: Soll man, weit jenseits der produktiven Phase, was die Nachwuchsförderung anbelangt, noch sein Maul in Schul- und Erziehungsfragen hineinhängen? Die Frage tauchte bei mir im Hinblick auf die Bibersteiner Gemeindeversammlung vom 15.06.2012 auf, als es darum ging, über einen Projektierungskredit von 580 000 CHF zu befinden, der auf den Aus- und Neubau eines Schulhauses für 9,135 Mio. CHF hinausläuft. Ich könne ebenso gut daheim bleiben, dachte ich; denn der Projektierung würde dem ohnehin zugestimmt werden. Und das war ja auch sinnvoll. Denn Biberstein als reichste Gemeinde mit dem tiefsten Steuerfuss im Bezirk Aarau weist gottseidank jeden Fusionsgedanken mit einer umliegenden Gemeinde entsetzt von sich, will also selbständig bleiben und hat infolgedessen auch für die entsprechende Bildungsinfrastruktur zu sorgen. Der Kredit wurde mit 153 Ja gegen 2 Nein denn auch bewilligt.
Daran ist auch nichts auszusetzen. Das Schulhaus-„Mehrgenerationenprojekt“ sei das Resultat einer „Abspeckung“, hiess es in der Botschaft des Gemeinderats. Und an der Freiluft-Gemeindeversammlung unter Platanen und einer Linde wurde nachgedoppelt. Der schöne Ausdruck Abspeckung aus der Adipositas-Branche hat nichts mit der Metzgerei Speck im benachbarten Aarau-Rohr zu tun, welche für die Bereitstellung von grillierten Bratwürsten und Cervelats beauftragt war. Auch das können wir uns leisten.
Gemeinderat Rolf Meyer, in der Kommunalbehörde fürs Schulwesen zuständig, sprach davon, man habe sich im Rahmen des Abspeckens vom bloss Wünschbaren verabschiedet und auf das Notwendige beschränkt. Deshalb wagte ich denn auch nicht zu fragen, ob der vorgesehene „Kickboard-Raum und Windfang“ (oder muss man von Windkanal sprechen?) wirklich unumgänglich sei. Ich wusste anfänglich nicht einmal, was ein Kickboard ist und wurde dann von einem in schulischen Belangen versierten Tischnachbarn, Urs Wilhelm, dahingehend belehrt, es handle sich um ein kleines Trottinett. Weil Biberstein in einer ausgesprochen Hanglage liegt, sieht man diese Roller hier eher selten. Aber solch eine Bagatelle wie der Kickboard-Raum geht selbstverständlich im Grossprojekt unter. Sogar die Planung eines Mehrzweckraums, der an die bestehende Turnhalle angebaut werden soll und 1,2 Mio. CHF (Planungsaufwand 110 000) kosten wird, war keiner Rede wert. Der Projektierungskredit wurde im sich abzeichnenden Bratwurstduft gleich auch noch geschluckt, problemlos. Ein Triumph der Grosszügigkeit.
Beim Bratwurstverzehr sagte ich dem Gemeindeammann Peter Frey, spasseshalber ironisierend, besonders freue mich der Kickboard-Raum mit Windfang, damit sich die Kickboards nicht erkälten. Der pensionierte Gemeindeschreiber Peter Kopp, vis-à-vis sitzend, sagte sofort, ob ich denn nicht wisse, dass man in Grossprojekte immer einen Knochen einbauen müsse, an dem das Stimmvolk genüsslich nagen könne. Ja, bestätigte der Gemeindeammann Frey: Es brauche „es Chnöchli“ (einen kleinen Knochen) – aber diesmal wurde nicht einmal daran genagt.
