BLOG vom: 27.11.2012
Die Kölliker Sondermüllgeschichte wird in der AZ aufgerollt
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Mach’ keine Geschichten! Die Redensart bedeutet: Sei nicht so umständlich. Komme zur Sache! Stell dich nicht an!
Die Zeiten aber leben in der Geschichte, und niemand wird es gelingen, keine Geschichte zu machen; denn nicht alle Spuren lassen sich verwischen. Diese Geschichte sei einzig jene Vergangenheit, welche gegenwärtig noch gestaltend im Bewusstsein des Menschen weiterlebt. So sah es jedenfalls Neville Chamberlain, der 1937 bis 1940 Premierminister des Vereinigten Königreichs war.
Im Bewusstsein kann durchaus auch eine Geschichte verankert sein, die man nicht selber erlebt, sondern von der man nur erfahren hat – etwa jene von den alten Griechen, den Römern, den Zuständen im Mittelalter usf. Besonders nahe geht einem die Geschichte, in die man selber eingebunden war, wie prominent oder marginal auch immer. Wenn solch eine junge Geschichte ihre Auferstehung feiert, ist das beeindruckend, und mit zunehmendem Alter häufen sich derartige Ereignisse Schlag auf Schlag – auch die familiären Begebenheiten mit historischer Bedeutung gehören dazu.
Beispiel Sondermüll
Hat man sein Berufsleben als Journalist verbracht, war man zwangsläufig in viele Geschehnisse involviert oder man erlebte sie als unbeteiligter Augenzeuge; es ging um Vorkommnisse, von denen man sonst nur aus 2. Hand erfahren hätte. Neben den flüchtigen Tagesaktualitäten gibt es die Aufsehen erregenden Ereignisse, die sich über Monate, Jahre und Jahrzehnte hinziehen. In meinem Fall gehörte die publizistische Betreuung der Sondermülldeponie Kölliken AG (SMDK) zu den nicht enden wollenden Geschichten. Sie dauerte vom Aufliegen (statt Auffliegen) des Baugesuchs im Februar 1976 bis zum Ende der 1980er-Jahre.
Das Deponieprojekt, das sich ausgerechnet in den obersten Bereich eines der bedeutendsten Grundwasserströme der Schweiz verirrt hatte, war das Resultat von Fehleinschätzungen und der Missachtung der Umweltverträglichkeit, als in rührend hilfloser Art versucht wurde, die bestehenden Primitivformen der Abfallbeseitigung (in Bächen und Geländemulden) durch eine Konzentration insbesondere des giftigen Sondermülls zu überwinden. Man wollte den Überblick erhalten und glaubte an so etwas wie an die Hokuspokus-Verschwindibus-Zauberei, wenn immer man die Industrieabfälle bloss in einer vermeintlich dichten Lehmgrube vergraben würde. Das erwies sich als fauler Zauber; die mit Erdreich überdeckten toxischen Abfälle zerfrassen die Metallfässer, wurden durchnässt, brodelten wie in einem Chemikalienreaktor vor sich hin und suchten als Deponiesickerwasser über dem Grundwasser und schlimmstenfalls via Grundwasser das Weite.
AZ-Serie „Der Fall Kölliken“
Die „Aargauer Zeitung“ (AZ) als Nachfolgerin des „Aargauer Tagblatts“ (AT), in deren Redaktion ich während des Auffüllens der Kölliker Lehmgrube angestellt war, hat sich soeben die Mühe gemacht, unter dem Titel „Der Fall Sondermüll“ in einer 5-teiligen, jeweils ganzseitigen Reportagen-Serie die noch längst nicht abgeschlossenen Kalamitäten aufzuarbeiten, sozusagen psychologisch zu verarbeiten. Der Rückbau der Deponie unter dem Dach, das an filigranen, weissen Rundbögen hängt, eine ingenieurtechnische Meisterleistung, ist eine brisante Aufgabe, die sich über Jahre hinweg zieht und unvergleichlich schwieriger als das Einlagern ist.
Die AZ-Serie wurde in der Ausgabe vom 26.11.2012 gestartet (www.aargauerzeitung.ch). Redaktor Hans Lüthi, der die Berichterstattung über die SMDK nach meinem Wechsel zum „Natürlich“ übernahm und kompetent weiterführte, hatte mich gebeten, die Teile 1 und 2 (von den Anfängen über den Prozess des eiligen Auffüllens bis zum Deponiestopp im April 1985) schriftlich aufzurollen. Zum Glück habe ich noch 2 grosse Schachteln voll Akten, Zeitungsausschnitte und Bildmaterial vor der Entsorgung bewahrt. Sie wurden inzwischen zu Akten im Dienste der regionalen Umweltgeschichte.
