Textatelier
BLOG vom: 21.12.2012

Wegwerf-Säckli, Augenmass und das Verbot des Verbietens

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
                                                
Bevor sich die Messtechnik zur Bestimmung physikalischer Grössen wie Länge, Masse, Kraft, Druck, elektrischer Strom, Temperatur oder Zeit in die höchsten Sphären der Präzision aufschwingen konnte, gab es noch das Augenmass. Es war die Fähigkeit, etwas mit dem Auge zu messen, wie es das Wort suggeriert. Eigentlich war das eine Schätzung ohne Anspruch auf letzte Präzision. Es war im übertragenen Sinn die Kunst, etwas in seinem Bedeutungszusammenhang richtig einzuordnen. Wenn einer das richtige Augenmass hatte, machte er keine gravierenden Fehler. Auch in Bezug auf die ständig, seit biblischen Zeiten hundertfach angekündigten Weltuntergänge, dessen neuestes Exemplar heute Freitag, 21.12.2012, fällig ist.
 
Dieses Augenmass muss der modernen Gesellschaft abhanden gekommen sein, wie an einem frischen Beispiel aus der Schweizer Politik dargelegt werden kann. National- und Ständerat wollten ein Zeichen gegen die Verseuchung des Erdballs mit Kunststoffabfällen setzen, meinten es also gut. Insbesondere in den Meeren werden Kunststofffetzen zu Katastrophen. Fische, die nicht durch Überfischung verschwunden sind, verenden, weil sie die Plastikpartikel als Futter betrachten. Auf Weideflächen erkrankt und stirbt das Nutzvieh an solchen zivilisatorischen Segnungen. Aus solchen Gründen haben die eidgenössischen Räte die hauchdünnen Wegwerf-Säckli, die in Läden den Kunden zum Einpacken kleiner, loser Artikel gratis abgegeben werden, verboten. Sie können auch bei Gestellen, wo Früchte und Gemüse im Offenverkauf angeboten werden, von Rollen abgerissen werden.
 
Für einmal muss ich unserer Umweltministerin, der Bundesrätin Doris Leuthard, recht geben: Sie trat gegen die Bevormundung mündiger Konsumenten ein und sagte, ein Verbot dieser Einweg-Säckli sei „unverhältnismässig“.
 
Tatsächlich: Bald jede Zeitschrift, die ins Haus flattert, ist von einer wesentlich dickeren Plastikfolie umhüllt – ebenfalls für den Einmalgebrauch. Und wenn man sie mühsam öffnet, schlägt einem der ganze Druckfarbengestank in die Nase. Eine gigantische Plastikanwendung sind Siloballen, in denen Gras und die beim Mähen erwischten oder umgebrachten Tiere wie Insekten, Lurche, Rehkitze zur späteren Verfütterung vergoren werden; das Gärfutter wird in den verschweissten Folien haltbar; solche Kunststoffgebinde türmen sich in der Landschaft zu Bergen auf. Wenn die Silage das Verdauungssystem von Kühen durchlaufen hat, kann die Silomilch normalerweise nicht mehr zum Käsen verwendet werden, es sei denn mit chemischen Tricks. Zudem werden ganze Landwirtschaftsgebiete mit Plastikfolien abgedeckt, und Solarpanels sind mit Folien aus Hybridpolymeren abgedichtet. Kunststoffe haben sich in die meisten Industrieprozesse eingenistet – und solche Kunststoffe, wenn sie zu Dämmstoffen werden, bringen im Rahmen der Isolationsmanie ganze Häuser zum Ersticken. Das alles ist tabu.
 
Und dann wendet man sich den Wegwerf-Säckli zu, weil sie angeblich nur eine statistische Lebensdauer von 25 Minuten, also eine besonders schlechte Ökobilanz, haben. Bei Folien, in die Zeitschriften verpackt sind, kann man die Lebensdauer durch die Erstreckung von Zustellfristen verlängern.
 
Unsere Wirtschafts- und Handlungsweise vermittelt uns oft – aus gutem Grund – ein schlechtes Gefühl, das wir durch Pseudo-Wiedergutmachungsaktionen zu vertreiben suchen. Dazu kommt auch die virulente Lust am Verbieten. Sollte man stattdessen die Leute nicht besser erziehen, sie aufklärend auf Folgen aufmerksam machen? Dann könnte man wenigstens das sinnlose Verbieten verbieten.
 
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