BLOG vom: 19.10.2012
Micarna: Wo es um Tiere, das Fleisch und die Würste geht
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Viele Leute sind zu eingefleischten Vegetariern bekehrt worden, als sie einen Schlachtbetrieb sahen. Und das ist natürlich nicht eben das Ziel der Fleischbranche, die mit guter und manchmal unangenehmer Arbeit um gute Umsätze kämpft, wie jedes andere Gewerbe auch. Während meiner Redaktorenjahre, die von vielen journalistischen Feldarbeiten ergänzt waren, habe ich bei Recherchen zum Thema Schlachten immer die gleiche Erfahrung gemacht. Wir Journalisten, bewaffnet mit Kameras und Notizmaterial, erreichten, gesteuert von einem (un-)gnädigen Schicksal, immer genau dann die Schlachtbuchsen, wenn jeder Blutspritzer weggeputzt und gerade eine längere Arbeitspause war bzw. einfach keine Tiere den gewaltsam verkürzten Weg alles Irdischen antreten mussten. Wir begnügten uns dann mit dem Anblick von Fleischhaken, die an Förderanlagen befestigt war, und hatten uns den Rest vorzustellen.
„Wir könnten doch einmal die Micarna im st. gallischen Bazenheid, den grossen Fleischbetrieb der Migros, ansehen“, schlug Magnus Würth im Rahmen einer Vorbesprechung unseres Männerreislis im Sommer 2012 auf Schloss Liebegg, das seiner präsidialen Leitung untersteht, vor. Würth war früher in der M-Geschäftsleitung, wandte sich allerdings lieber den Backwaren (aus den Jowa-Betrieben) als Prozessleiter zu, wahrscheinlich aus der Erkenntnis heraus, dass es zu guten Würsten auch gutes Brot braucht.
Die Idee zum Micarna-Besuch kam bei der Gruppe gut, wenn auch nicht gerade mit Begeisterung, an, zumal noch das Wort Schlachtbetrieb gefallen war. Das müsse er eigentlich nicht unbedingt haben, räusperte sich Hanspeter Setz, auch wenn er kein Vegetarier sei ... obschon ich ihn auf dem Hohen Kasten beim Verzehr von Hörnli und Apfelmues (ohne Ghackets) beobachtet habe.
Da es sonst keine Einwände gab, bauten wir den Programmpunkt auf den 05.10.2012 ein und traten zwischen Frühstück und Znüni in Bazenheid (Gemeinde Kirchberg SG im unteren Toggenburg) abmachungsgemäss an. Das Unternehmen, das nur durch ein überwachtes Drehtor betreten werden kann, gliedert sich in die sanft zur Thur abfallende Landschaft ein. Nach dem Empfangshaus ist der würfelförmige Verwaltungsbau aus Backsteinen, Betonverstrebungen und grossen Fenstern nach ein paar Schritten zu erreichen. Der gross gewachsene Roland Lämmli, Allianz-Versicherungsfachmann in Lenzburg, der unsere Reise bisher im Leibchen und offenen Sandalen bewältigt hatte, warf sich wegen der Kühle des Herbsts und der noch kälteren Kühlraume einen Pullover locker über die Schultern, profitierte im Übrigen von einer körpereigenen Isolationsschicht, so auch ich.
Von verängstigt schreienden, schlachtreifen Tieren sah und hörte man nichts. Tiere waren überhaupt nicht auszumachen. Wir wurden in einen kantinenähnlichen Besucherraum gebeten und mit Kostproben aus dem Hause gefüttert: Wienerli und Schweinswürstchen, die alle in einem Kessel mit heissem Salzwasser herum schwammen, mit Senf und Brot. Wie viele wir assen, spielte keine Rolle, werden in diesem Unternehmen doch täglich 280 000 Würstchen aller Art hergestellt.
