BLOG vom: 31.12.2012
Abfolge beim genussvollen Essen: Sinne aufleben lassen
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
„Einmal kam die Reihe auch an die Gastronomie,
und alle Schwesternwissenschaften näherten sich, um ihr Platz zu machen.“
Jean-Anthelme Brillat-Savarin: „Physiologie des Geschmacks“
*
Der passende Wein adelt ein Essen, kein Zweifel. Der Auswahl des Weins – Welcher passt zu was? – kommt deshalb eine wichtige Bedeutung zu. Die Diskussionen und Bemühungen zur gegenseitigen Abstimmung sind bekannt. Über das Thema ist schon viel geschrieben worden, sogar ganze Bücher. Es erübrigt sich, an dieser Stelle mit weiteren Weisheiten aufzuwarten und bewährte Regeln auf den Kopf zu stellen, bloss um mit Originalität zu glänzen, etwa dahingehend, dass Fische auch gern im Rotwein herumschwimmen würden ... Bei solchen Kombinationen wirkt sich der Eisen- und Tanningehalt in Rotweinen ungünstig aus. Doch selbst solche Empfehlungen gehören zur gastrosophischen Ratgeberliteratur, die vor nichts zurückschreckt. Die Kombination des Unmöglichen hat den Beigeschmack des Besondern längst verloren. Und natürlich ist es ein Unsinn, zu stark gewürzten, zum Beispiel nach fernöstlicher Manier zubereiteten Gerichten, einen delikaten, teuren Tropfen zu kredenzen, dessen Feinheiten im Widerstreit der knalligen bis brennenden Aromen brutal erschlagen werden. Ein kuranter weisser Tafelwein oder ein Tee sind hier eher am Platze.
Für mich mindestens ebenso wichtig wie die Wahl des passenden Weins ist die Kunst, das Weinglas während des Essens zum richtigen Zeitpunkt an die Lippen zu setzen; denn auch diesbezüglich kann man vieles richtig oder falsch machen, den Genuss erhöhen oder herabmindern. Letzteres tat der von Katholiken als Heiliger verehrte Franz (Franziskus) von Assisi bewusst. In seiner Phase als Bettler in Rom, wo er der Legende nach ein Leben in vollkommener Armut austesten wollte, vermanschte er alle Speisen, die ihm gespendet worden waren, damit sie ihm keinen Genuss bereiten konnten. Er bereitete also bewusst einen Schweinefrass zu. Durch ein falsches Verhalten bei Tische, indem wir Unpassendes zusammenführen, können wir dasselbe tun – doch ein vernünftiges Ziel kann dies ja wirklich nicht sein. So werden Reizabstufungen zunichte gemacht. Wenn schon eine Mixtur, dann muss sie mit Bedacht zusammengestellt sein.
Die Schmecker und die Nichtschmecker
In einer geselligen Runde beginnt das Essen in der Regel mit dem Zuprosten: Man bedankt sich für die Einladung, lässt einander hochleben, zeigt Freude an der neuen Begegnung, am Zusammensein, trinkt einen Schluck. Das ist ein Ritual, welches aber nichts mit der Kunst des Weingenusses zu tun hat. Es ist eher ein Vorwand, den mehr oder weniger ausgiebig betriebenen Prozess des Trinkens einleiten zu können. Immerhin wird dadurch auch der Ernährungsapparat in Bewegung versetzt. Ein guter Appetit ist etwas Wunderbares, ist ebenso eine Quelle des Genusses wie ein guter Koch.
