BLOG vom: 30.10.2012
Unschuldsvermutung: Abgründe des Radler-Dopinggeschäfts
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Die Unschuldsvermutung ist eine sinnvolle Sache, die im Dienste eines korrekten Verhaltens steht. Diese Vermutung, die auch dann noch gilt, wenn praktisch niemand mehr an die Unschuld glaubt, ist eine Grundlage von rechtsstaatlichen Verfahren: Erst wenn der Angeschuldigte durch ein korrektes Gerichtsverfahren verurteilt ist, hat für ihn die Unschuldsvermutung ausgedient.
Der Grundsatz in Artikel 11 Absatz 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Uno von 1948 bringt es auf den Punkt: „Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist solange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäss dem Gesetz nachgewiesen ist.“
Denn es gilt, Blossstellungen einzelner Personen zur Befriedigung von Neugier oder einer konstruierten Sensation willen oder gar wegen böswilligen Gerüchten und damit die Zerstörung von Einzelschicksalen zu verhindern.
Das ehrenwerte Grundprinzip wird auf den französischen Kardinal Jean Lemoine (1250‒1300) zurückgeführt, der beim Bibelstudium darauf kam. Bevor Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden, konnten sie sich noch darüber auslassen, weshalb sie von der verbotenen Frucht gegessen haben. Auf die entsprechende Frage von Gott antworteten die beiden Früchteliebhaber der Reihe nach also:
Adam: „Das Weib, das du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum, und ich ass.“ Eine etwas schwächliche, schon fast feige anmutende Anspielung auf die weiblichen Verführungskünste. Da sprach Gott zum Weibe: „Warum hast du das getan?“ Das Weib sprach: „Die Schlange betrog mich, so dass ich ass.“ So wurde also die Schuld weiter- und am Ende der Schlange zugeschoben. Das war eine ebenfalls faule Ausrede, welche im Verlaufe der Christentumsgeschichte Millionen von Schlangen das Leben gekostet hat, die leider Gottes nicht von der Unschuldsvermutung profitieren konnten.
Selbstverständlich gilt die Unschuldsvermutung wie in den Rechtswissenschaften so auch im Sport. Und bei den dort verwischten juristischen Kompetenzen unter der Schirmherrschaft von Gott, dem FIFA-Herrn, Joseph („Sepp“) Blatter (auch für ihn gilt die Unschuldsvermutung im Dauerabonnement wie selbstredend für alle anderen Götter auch), hat diese Vermutung eines ihrer allergrössten Tummelfelder gefunden. Die Unschuldsvermutung gewährleistet, dass der Sport seinen kleinen Rest Unschuld noch behalten darf – im Interesse des mit ihm verbundenen Milliardengeschäfts, in das sich selbstverständlich auch die Medien einbinden liessen und lassen.
Unsympathisch wird der Grundsatz der Unschuldsvermutung allerdings dann, wenn er zum dauerhaften Tarninstrument für dubiose und kriminelle Machenschaften wird, die entweder nicht oder nur mit grosser Verzögerung aufgeklärt werden – in der Hoffnung auf die Verjährung. So dauerte es zwischen 7 und 13 Jahre, bis der Radsport-Weltverband UCI dem Oberdoper und Megasuperstar Lance Armstrong alle 7 Tour-de-France-Titel aberkannte (aufgrund des Berichts der US-Antidoping-Agentur Usada, welche die Dopingpraktiken detailliert auflistete). Dabei wäre es blauäugig, nur auf ihn, Armstrong, zu zeigen, war er doch nur ins weltberühmte Aushängeschild eines ganzen Netzes von Mitdopern (Teamkollegen) und mitverdienenden Dopingbeschaffern und -händlern eingebunden.
