Textatelier
BLOG vom: 07.10.2012

Bahnreise 10.2012: Knedlfriedhof, Dirndl und Berauschte

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 
„Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen.“ Dieser Spruch von Matthias Claudius bewahrheitet sich immer wieder. Besonders erlebnisreich ist eine Reise mit dem Zug. Dies konnte ich wieder hautnah bei meiner Bahnreise von Schopfheim D nach Bruckmühl (Bayern) am 01.10.2012 feststellen. Da es keine Direktverbindung dorthin gibt, musste ich bei der Hinreise insgesamt 4 Mal umsteigen. So im Badischen Bahnhof, in Karlsruhe und München. Am Hauptbahnhof suchte ich dann den Hauptbahnhof tief. Von dort fuhr eine S-Bahn zur Kreuzstrasse. Mit der Regionalbahn ging es von dort nach Bruckmühl. Die gelenk- und venenfreudliche Reise (es gab aufgrund der Bewegungen keine eingeschlafenen Beine) dauerte etwa 7 Stunden. Wäre ich mit dem Auto gefahren, hätte ich mein Ziel 2 Stunden früher erreicht. Aber das ist nicht immer sicher, zumal auf den Autobahnen immer wieder Baustellen und Staus anzutreffen sind.
 
Einige Vorteile hat eine Bahnfahrt: Man kann relaxen, Bücher oder Zeitschriften lesen, die Landschaft beobachten, dahindösen und die Reisenden studieren. Einige Erlebnisse auf der Zugfahrt werde ich hier präsentieren.
 
Pulsierendes Leben in München
Beim Ausstieg im Münchner Hauptbahnhof machte ich mich auf den Weg zur S-Bahn. Man musste sich förmlich durch die Menschenmasse kämpfen, um ans Ziel zu kommen. Es waren wohl viele Oktoberfest-Besucher unterwegs. Das merkte ich an den Burschen in Lederhosen und an den mit dem Dirndl (= bayerisches und österreichisches Trachtenkleid) bekleideten Frauen. Manch eine Brust quoll förmlich aus der spitzenbesetzten Bluse am Ausschnitt heraus. Das war ein erotischer, schöner Anblick. Aber ich hatte wenig Zeit, solche Delikatessen genauer unter die Lupe zu nehmen, da ich die Haltestelle der S-Bahn suchte.
 
An einem Backstand waren 3 jüngere Frauen beschäftigt. Ich stellte ihnen die Frage, wo die S-Bahn nach Rosenheim abfahre. Keine wusste dies. Es waren Frauen aus einem Balkanland und die hatten bezüglich Ortskenntnisse keine Ahnung. Da wunderte ich mich schon, da der Eingang zu den S-Bahnen nicht weit von ihnen weg war. Ein Bahnbeamter, den ich in der Menschenmasse entdeckte, gab mir Auskunft und zeigte in die Richtung des S-Bahnhofs. Die Anschluss-S-Bahn war schon weg. Auf den nächsten Zug musste ich nicht lange warten, da alle 15 Minuten eine S-Bahn fährt. Mit 30 Minuten Verspätung erreichte ich dann Bruckmühl. Dort übernachtete ich und besuchte am nächsten Tag die Naturarznei-Firma Salus.
 
„Knedlfriedhöfe“ und Berauschte
Als ich bei der Rückfahrt in München in einen Regionalzug nach Augsburg stieg und Platz nahm, sah ich viele Männer mit dicken Bäuchen, die im Bayerischen „Ranzn“ oder „Knedlfriedhof“ genannt werden. „Knedlfriedhof“ deshalb, weil viele Bayern kalorienreiche Knödel mit Schweinsbraten als Leibgericht erkoren haben. Dazu wird noch gerne Bier getrunken. Das ergibt mit der Zeit eine Hervorwölbung des Bauches. „Gestandene Mannsbilder haben einen Bauch“, höre ich immer wieder bei meinen Besuchen in Bayern.
 
Der Bayer, der sich auf der anderen Gangseite befand und der 2 Sitze benötigte, war derartig mit einem Riesenbauch bewaffnet, dass ich dachte, er sehe sein Gemächt nur noch mit einem Spiegel, sei also Mitglied des Spiegeleier-Klubs.
 
Mir schräg gegenüber sass ein Wohlbeleibter, der einen bierseligen Blick hatte und mit verdrehten Augen in die Gegend blickte. Er unterhielt sich etwas lallend mit seinem Gegenüber, das neben mit sass und auch nicht ganz nüchtern war.
 