Wie eine liebevoll bis meisterhaft zubereitete Speise, erfordert auch der Wein zunächst einmal die volle Aufmerksamkeit: Man freut sich an seiner Farbe, ergründet seinen Duft, atmet ihn tief ein, beurteilt ihn also olfaktorisch, wie der Fachausdruck lautet (den Geruchsinn betreffend). Für Einordnung der Düfte gibt es kein Schema; man behilft sich mit einer vergleichenden Beschreibung (blumig, kampferartig, moschusartig, faulig, stechend usf.). Anschliessend lässt man das Getränk auf der Zunge zergehen – noch besser: man benetzt die ganze Mundhöhle, damit alle Geschmacksknospen in die Beurteilung der 4 Primärqualitäten von Süsse, Säure, Bitterkeit (Tannin) und allenfalls Salzigkeit einbezogen werden, und selbstredend spielt auch der Riechnerv wieder mit. In der Regel hat man es mit Mischungen zu tun, die bei der industriell zubereiteten Nahrung aus der Design-Versuchsküche mit ihrer Überfülle an Zusatzstoffen besonders ausgeprägt sind. Das Natürliche will noch übertroffen sein, oder aber der Geschmack von lebensmitteltechnologisch beigefügten Chemikalien muss überdeckt werden. Ein Beispiel: Die klebrige Süsse von Glukose- oder auch Invertzuckersirup, aus der Stärkeverzuckerung gewonnen, hat einen aufdringlicheren Geschmack als gewöhnlicher weisser Zucker. Diese Sirupe kristallisieren nicht aus und dienen als Bindemittel, lösen aber die Sehnsucht nach der milderen Süsskraft des gewöhnlichen weissen Zuckers aus.
Bei solch schwierigen Aufgaben, mit Mixturen fertig zu werden, wird man als Esser sozusagen zu einem voll ausgelasteten analytischen Labor, in den eine meistens durchaus angenehme Schwerarbeit geleistet wird. Dabei spielen viele subjektive Faktoren mit, wie Nahrungsmittelpräferenzen (etwa die Vorliebe für Süsses und Salziges) oder -aversionen (Abneigung gegen Unbekanntes oder solches, das mit unangenehmen Erlebnissen in Verbindung gebracht wird). Der physiologische Bedarf und persönliche Erinnerungen aller Art tragen ebenfalls dazu bei. Zu allgemeingültigen Resultaten wird man also nie kommen.
Zudem ist in Rechnung zu stellen, dass es neben den Super- und Normalschmeckern eine ziemlich grosse Zahl von Nichtschmeckern gibt, die schätzungsweise rund 1 Viertel der Bevölkerung ausmachen sollen. Dieses Manko wird auf genetische Faktoren zurückgeführt: Die Zahl der Geschmacksknospen ist bei ihnen wesentlich geringer als bei Normalschmeckern (rund die Hälfte der Leute) oder gar bei Superschmeckern. Auch ethnische Unterschiede spielen mit. In Asien ist der Anteil der Schmecker höher als in Europa und Amerika. Frauen schmecken eher besser als Männer (sie riechen ja häufig auch besser) ...
Die sinnvolle Reihenfolge
Aufgrund dieses Hintergrundwissens stellt sich die Frage, ob es denn richtig sei, mit dem Wein zu beginnen und die Speisen folgen zu lassen. Meistens wird ein Festmahl, bei dem auch die Geselligkeit eine Rolle spielt, mit einem Glas Schaumwein eröffnet: Champagner, Sekt, Prosecco usf. Dagegen ist nichts einzuwenden: Zungen werden benetzt, gelöst, der Magen für die Aufnahme von Speisen vorbereitet. Salzgebäck, warme Häppchen, ein Hors d’œuvre in all seinen Variationen sollten eher zurückhaltend genossen werden, so dass der Appetit erhalten bleibt. Immerhin vermitteln die fantasievoll kombinierten Kleinigkeiten dem Verdauungssystem die Chance zum Warmlaufen. Eine allfällig nachfolgende Suppe schlürft man ohne Weinbegleitung, was auch für den Salat zutrifft, zumal der Essig jeden Wein in dessen Grundfesten erschüttert und zum Gesöff degradiert.