Die ganze aus dem Ruder gelaufene Sache wurde immer wieder unter den Tisch gekehrt, obschon sie offensichtlich war. Es muss sich wegen des enormen Platzbedarfs um einen gewaltigen Tisch gehandelt haben. Und jetzt, wo nach den Aberkennungen aller Titel von Armstrong für die Jahre 1999 bis 2005 die Tour-de-France-Siegerpodeste neu besetzt werden müssten, fehlen die Nachrücker – weil sie ebenfalls in den Dopingskandal eingebunden sind. Die „Süddeutsche“ erhellte am 26.10.2012 den Sachverhalt auszugsweise: „Jan Ullrich war dreimal hinter Armstrong Zweiter geworden (2000, 2001, 2003), Andreas Klöden einmal (2004). Auch die beiden deutschen Radprofis werden mit Dopingvergehen in Verbindung gebracht: Ullrich ist wegen seiner Kooperation mit dem Dopingarzt Eufemiano Fuentes noch bis 2013 gesperrt. Klödens Name tauchte in Berichten der Staatsanwaltschaften Bonn und Freiburg i. Br. im Zusammenhang mit verbotenen Bluttransfusionen während der Tour 2006 auf. Beide Wahl-Schweizer bestreiten die Dopingvorwürfe.“
Es gilt die Unschuldsvermutung, schon wieder, wie auch hinsichtlich des Schweizers Tomy Rominger. Laut dem „Blick“ vom 28.10.2012 ist der Giro-d’Italia-Sieger (1995) und Zweite der Tour de France (1993) ins Visier der Staatsanwaltschaft Padua (Italien) geraten, die seit Jahren die Machenschaften des berüchtigten Sportarztes Michele Ferrari durchleuchtet. „Klar scheint: ,Dottore Epo’ und dessen bester Kunde Armstrong liessen ihre Doping-Geschäfte teilweise über die Schweiz laufen. Die Spur soll unter anderem zur ,Tony Rominger Management GmbH’ führen.“ Rominger bestreitet diese Vorwürfe, auch jene in Bezug auf Geldwäscherei und Steuerhinterziehung, in traditioneller Weise.
Schon als Rominger der grösste Radprofistar der Schweiz war, wusste man um seine Verbindungen zum Dopingarzt Ferrari. Rominger wies alle Dopingvorwürfe stets von sich und räumte nur ein, dass er sich von Ferrari lediglich Trainingspläne habe gestalten lassen. Als Manager betreute der introvertierte Rominger unter anderen Alberto Contador und Alexander Winokourow, die später wegen Dopingverstössen gesperrt wurden.
Rominger war bis zum Mai 2011 mit der charmanten Sängerin Francine Jordi („Schätzchen der Nation“) verheiratet. Dann verliebte sie sich erstaunlicherweise in den Berner Rocker Florian Ast, der sie dann während der Flitterphase bei einem US-Aufenthalt betrogen hat und den sie infolgedessen aus ihrem Herzen wieder entliess – wunderbare Herz-Schmerz-Storys für die Boulevardpresse liefernd, wie sie die Medienmacher und die Stars und Sternchen aus vermarktungstechnischen Gründen halt brauchen.
Beides, Sport und Gesellschaftsklatsch, sind das hier erlaubte Doping für die Freizeitgesellschaft, die dafür ihr Geld grosszügig und selbstlos herausrückt. Wenn dann jeweils im Zusammenhang mit den Sportskandalen zufällig wieder etwas Licht ins die finanziellen Abgründe des Sportgeschäfts kommt, in denen Milliardenbeträge herumgeboten werden, staunt man schon, wie liederlich Sportfans ihr Geld für einen grossen Nonsens und Betrug hinauswerfen, ohne irgendetwas zu hinterfragen. Es sind medial ununterbrochen aufgeheizte Massenpsychosen, denen sich kaum jemand entziehen kann; die Sportberichterstattung nahm in den vergangenen Jahrzehnten einen immer grösseren Raum ein.
Würde man, statt zu pfeifen und grölend zu jubilieren oder statt Rauchpetarden abzuschiessen, genauer hinschauen und etwas nachdenken, müsste man bei Radrennen die Rangletzten aufs Podest hieven, weil sie wahrscheinlich am korrektesten gehandelt und auf unerlaubte Aufputschmittel verzichtet haben. Bei Fussballspielen müsste man nicht in einfältiger Art einfach die Goals zählen, die dem Schiedsrichter gerade in den Kram gepasst haben, sondern Spieler feiern, die sich auf dem Rasen anständig verhalten haben. Und bei Autorennen könnte man jene Fahrer auszeichnen, die unfallfrei über die Runden kamen und dank einer geschickten Fahrtechnik möglichst wenig Treibstoff verbraucht haben.
Und das alles ginge ohne Doping und Unschuldsvermutungen.
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