In der Nähe des Ein- und Ausstiegs des Waggons standen 2 Oktoberfestbesucher in Lederhosen mit karierten Hemden, lachten, und erzählten mit lauter Stimme, so dass es jeder im Zug alles mitbekam. Als ein junger Mann mit grossen Kopfhörern sich vorbeischlängeln wollte, hob ein Lederhosenbayer einen Kopfhörer vom Ohr des Vorbeigehenden und sagte: „Hast Du kalte Ohren, frierst Du?“ Auch fesche Madln in Dirndln, die einstiegen und vorbeigingen, wurden wohlwollend begrüsst und auch umarmt.
 
Es gab in diesem Zug und auch auf den Bahnhöfen keine grölenden Oktoberfestbesucher. Das empfand ich als sehr angenehm. Die „Bierleichen“ und Grölenden sind auf der Wiesn anzutreffen.
 
Das Oktoberfest ist übrigens das grösste Volksfest der Welt. Es wird seit 1810 auf der Theresienwiese in München gefeiert.
 
Palmwein
In Augsburg angekommen, stieg ich in einen anderen Regionalzug, der mich zum Wohnort meiner Schwester Ursula und meinem Schwager Dieter nach Aichach führte.
 
Der Zug war gut besetzt. Ich nahm in einem Notsitz Platz (es befanden sich mehrere Notsitze in Längsrichtung). Neben mir sass ein vielleicht 50-Jähriger, der auf meinen Koffer stierte und ein Schild am Schloss begutachtete. Dort stand nämlich „Traveller“. Er fragte, ob ich ein Weltreisender sei. Ich wollte schon sagen, dass ich mich wegen der zeitintensiven und umsteigefreundlichen Zugreise auf einer Weltreise nach Bayern befinde. Aber ich hielt meine Gedanken für mich. Bald darauf begann der etwas Angeheiterte zu erzählen: Er war schon in Argentinien, nun arbeite er in Deutschland. Sein Wohnsitz sei auf den Philippinen, nämlich in Butuan auf der grossen Insel Mindanao. Da wurde ich hellhörig und erzählte ihm, dass ich einen Bekannten kenne, der auf Cebu wohne. Da staunte er und meinte: „Das finde ich toll, dass Sie Cebu kennen.“ Ich erwähnte, dass dort viel Kokosnusswasser getrunken werde. Das bestätigte er mir und äusserte, es gäbe dort auch noch etwas ganz anderes, nämlich Palmwein. Er erklärte mir umständlich die Gewinnung des Palmweins. Er sprach von Blüten, die angeritzt werden und daraus fliesse der Palmsaft.
 
Zu Hause angekommen schrieb ich eine E-Mail an Rolf Hess, der ja auf Cebu wohnt und bat um eine Erklärung. Er teilte mir umgehend dies mit: „Palmwein habe ich noch keinen getrunken – man kann aber viele Berichte im Internet darüber finden“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Pamwein).
 
Der Palmensaft von verschiedenen Palmenarten (Zuckerpalme, Kokospalme, Silber-Dattelpalme u. a.) wird aus dem Blütenkolben gewonnen. Der angenehm schmeckende Saft geht schnell in Gärung über. Es entsteht Palmwein (Toddy). Durch Destillation des Palmweins gewinnen die Bewohner in Tropenländern Arrak.
 
Studentin und ein „Flirtender“
Nach dem Besuch bei meiner Schwester fuhr ich nach einer Übernachtung am 03.10.2012 mit dem Zug nach Augsburg und von dort nach Ulm. Hier wartete schon der Zug, der mich nach Basel bringen sollte. Auch hier hatte ich besondere Erlebnisse und interessante Gespräche mit Reisenden.
 
Zunächst noch eine Begebenheit im Regionalzug von Aichach nach Augsburg. Eine vor mir sitzende Frau stand plötzlich auf und erblickte das rot erleuchtete WC-Schild. Das bedeutet, dass das WC besetzt ist (in kleineren Regionalzügen ist oft nur eine Toilette). Als sie länger wartete, sprach sie mit einigen anderen Fahrgästen und sagte, dass diese Blockierung eine Sauerei sei, und sie könne doch nicht an einer Haltestelle aussteigen, um zu pinkeln. Der Zug wäre dann längst fort. „Vielleicht versteckt sich ein Schwarzfahrer darin“, tat ein Mitreisender kund. Ein anderer war der Ansicht, es könne sein, dass die Toilette voll sei und dann automatisch das rot leuchtende WC-Zeichen erscheine. Die Frau zappelte herum, aber bald konnte sie aussteigen und sich auf einer Bahnhofstoilette erleichtern. Wehe dem, der eine schwache Blase hat. Vorsorglich sollten die Blasenschwachen eine Windel mitnehmen.
 