Aus der Sicht von Alt-Regierungsrat Thomas Pfisterer
Unmittelbar nach dem Erscheinen der Folge 1 („Kölliker Bodenschatz: Zuerst war der gute Ton“) lagen einige E-Mails in meinem elektronischen Briefkasten. Sie reicherten meinen Schatz an Erinnerungen an. Darunter war die Post von Dr. Thomas Pfisterer, Aarau, der zwischen 1991 und 2000 als Aargauer Regierungsrat Vorsteher des Baudepartements (und zwischen 1999 und 2007 Mitglied des Ständerats) war. Er hatte somit die Suppe aus Deponiesäften und festen Giftstoffen auszulöffeln, die einer seiner Vorgänger, Dr. Jörg Ursprung (Baudirektor von 1969‒1983), angerichtet hatte, ein Debakel, das nach heutigem Wissen gegen 1 Milliarde CHF erfordern wird.
Bedauerlicherweise war Thomas Pfisterer (FDP) nicht früher Baudirektor – damals, als man das Anrichten von immer grösseren Schäden noch hätte verhindern können. Seine Spezialgebiete als Jurist sind das öffentliche Bau-, Planungs- und Enteignungsrecht, das Umweltschutz- und Submissionsrecht. Trotz seines Jahrgangs 1941 gehört er zur Juristengeneration, die den ökologischen Aspekten ihren Stellenwert zubilligen. Ich hatte immer das Gefühl, durch seine Brille mit den auffallend dicken Gläsern wolle er eine Vergrösserung dieser Welt bewirken, um die Details besser erkennen und beurteilen zu können. Er ist mir als aufmüpfig-lockerer, origineller, originaler und dabei kompetenter Denker in bester Erinnerung geblieben.
In seinem E-Mail schrieb er mir am 26.11.2012, „Kölliken“ habe ihn (als Regierungsrat) immer „sehr belastet“, und er sei auf die Fortsetzung gespannt. 3 Fragen stellten sich ihm:
-- Rechtliche „Aufräumarbeit“ gegenüber früheren Zeiten und im Umfeld von Kölliken.
-- Suche nach der technischen Lösung ‒ anspruchsvoll, aber lösbar.
-- Die wirklich kritische Frage war die politische: Gelingt es, den Aargauer Grossen Rat zu überzeugen? Vor allem: Gelingt es, die Kantone Aargau, Zürich, die Stadt Zürich und die Basler Chemie dazu zu bringen, ohne Prozess anzuerkennen, dass sie eine derartige Riesensumme auf Jahre für ein „Loch“ im Aargau aufwenden müssen, und das ohne Parlaments- und Volksentscheid?
Dass diese Vereinbarung zustande gekommen ist und hält, sei nicht selbstverständlich, schrieb Thomas Pfisterer. Ihn und den für die Umsetzung verantwortlichen Baudirektor Peter Beyeler (FDP), Pfisterers Nachfolger, der im Frühjahr 2013 sein Amt abgeben wird, hätten diese Folgeaufgaben sehr beschäftigt.
Thomas Pfisterer: „Dass die Zürcher – der Kanton und die Stadt – so pflichtbewusst mitmachen, ist sehr bemerkenswert. Wir müssen dankbar sein!“
Dioxin – die grosse Frage
Soweit dieser Brief aus der Politiker-Perspektive. Noch ungeklärt ist die Frage, ob denn auch Seveso-Gifte in der SMDK gelandet seien –allenfalls unter der Deklaration „ölverschmutzte Erde aus Bologna“. Bologna (Italien) liegt etwa 200 km von Seveso entfernt, was aber wenig bedeutet, denn man konnte ja auf die Fässer schreiben, was man wollte.
Beim Dioxin (Seveso-Gift) handelt es sich im eine der tödlichsten Substanzen, die vom Menschen je hergestellt worden ist. Hertha Schütz-Vogel, die damals in Kölliken ansässig war (heute in Unterentfelden), jahrelang gegen die SMDK kämpfte und ein recht gutes Gespür für verborgene, verdrängte Vorgänge hat, liess sich im AZ-Interview zur Folge 1 („Ich kämpfte aus Sorge ums Wasser“) wie folgt vernehmen: „Die Gefahr ist noch nicht gebannt; im hinteren (noch nicht rückgebauten) Teil lagern die gefährlichsten Stoffe. Da könnte auch das Seveso-Gift sein, niemand weiss es. Die Sicherheitsmassnahmen wären nicht so gross, wenn die Sache nicht extrem gefährlich wäre. Den beteiligten Menschen wünsche ich, dass sie es schaffen werden.“
Das Dioxin (Polychlorierte Dibenzodioxine und Dibenzofurane, PCDD und PCDF) entsteht als unerwünschtes Begleitprodukt bei der Herstellung von Insekten- und Pflanzenabtötungsmitteln (Insektiziden und Herbiziden), aber auch in Kehrichtverbrennungsanlagen, wenn Kunststoff im Feuer umgewandelt wird. Je nach der Leistungsfähigkeit der Filter kann mehr oder weniger davon zurückgehalten werden. Heute ist dieses Ultragift in geringsten Spuren fast flächendeckend vorhanden, selbst in der Muttermilch. Dass die Amerikaner im von ihnen aufgrund frei erfundener Vorwände losgetretenen Vietnamkrieg tonnenweise dioxinverseuchte Entlaubungsmittel einsetzten, ein Kriegsverbrechen ohnegleichen, ist bezeichnend. Noch heute leben in Vietnam viele körperlich missbildete Menschen, um die sich die Kriegsnation USA nicht kümmert.