Ein Prunkgelage, wie es die flämischen Maler dargestellt haben, war es denn doch nicht, zumal wir uns zurückhielten. Erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts lösten die Finessen der Zubereitungen in der Küche die Menge der Nahrung ab. Doch sind dekorative Elemente nach wie vor auszumachen: Ein Mädchen, das in der Micarna-Kantine beim Servieren mitwirkte, führte mit Stolz seine Pippi-Langstrumpf-Zöpfe vor, von seiner Mutter alle 2 Tage frisch geflochten.
Robert Harder, Micarna-Pensionist mit Gruppenführungstalent, war bereits da. Er lehrte uns, worum es hier geht, und auch die knackigen Würstchen deuteten auf ein und dasselbe hin: um die Schlachtung und die Verarbeitung der Tierkörper zu Metzgereiprodukten. Wir erfuhren, dass bei Hochbetrieb in der Micarna alle 10 Sekunden ein Schwein geschlachtet wird – also pro Stunde 360 Tiere. Letztes Jahr mussten 700 459 Schweine dranglauben.
Das Tröstliche daran: Die Tierhaltung auf den Betrieben wird überwacht, auch die Fütterung. Kälber werden mit Vollmilch und Heu aufgezogen; das Raufutter verhindert den Eisenmangel und sorgt für eine gesunde rötliche Färbung des Kalbfleischs (ab 2013 wird das in der Schweiz aufgrund der revidierten Tierschutzverordnung obligatorisch). Die Tiere erleben die letzten Stunden und Minuten nicht als Horrorvision. In keinem Fall darf der Tiertransport in Camions länger als 3 Stunden dauern, damit schon in dieser Phase kein unnötiger Stress aufkommen kann. Beim Schlachthof werden die zusammengehörenden Gruppen belassen, so dass es nicht zu Revierkämpfen mit dem Schwanz- und Ohrenabbeissen kommt. Dann werden die Tiere unter eine Brause, gelegentlich mit zusätzlicher Musikberieselung, geführt, was nicht der Reinigung, sondern in erster Linie der Beruhigung dient. Das alles ist gleichzeitig tierfreundlich und trägt zur Qualität der Produkte bei. Rote Bluteinschlüsse zum Beispiel im Schinken sind ein Hinweis darauf, dass das Tier bei der Schlachtung unter Stress litt, was nicht vorkommen dürfte.
Dann folgt die Schlachtung der beruhigten Schweine: Zuerst werden sie mit Kohlendioxid betäubt, und selbstredend sagt ihnen kein Mensch, dass sie nie mehr erwachen werden. In dieser Trance werden sie gleich zerlegt.
Ich erzähle das hier alles bloss vom Hörensagen – zumal sich meine geschilderten Erfahrungen wiederholten: Wir konnten die Tötungsanlage nicht betreten, sahen nichts von den 65 348 Bank- und Verarbeitungstieren (vor allem Rinder), den 47 828 Kälbern und den 17 623 Lämmern, die pro Jahr (Zahlen beziehen sich auf 2011) nur dank der Nichtvegetarier das Stall- oder Tageslicht dieser Zeit, in der preisgünstiges Fleisch zum Hauptnahrungsmittel avancierte (Werbespruch ... „alles andere ist Beilage“), eine befristete Lebensdauer absolvieren durften. Herr Harder sage noch, unsere Zeit reiche für den Besuch des Schlachtbetriebs nicht aus; da müssten wir mindestens eine Stunde mehr haben. Aber im Zerlegebetrieb konnten wir uns umsehen.
Die Micarna SA in Bazenheid wurde 1968 gebaut und 1969 als Schlachthaus in Betrieb genommen, weil in der Umgebung viele Tiermäster sind; eine weitere Produktionsstätte ist in Courtepin (im Seebezirk des Kanons Freiburg). Beide Werke zusammen beschäftigen derzeit rund 2200 Arbeitnehmer. Sie wurden gebaut, weil die bestehende Metzgereibranche die Migros boykottierte.