Als es seinerzeit darum ging, das altehrwürdige Bibersteiner Gemeindehaus (für etwa 1,8 Mio. CHF) umzubauen, setzte der Planer Thomas German als solch ein Chnöchli einen Dachreiter („Türmchen“ genannt) mit Zifferblatt und Zeigern darauf. Über die Renovation an sich, die übrigens sehr gut herauskam, ereiferte sich niemand, aber über das Türmchen wurde in der kirchenfreien Gemeinde heftig diskutiert. Musste das sein (es sieht übrigens angenehm aus)? Ein Stimmbürger, Bruno Klemenz, sagte damals, wenn die Gemeindeversammlung dieses Schmuckstück ablehne, bezahle er es aus dem eigenen Sack. Die Gemeinde stimmte zu.
An solchen Erfahrungen gereift, wende ich mich nun dem Grundsätzlichen zu: Komplexe Sachfragen driften innerhalb politischer Prozesse in der Regel auf Nebenkriegsschauplätze ab, geraten aufs Nebengeleise. Ein wunderschönes Beispiel lieferten die Geschehnisse um den über Insidergeschäfte gestrauchelten, ehemaligen Präsidenten der Schweizerischen Nationalbank, Philipp Hildebrand. Bundespräsidentin Eveline Widmer-Schlumpf verdrängte die inakzeptablen Verfehlungen, verschwieg ihre Kenntnisse, aber wollte ganz genau wissen, wie es zur Indiskretion gekommen war. Inzwischen wird der Überbringer der Botschaft, Nationalrat Christoph Blocher, der sich nichts zu Schulden kommen liess und korrekt handelte, wie ein Krimineller verfolgt, und Hildebrandt wird mit medialer Unterstützung wieder aufgebaut.
Ein anderes Beispiel aus dem aktuellen Geschehen: Die Asylanten sollen in der Schweiz in Zukunft nur noch Nothilfe und keine Sozialhilfe mehr erhalten; die Differenz macht pro Tag wenige Franken aus und dürfte wenig an der Attraktivität der Schweiz als Zufluchtsland ändern. Das wesentliche Problem aber, die schlampige, sich oft über ein Jahr erstreckende Behandlung der Asylgesuche, blieb unbehelligt.
Man nagte wieder einmal am kleinen Knochen. Das Grundsätzliche hat einen schweren Stand. So war es auch mit dem „Reglement über die Tagesstrukturen der Schule Biberstein“. Die Schule als Kinderhort und -fütterungsstätte trug ebenfalls zur Ausbau-Notwendigkeit des Schulhauses bei (1 Raum, Küche, Lager). Im Grundsatz stellte sich eigentlich die Frage, ob es denn sinnvoll sei, diese sogenannten „Tagesstrukturen“ (Kinderbetreuung währenddem die Eltern berufstätig sind) durch eine professionelle Organisation zu fördern oder ob man nicht gescheiter nach Wegen suchen würde, die bewährten Familienstrukturen zu beleben und Notfälle – kein Kind soll über die Mittagszeit sich selber überlassen bleiben – durch die private Initiative zu lösen, wie das in Biberstein der Fall war und bestens funktionierte.
Solche Grundsätze sind an Massenveranstaltungen schwer zu diskutieren und auch kein Bestandteil eines Reglements. Also kapriziert man sich auf die Paragraphen, die Details regeln. Und nicht einmal diese wurden im Biberstein diskutiert.
Eine Diskussion darüber, angezettelt von einem alten Mann wie ich, wäre unfruchtbar gewesen, zumal es mit der Fruchtbarkeit im höheren Alter ohnehin so eine Sache ist. Also schwieg ich. Das Reglement wurde mit 157:1 Stimme angenommen. Dabei bin ich stolz darauf, die einzige Nein-Stimme geliefert zu haben.
Die Leute hatten ihren Knochen: Warum wohl hat dieser alte Esel wohl nein gesagt? Allerdings spürte ich in nachfolgenden persönlichen Gesprächen viel Sympathie für meine Haltung. Und die Bratwürste schmeckten allen, auch wenn sie auf dem Feuer zu schnell gebraten worden waren. Vielleicht werden bei einer nächsten Gemeindeversammlung grillierte Koteletts serviert. Mit Knochen. Zumindest mit Chnöchli.
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