Wie gesagt: In Bezug auf die SMDK weiss man nichts Genaueres. Die Öffentlichkeit, die für die enormen Kosten bei der Schadensbegrenzung geradestehen muss, erfährt denn auch kaum etwas über die Zusammensetzung der hinter den zwangsläufig verschlossenen Türen ausgebuddelten Substanzen, die unter dem Deckel gehalten werden müssen. Was ich nicht weiss, macht mir nicht heiss ... bis es mich selber betrifft.
Bernhard Schindlers Erfahrungen
Frau Schütz war nicht die einzige Person, die sich gegen die SMD wandte. Darauf machte mich soeben Bernhard Schindler aufmerksam, der seinerzeit stellvertretender Chefredaktor am „Zofinger Tagblatt (ZT)“ war. Er lieferte folgende Reminiszenzen: „Neben ihr (Frau Schütz) wirkten die ,Bäretatzen’ rund um Martin Bossard, Christine Vögeli, Sebastian Wildi, Oliver Malitius und viele andere, die sich in den Deponiezeiten von einer Protestbewegung zur ernstzunehmenden politischen Kraft im Dorf mauserten. Die Bäretatzen haben viel unternommen, wurden aber immer wieder vom Gemeinderat ausgetrickst. So wollten sie Wasserproben bei den Abflüssen der Deponie nehmen, doch alle Dolen waren versiegelt. Sie haben sich politisch betätigt, wurden aber als ,Grüne’ nicht ernst genommen.“
Bernhard Schindler fügte einen bemerkenswerten Rückblick bei: „An der letzten Gemeindeversammlung, an welcher Hertha Schütz vor ihrem Wegzug aus Kölliken auftrat, hat sie noch einmal für rote Köpfe im Gemeinderat gesorgt. Ich habe über die Versammlung im Zofinger Tagblatt berichtet und Hertha auch einige ehrende Worte gespendet (weil es niemand im Gemeinderat für nötig befunden hatte, ihr für ihren jahrelangen Einsatz zu danken, wollte ich das gern stellvertretend tun).
FDP-Politikerin und ZT-Verwaltungsratspräsidentin Corinna Eichenberger hat sich anschliessend bei meinem Chefredaktor Paul Ehinger beschwert, ich solle mich nicht in die Politik Köllikens einmischen. Mit dem damals ,angeschossenen’ Gemeindeammann Willi Hochuli (FDP) verstehe ich mich heute besser ...
Als die Aargauer Regierung zusammen mit dem Konsortium eine Sanierung der Deponie vorbereitete, schlug ich in der Gemeinde vor, dass diese bevorstehende Pioniertat, die weltweit einzigartig dastehen würde, nicht allein von einer Arbeitsgemeinschaft verfolgt werden sollte, sondern in Zusammenarbeit mit der ETH oder einer Fachhochschule, welche das entstehende Know-how zum Nutzen aller weiteren Sondermülldeponien sammeln und verwalten sollte. Die Gemeinde behielt meinen Entwurf monatelang in der Schublade, bis ich mich an den Wirtschaftsförderer des Kantons Aargau wandte. Dieser brachte immerhin die Fachhochschule in Brugg-Windisch dazu, eine Umfrage zu veranstalten und mögliche Wege aufzuzeigen. Ausser einem kurzen Zeitungsartikel geschah dann allerdings gar nichts.
Schliesslich gelangte ich an den für Abfallfragen und Abbau für Sondermüll zuständigen ETH-Professor, der sich sehr interessiert zeigte, mir aber sagen musste, dass er in wenigen Wochen pensioniert würde und dass seine Professur – die einzige derartige in der Schweiz – aufgehoben würde ...“
*
Soweit Bernhard Schindler.
Es ist verdienstvoll, dass die AZ sich dieses Themas, das in Vergessenheit zu geraten schien, so prägnant annimmt – ein in der Medienlandschaft einsam dastehendes Beispiel für einen Blick aufs Wesentliche, das die jüngere Geschichte geprägt hat, als Lehrstück dienen mag und die Zukunft hoffentlich beeinflussen wird.
Die Weltgeschichte sei das Weltgericht, liest man in Friedrich Schillers „Resignation“.
Resignation: Sich dem unabänderlich Scheinenden zu fügen, hilft nicht weiter. Lernen wir daraus ... machen wir Geschichte und beteiligen wir uns an Geschichten, auf die man gern zurückblicken wird!
Hinweis auf die Beschreibung der SMDK im Textatelier.com
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