Die industrielle Grossmetzgerei wurde erst im 20. Jahrhundert gebräuchlich – im Rahmen der Industrialisierung und der Kältetechnologie. Neben der Einhaltung des Tierschutzes, der zunehmend an Bedeutung gewann, wurde auf eine durchgehende Hygiene geachtet, und dazu gehört im erweiterten Sinn auch, dass die Kühlkette nicht unterbrochen wird, weil sich sonst Kassensturz-taugliche Keime explosionsartig vermehren. So mussten wir uns denn wieder mit Schuhüberzügen und Kopfabdeckungen aus dünnem Wegwerfplastik und ebensolchen Mänteln in eine Pseudokeimfreiheit abtauchen, ohne ins Herz der Fabrik vorgelassen zu werden. Dort sind die Hygienemassnahmen natürlich viel rigoroser. Wenn beispielsweise ein Angestellter einen Anflug von Erkältung und Fieber hat, muss er sich zu Arbeitsbeginn beim betriebsärztlichen Dienst anmelden und wird dann mit einer Aufgabe ausserhalb der Hygienezone betraut, zum Beispiel beim Umgang mit steril verpacktem Fleisch.
Eindrücklich war der Überblick über eine Zerlegerei von einer verglasten Empore aus, in der 120 Personen am Werken waren und die Fleischfetzen förmlich in die richtigen Gebinde flogen. Förderbänder führten beständig neue Tierkörperbestandteil an, und an Schlachtbänken wurden sie nach Massgabe des Bedarfs von Fleischer-Messer-Akrobaten, deren eine Hand mit einem Kettenhandschutz geschützt war, in Form gebracht – ein vermeintliches wirres Hin und Her, das seine innere Ordnung hatte. Hier wird alles verwertet.
Die Fabrikation untersteht einer gestrengen Überwachung durch die schweizerische Lebensmittelkontrolle. Und weil von hier einige „Toggenburgerli“ (Wurst-Spezialität) nach Deutschland ausgeführt werden, lassen es sich die EU-Kontrolleure (trotz gleichlautender Vorschriften) nicht nehmen, höchstpersönlich nach Bazenheid zu reisen und nach allfälligen Regelverstössen zu fahnden. Eine plausible Antwort konnte mir auf die Frage nach dem Grund für diese Doppelkontrolle niemand geben. Es ist halt so. Jedenfalls können deutsche Toggenburgerli-Liebhaber auch in Deutschland ohne Gesundheitsbedenken zubeissen.
Die Ostschweiz ist ein bekanntes Wurst-Eldorado, und so verwunderte es nicht, dass wir auf unserer Wanderung durch den gekühlten Betrieb auch einer grossen Wurstabteilung begegneten. Einer Angestellter, der ganze Wagenladungen der weissen Delikatessen mit dem richtigen Krümmungswinkel, der EU-Beamten das Herz höher schlagen lassen muss, sagte, es gebe keine besseren Olma-Bratwürste als diese hier. Obschon viele kleinere Metzgerei ebenfalls in dieser Branche tätig sind. Und ich könnte mich nur verbindlich äussern, wenn ich alle die Ergebnisse hausinterner Rezepte durchprobiert hätte. Doch sogar dafür fehlte die Zeit.
Die Micarna möchte eine vorbildliche Arbeitgeberin sein, die unter anderem auf die Ausbildung des Nachwuchses viel Gewicht legt. Heuer sind 90 Lehrlinge angestellt, die in den breitgefächerten Aspekten der Fleischindustrie und des damit verbundenen Handwerks und der Information ausgebildet werden. Sie betreiben auf eigene Rechnung eine Firma in der Firma („Mazubi“), in der auch der Direktor ein Lehrling ist. Und so etwas kann ja auch ausserhalb des eigentlichen Lehrlingswesens passieren.
Inzwischen waren wir in die Kühlkreisläufe eingebunden und wissen jetzt, was es bedeutet, bei 12 °C sein täglich’ Brot in der Fleischbranche zu verdienen. Roland Lämmli versorgte seinen Pullover wieder in der Reisetasche, von tiefen Temperaturen wenig beeindruckt. Was auf Dauer gut gekühlt ist, bleibt frischer.
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