BLOG vom: 13.07.2012
Tutti.ch ist gratis: Der wachsende Markt der Kostenfreiheit
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Man kann ein Internet-Kleinhandelsportal wohl kaum einfacher und besser machen als www.tutti.ch. Wer etwas, das für Andere wertvoll und begehrt sein kann, „unter dem Hund“ (unter dem tatsächlichen Wert) loswerden möchte, hat keine Lust, sich durch ein wirres Netz von Zugangsschleusen durchzumanövrieren und dabei viel Zeit zu verlieren: Ich hab’s einmal bei Ricardo (www.ricardo.ch) versucht und mir ein ganzes Faktenblatt zurechtgelegt. Ich begreife ja sehr wohl, dass sich ein Unternehmen gegen Betrüger absichern und auch dafür sorgen muss, dass es zu seinem Anteil am Verkaufserlös kommt. Doch wenn man sich durch den Passwort- und Aktivierungscode-Dschungel durchquälen muss und am Ende unter dem vieldeutigen Stichwort CODE noch etwas eingeben sollte, von dem man nicht weiss, was damit gemeint ist, gebe ich auf.
Bei Tutti.ch (seit Februar 2010 aktiv) geht das viel einfacher. Man muss selbstverständlich auch die Grunddaten eingeben, auch die Region, in der man residiert, und die Kategorie, damit das Inserat geografisch und thematisch eingeordnet werden kann. Die Gratis-Inserate werden von einer Redaktion geprüft und, wenn sie den nötigen Vorschriften entsprechen, werden sie für 2 Monate ins Netz gestellt. Die „Stephanie“ vom Tutti-Kundendienst e-mailt prompt eine Bestätigung, dass alles geklappt habe. Unsere Rindsleder- und Seidenvelours-Sitzgruppe, die wir vor 40 Jahren bei Idealheim in Basel gekauft hatten, fand nach 15 Minuten einen begeisterten Käufer, und um einen schwungvolle Fauteuil aus der Jugendstilzeit rissen sich allmählich 2 Bewerber.
Weniger Glück hatte ich mit einer dreiteiligen, nach allen Seiten verstellbaren Stehlampe und einem Rattan-Servierboy, beides von bester Qualität. Auch eine kleine Flasche Berlinerwein, die ich zum symbolischen Preis von 5 CHF abgeben wollte, blieb liegen. Die Beschreibung: „Rarität für Sammler: 1 Fl. (0,35 l) Berliner Wein aus der Zeit um 1975. ,Rixdorfer Weinmeister. Müller-Thurgau Sieger Huxel’. Aus den ersten Jahren des Bestehens des Lehrweingartens der Allgemeinen Berufsschule Berlin-Neukölln. Jahrgangsetikette fehlt. Abgefüllt in der Weinkellerei B. Wuri, Berlin-Tempelhof. Wein mit Originalverzapfung. Nur geringer Schwund. Etikette rechts etwas beschädigt, Text aber vollständig erhalten und lesbar. Der Wein ist wohl nicht mehr trinkbar, aber ein Sammlerobjekt, da er von der Schule nicht verkauft wurde.“
Wenn etwas verkauft ist, löscht man das Gratis-Inserat, und man trifft sich mit dem Käufer, erledigt Übergabe und Bezahlung. Dies findet abseits des Online-Marktplatzes statt. Tutti.ch erhebt keine Transaktionskosten, ein Beitrag zur Vereinfachung.
Wie ist das möglich? Die Webseite gehört der Schibsted Classified Media Schweiz AG, eine Tochter des norwegischen Medienkonzerns Schibsted (Oslo), die auch in rund 20 anderen Ländern aktiv ist. Die Tutti.ch-Finanzierung ist vollständig über Werbung abgedeckt, obschon sie auf den allgemein zugänglichen Internetseiten kaum sichtbar ist.
Mit ihrer Gratis-Philosophie ist das Haus Schibsted ausserordentlich erfolgreich. Es brachte 1999 die erfolgreichste (im Sinne von meistgelesene) Schweizer Pendlerzeitung „20 Minuten“ auf den Markt, die seit 2005 Tamedia (Tages-Anzeiger) gehört. Wenn man sich als Zeitungsleser schon vom pfannenfertigen Agentur-Eintopf abfüttern lassen muss, sich also innerhalb des Mainstreams bewegt, dann möchte man für die standardisierte Kost nicht auch noch bezahlen müssen. „20 Minuten“ liefert dasselbe kostenlos und für müde Zeitungsleser, die sich vermeintlich nicht für Zusammenhänge und Hintergründe interessieren, in der offenbar erwünschten Kürze.
Das Adjektiv gratis – auch Bankkredite sind bald einmal zum Nulltarif zu erhalten – heisst der moderne Erfolgsgarant – und den Rest richtet die Werbung. Die Gebühren für Radio und Fernsehen sind deshalb ein Verstoss gegen die Zeitrechnung.
Gratis – das heisst, man bezahlt über die Werbung. Daraus entwickle ich, innovativ und lösungsorientiert, wie ich nun einmal bin, die Idee für ein neuzeitliches Bierlokal: Das Bier wird gratis ausgeschenkt. Dafür erhalten „Feldschlösschen“ und die „Brauerei Locher“ in Appenzell die Bewilligung, im Trinklokal je ein Riesenposter mit überschäumendem Logo aufzuhängen: „Trinkt Gratisbier!“ Der Umsatz würde alles Bestehende übertreffen.
Die Werber würden Schlange stehen, um genau hier ihre Sprüche verkünden zu können – und die Getränkekosten mehr als kompensieren.
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