Textatelier
BLOG vom: 18.09.2012

Warum der Name Hitler in Indien so hochgehalten wird

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Für die westlichen Medien war es ein gefundenes Fressen, als ein kleines Bekleidungsgeschäft in Ahmedabad, einer Stadt im westlich gelegenen indischen Teilstaat Gujarat, sich den Namen „Hitler“ gegeben hatte, was Proteste, vor allem durch die jüdische Gemeinde, hervorgerufen hat. Die Inhaber haben danach den Namen verändert; sie werden sich nicht viel dabei gedacht haben. Wahrscheinlich ist der Laden auch noch mit der Swastika verziert, dem Hakenkreuz, das ein Glückssymbol im Hinduismus darstellt und sehr verbreitet ist. (So war auch die Mauer vor dem Haus, in dem meine Wohnung in Bangalore war, damit verziert, und meine Studentinnen und Studenten wollten mir ein indisches Gewand, von oben bis unten mit der Swastika verziert, zum Abschied schenken. Sie haben es dann nach meinen Erläuterungen umgetauscht.) Noch anzumerken ist, dass Juden und Israelis die Benutzung der Swastika auch durch Proteste nicht verhindern konnten. Sie werden es dadurch „entschuldigen“, dass die Swastika anders gezeichnet ist als das Hakenkreuz der Nazis.
 
Die deutsche Geschichte ist in Indien – das ist meine Erfahrung –, nur bruchstückweise bekannt. Wenn ich indischen Gesprächspartnern, Erwachsenen wie Kindern, irgendwo auf der Reise auf Anfrage sagte, dass ich aus Germany komme, kam öfters „wie aus der Pistole geschossen“ als Kommentar der Name „Hitler“. Fragte ich weiter, was sie denn von ihm und von Deutschland wüssten, kam in den allermeisten Fällen nichts mehr, vielleicht noch die Überzeugung, dass er „ein grosser Führer“ gewesen sei.
 
So wie viele totalitär herrschende Staatsführer und Feldherren, verantwortlich für unzählbar viele (Kriegs-)Tote, bleibt auch der Name Hitler im Gedächtnis, wie z. B. Pol Pot, Stalin und Mao Tse Tung. Ein Machthaber und Herrscher über Leben und Tod seiner Untertanen hat scheinbar etwas Faszinierendes an sich. Krieg war viele Jahrhunderte ein Mittel der Politik, und die Erinnerung daran ist immer noch vorhanden. So gibt es in jedem Volk Mythen und Erzählungen über Helden und Kriege, in Deutschland die Nibelungensage, in Indien die Bhagavadgita. Nur die Führer und Helden sind namentlich bekannt; die Tausenden von Kriegern, Männern, Frauen und Kindern, die dabei ihr Leben liessen, zählen nicht. So fragte auch Napoleon nie, wie viele Gefallenen seine Kriegshandlungen gekostet hatten, sondern immer nur, wie viele Soldaten er noch zur Verfügung habe.
 
Sicher ist, dass Hitler für das indische Volk nicht viel übrig hatte und es abwertete. Das soll in „Mein Kampf“ ebenso zu lesen sein wie in „Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier“ von Henry Picker (Neuauflage: Propyläen 2005).
 
Desto überraschender ist, dass einer Umfrage aus dem Jahr 2002 zufolge 6 von 10 Studenten zweier Colleges in New Delhi Adolf Hitler am meisten bewundern würden. In einem Artikel der FAZ wird das so erklärt: „Der schmerzlich empfundene eigene Mangel an nationaler Selbstachtung gibt der Hitler-Verehrung eine psychologische Richtung. Die immer noch stark hierarchisch aufgebaute Gesellschaft sucht nach ,Gurus', auch nach Machtmenschen, die dem Volke jene Selbstachtung, welche sie durch fortgesetzte Armut, ständige soziale Konflikte und Probleme und durch die Bevormundung des Auslandes verlieren. Praful Bidwai, der sich in der ,Hindustan Times’ entsetzt von den Umfrageergebnissen zeigt, sieht darin eine Verbindung zu der nationalen indischen Erziehung, die Nationalstolz und Nationalismus überbetonen.“  http://www.trimondi.de/H-B-K/deba.hi.01.htm
 
Das ist die eine Interpretation des Phänomens, eine andere könnte sein, dass Hitler wie die anderen oben genannten Diktatoren die Völker nicht aus Mordlust in den Krieg oder in den Tod geschickt haben, sondern weil sie Ideologien verfallen waren, die sehr viel Ähnlichkeiten mit religiösen Glaubensdogmen hatten. Da in Indien Religiosität, sei es der Hinduismus, Jainismus, Islam oder auch das Christentum, eine identitätstragende Rolle spielen, dürften auch Diktatoren, die nach ihrer „Glaubensideologie“ gehandelt haben, anders beurteilt werden als die westliche Geschichtsschreibung das tut. Unsere Geschichtsinterpretation geht in der Regel von heutigen Normen aus, vor allem von den Menschenrechten. Allerdings werden diese machtpolitisch interpretiert. Ein gutes Beispiel dafür sind die USA, bei denen Nationalstolz und Nationalismus bei der Behandlung der von ihnen sogenannten „Schurkenstaaten“ vor den Menschenrechten und der Magna Charta steht.
 
