Die Entdeckung der Tomate durch Geschmacklose
Autor: Heinz Scholz
Als ich die folgende Meldung las, traute ich meinen Augen nicht. Auch Sie als Leserin oder Leser werden sich verwundert die Augen reiben. Kann das sein, oder handelte es sich um einen vorgezogenen Aprilscherz?
Hier die Fakten: Das Bremerhavener Technologie-Transfer-Zentrum (www.ttz-bremerhaven.de ) startete an den Schulen von Bremerhaven ein Projekt: Die Kinder sollen das Schmecken neu erlernen. Im Zeitalter des Fast Food und der industriell produzierten, künstlich aromatisierten Nahrung ist das wohl nötig, weil inzwischen die Geschmacksknospen von Erwachsenen und Kindern ganz schön „verhunzt“ worden sind. Die Kinder sollen wieder natürliche Aromen entdecken und schätzen lernen und sich gesünder ernähren.
Wie „Der Spiegel“ (2005-9) berichtete, gab die Leiterin des ttz-Sensoriklabors, Kirsten Buchecker, den Kindern 2 Joghurtsorten zum Probieren. Die eine Sorte war mit natürlichem Erdbeermark versetzt, die andere war kräftig gefärbt und künstlich aromatisiert. Nun mussten die Kinder sagen, welche Sorte ihnen am besten schmeckte. Die meisten entschieden sich für die künstlich aromatisierte Sorte.
Auch die kräftig aromatisierte Dosensuppe – der ttz-Geschäftsführer Werner Mlodzianowski nannte sie „Aromabomber“ – wurde einer Suppe aus frischem Gemüse vorgezogen.
Die Schulkinder lernen jetzt in einem Geschmacksparcours, wie frisches Gemüse, frische Gurken und Tomaten schmecken. Unglaublich, aber wahr: Viele Kinder haben noch nie eine rohe Tomate gegessen, wie die Sensorikforscher herausfanden.
Da erinnere ich mich an meine Jugendzeit. Nach Kriegsende wurde jedem Heimatvertriebenen (wir kamen aus dem Sudetenland nach Bayern) von der Gemeinde ein Grundstück zum Gemüseanbau zugeteilt. Meine Geschwister und ich genossen immer wieder die aromatischen und köstlich schmeckenden Tomaten frisch vom Strauch. Kein Vergleich zu den trittfesten Anti-Matsch-Tomaten, die heute im Handel sind! Auch verzehrten wir mit Genuss Kohlrabi, Gurken, Möhren (Rüebli), Johannisbeeren und Stachelbeeren im frischen Zustand. Da brauchten wir keine Snacks. Sehr köstlich schmeckten uns auch die selbst gesammelten Waldbeeren. Oft kam es vor, dass wir zuviel assen und nur noch wenige im Körbchen nach Hause brachten.
Meine Frau Paula hatte auch das Glück, im Garten ihrer Eltern Möhren und Tomaten stibitzen und gleich verzehren zu können. Wie Werner Mlodzianowski betonte, gibt es heute wieder eine verstärkte Nachfrage nach echten Geschmackserlebnissen, wie sie besonders alte Obst- und Gemüsesorten bieten. „Aber leider wissen viele Menschen schon gar nicht mehr, wie etwa die Kartoffelsorte ‚Blauer Hermann’ schmeckt – deshalb wollen wir uns, gesellschaftlich betrachtet, auf die Suche nach dem verlorenen Geschmack begeben.“
Auch das englische Gesundheitsministerium startete schon 2003 eine Aktion, um die Essgewohnheiten an Schulen zu verbessern. Wie „Spiegel online“ am 25. September 2003 berichtete, erhielten die Schulen von höchster Ebene Möhren zugesandt. Das Unglaubliche: Die Schulleiter bekamen eine Anleitung, wie man eine Möhre essen solle: „Erst waschen, dann von unten her essen und die Spitze wegwerfen“, dies stand in einer E-Mail. Schulleiter Graham Brock meinte spöttisch: „Es wurde nicht erklärt, wie weit oben wir mit dem Essen aufhören sollen.“
Ein Sprecher des Gesundheitsministeriums verteidigte die Aktion so: „Manche Kinder sind ausserhalb der Schule gar nicht mehr mit Obst und Gemüse in Kontakt. Da die Möhren dem Angebot neu hinzugefügt wurden, hatten einige Lehrer um Ratschläge gebeten, wie man sie für Schüler attraktiv machen kann.“
Zum Glück wissen meine und auch die Familie meiner Tochter, wie schmackhaft eine frische Möhre ist und ob man sie schälen muss (bei jungen Möhren aus gesunden Böden reicht das Waschen). Unser Enkelkind Manuele verzehrt mit Begeisterung ab und zu eine Möhre. Da kommt Freude auf, wenn er genüsslich hineinbeisst. Auch isst er sehr gern Äpfel und rohe Paprikaschnitze. Er braucht keinen Sensorikkurs. Wohl aber viele andere Kinder und so mancher moderne Erwachsene.
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