Zurück zum Bahnhof in Ulm. Diesmal fuhr ich nicht über Karlsruhe, sondern über Biberach, Friedrichshafen, Schaffhausen und Waldshut nach Basel.
 
Im Zug nahm ich gegenüber einer jungen Frau Platz. Sie studierte gerade ein Buch, das sich als EKG-Fachbuch erwies. Ich war mir sofort sicher, es müsse sich um eine Studentin handeln. Neugierig, wie ich bin, fing ich ein Gespräch an. Tatsächlich handelte es sich um eine Medizinstudentin, die in Marburg schon 6 Jahre studiert hatte und auf der Heimfahrt war. Sie habe noch 1 Jahr Studium vor sich, wie sie mir erklärte.
 
Was mir besonders auffiel, war ihre freundliche Art und die blendend weissen Zähne der vielleicht 27-Jährigen. Ich dachte mir, ob sie ein Zahnweiss-Bleaching machen liess? Oder waren es natürliche weisse Zähne?
 
In Biberach an der Riss verliess sie den Zug. Dann nahm eine weitere junge Frau gegenüber von mir Platz. Ich wurde also meistens von jungen Frauen umgeben. War es meine väterliche oder grossväterliche Ausstrahlung ... ich weiss es nicht. Als ich meine Frau wegen der Ankunftszeit anrief und Schopfheim nannte, wurde die junge Frau hellhörig. Dann erzählte sie mir, dass sie in Steinen, einem Nachbarort von Schopfheim, wohne.
 
Im Badischen Bahnhof in Basel angekommen, stieg ich in den Regionalzug nach Schopfheim, den ich pünktlich erreichte. Wir waren sogar 30 Minuten früher dran, so dass ich wieder zu Hause anrief. Auch die Begleiterin wollte anrufen, aber der Akku ihres Handys war leer. Sie bat mich, ihr mein Handy zu geben. Das tat ich mit Vergnügen. Schliesslich soll man ja freundliche Mitmenschen beglücken.
 
In diesem Zug nahm ich neben einer jüngeren Frau Platz. Mir gegenüber befand sich eine Frau mit ihren beiden Kindern. Der etwa 2 ½-jährige Junge trank laufend aus einer Wasserflasche und schaute die Frau neben mir mit grossen Augen an. Da sagte ich zur Frau neben mir: „Er flirtet schon mit ihnen!“ Dabei musste sie schmunzeln. Das andere Kind, eine vielleicht 4-jährige Tochter, sass auf dem Schoss ihrer Mutter und war etwas unruhig. Plötzlich wurde der Flirtende von einem Schluckauf befallen und ein Schwall aus seinem Magen verteilte sich auf die Kleidung des Jungen, auf dem Sitz und auf dem Boden. Die Mutter, die alles ganz cool hinnahm, packte aus ihrem Rucksack einige Tücher heraus und wischte das Erbrochene notdürftig zusammen. Dann kam der Bahnhof Lörrach in Sicht, und sie verliess den Zug mit ihren Kindern.
 
Es war also eine abenteuerliche und interessante Fahrt mit der Deutschen Bahn, die mit einer Ausnahme bei der Hinfahrt pünktlich war. Was mir besonders auffiel, waren die jungen Frauen mit ihren Handys, die laufend mit flinken Fingern SMS eintippten und versandten, aber nicht telefonierten. Nur ein Mann benutzte ein E-Book zum Lesen. Andere vergruben ihre Gesichter hinter Zeitungen oder schmökerten in Büchern oder Fachzeitschriften. Jene, die ihren umnebelten Geist schonen wollten, dösten mit geschlossenen Augen dahin.
 
Anhang
Zahlen zum Oktoberfest 2012
In diesem Jahr 2012 kamen 6,4 Millionen Besucher auf die Münchner Wiesn (2011 waren es 6,9 Millionen gewesen). Es wurden 6,9 Millionen Mass Bier ausgeschenkt und 115 Ochsen, Tausende Hähnchen sowie 57 Kälber verspeist. Man zählte über 800 Bierleichen, 66 Masskrugschlägereien und mehr als 2000 Einsätze der Polizei. Die Zahlen zeugen vom Masshalten und von Masslosigkeiten.
 
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