Der Nationalstolz und Nationalismus sind wohl auch der Grund dafür, dass Verbindungen zwischen Indien und Nazi-Deutschland immer noch im Bewusstsein der Inder eine Rolle spielen. Jedenfalls sprach mich eine meiner Studentinnen auf den Namen Subhas Chandra Bose an, der angeblich viel für Indien bei Hitler erreicht hätte. Die Unabhängigkeitsbestrebungen Indiens von der Kolonialmacht Grossbritannien waren seine Triebfeder.
 
Subhas Chandra Bose war 1941 über Kabul und Moskau nach Berlin gekommen, um bei den Feinden seiner Feinde (den britischen Kolonialherren) Unterstützung für den indischen Befreiungskampf zu finden. Da Moskau jegliche Unterstützung ablehnte, wollte er die deutschen Nazis für seine Ziele einspannen, obwohl er deren Rassismus ablehnte. Obgleich sich die Naziführung weigerte, eine Garantie für die Unabhängigkeit Indiens abzugeben, unterstützte sie den Aufbau des Free India Centre (Zentrale Freies Indien) und des antibritischen Senders ,Radio Azad Hind’ (Sender Freies Indien) in Berlin. Darüber hinaus konnte Bose ‒ von seinen Anhängern "Netaji" (etwa: Chef, Führer) genannt ‒ 1942 in Annaburg bei Torgau und Königsbrück eine ihm ergebene Truppe aufstellen, über deren Entstehung und Ende Lothar Günther in seinem jüngst erschienenen Buch ,Von Indien nach Annaburg’ viel Neues vermittelt. Von den rund 15 000 indischen Kriegsgefangenen, die den Achsenmächten in Europa in die Hände fielen, erklärten sich - oft nach spektakulären Auftritten Boses in Gefangenenlagern ‒ 3500 zum Eintritt in die Indische Legion bereit.“
 
Aber statt dass diese Truppen in Indien gegen die britische Kolonialmacht eingesetzt wurde, mussten sie gegen die Westmächte kämpfen, was eine Reihe von Soldaten ablehnten. Die übrigen wurden zur Bewachung der Atlantikküste bei Bordeaux eingesetzt.
 
Nach der Niederlage des Faschismus wurden sie von den Briten als Deserteure in ein Gefangenenlager bei Delhi gebracht und ebenso wie die gefangenen Soldaten von Boses Indischer Nationalarmee verhört und teilweise angeklagt ‒ die Prozesse im Delhier Roten Fort, mit denen die Briten die Freiheitsbewegung delegitimieren wollten, erreichten indes das Gegenteil“ (Lothar Günther: „Von Indien nach Annaburg ‒ Indische Legion und Kriegsgefangene in Deutschland“, verlag am park, Berlin 2003, 144 Seiten, 12,90 Euro.).
 
Bekanntlich erreichte Indien 1947 die Unabhängigkeit. Damit wurde Boses Politik als seinen Anteil am Unabhängigkeitsprozess gesehen.
 
So schreibt Jochen Reinert 2007: „Das Engagement Subhas Chandra Boses für die Befreiung Indiens von der britischen Kolonialherrschaft ist umstritten. Obwohl ein enger Mitstreiter Nehrus auf dem linken Flügel des Indischen Nationalkongresses tut man sich bis heute schwer mit seinem Erbe. Ein Grund dafür ist Boses Bemühen, Nazideutschland als Bündnispartner gegen die Briten zu gewinnen.http://www.bpb.de/internationales/asien/indien/44396/bose-der-vergessene-freiheitsheld?p=all
 
Ich habe meinen indischen Studentinnen und Studenten erklärt, dass Bose „den Teufel“, also die Kolonialmacht, mit „dem Belzebub“, also den Nazis, austreiben wollte. Wäre Hitler beispielsweise nicht in den Weltkrieg verstrickt gewesen und hätte er einem Krieg gegen die Briten in Indien zugestimmt, wären möglicherweise danach die Inder die Arbeitssklaven Nazideutschlands geworden. Das sind zwar viele „hätte“ und „wäre“, relativiert aber die Leistungen von Subhas Chandra Bose.
 
Hinweis auf die vorangegangenen Indien-Berichte von Richard Gerd Bernardy
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