Nach dem Salatgang ist es infolgedessen nötig, den Mund von Essigspuren zu reinigen, wofür frisches Wasser dient, ob mit oder ohne Kohlensäure. Ich ziehe stilles Wasser vor, lasse mir zwischendurch aber auch gern einmal ein perlendes (kohlensäurehaltiges) Wasser („mit Gas“) einschenken, um zu ergründen, ob es stimmt, dass die prickelnde, manchmal leicht brennende Kohlensäure die Geschmacksrezeptoren, die an der Oberfläche der Geschmackssinneszellen sitzen, tatsächlich anregt. Das trifft erfahrungsgemäss zu, doch zum Preis, dass man eine neue Dimension, einen zusätzlichen Reiz, ins ohnehin strapazierte gustatorische System, das für das subjektive Empfinden von Geschmacksreizen zuständig ist, bringt. Deshalb kehre ich jeweils gleich wieder zu stillem Wasser in seiner Urform zurück. Im Übrigen wäre Wasser zum Essen im Prinzip unnötig; es verdünnt die Verdauungssäfte. Der Körper benötigt Wasser erst in einem gewissen Abstand nach dem Essen; das Trinken darf man insbesondere nach einem Nachtessen nicht vergessen, damit man im Schlaf nicht austrocknet und am frühen Morgen keinen Hirnschlag erleidet. Wasser ist bei Tische immerhin ein Mittel zum Zweck der Genussvergrösserung, genau wie der Wein, und hat dort seine Berechtigung. Eine Wasserkaraffe darf wie auch eine zum Dekantieren benötigte Weinkaraffe dekorativ sein. Beide adeln ein Getränk, das man aus ihnen nicht ausschenkt, sondern kredenzt.
Ein angenehmes Mittel zur Mundreinigung während des Essens ist ein neutrales Weissbrot nach dem Beispiel eines nicht zu stark gebackenen Baguettes aus Weizenmehl, wie es die Franzosen von jedem Einkauf, unter den Arm geklemmt, mitbringen. Dieses watteartige Gebäck wirkt wie ein reinigender, austrocknender Schwamm. Anschliessend kann der nächste Schluck Wein in einer gewissermassen jungfräulichen Mundhöhlen-Umgebung wieder in seiner ganzen Fülle genossen werden.
Soll man den Hauptgang mit einem Schluck Wein einläuten? Die übliche, oft mehrfach wiederholte Zuprosterei, die oft ein vernünftiges Mass überschreitet, nimmt einem meistens die Entscheidung ab. Doch sehen wir einmal von diesem Normalfall ab und suchen wir nach dem Idealfall.
Nehmen wir als Beispiel einen Fleischgang, etwa einen Rindsbraten mit einer kräftigen, braunen Sauce mit Markbein, sodann Kartoffelstock und knackiges Gemüse. Genau das hat uns mein ausgesprochen kochtalentierter Schwiegersohn Franz im Anschluss an seine feine Hausmacherpastete als Weihnachtsmenu 2012 aufgetragen. Mir scheint, dass in einer solchen Situation die Speisen im Vordergrund stehen müssen und sie demzufolge die erste Aufmerksamkeit verdienen. Somit beginne ich beim milden, rahmigen Kartoffelstock, der auch als Einfassung für den Saucen-Bergsee dient, degustiere die einzelnen, butterigen Gemüse, führe mir ein Stücklein Braten zu und befasse mich dann interessiert mit der Sauce, zum Beispiel mit Hilfe eines Brotstückleins zum Auftunken.
Darauf wäre ein Schluck Wasser angezeigt. Und nach einer weiteren Zuwendung zum Püree, das beim Abgraben der Seedämme von der ausfliessenden Sauce angereichert wird, und zum Gemüse wird es Zeit, den Wein in Aktion treten zu lassen. Bei unserem Weihnachtsessen war es ein wuchtiger Malverno Rosso Terre di Chieti (2009) aus den Abruzzen mit 14,5 Volumenprozent Alkohol, der als eigenständige Persönlichkeit in voller Harmonie neben der Sauce problemlos standhielt. Etwas Brot kann zwischen Sauce und Wein als Distanzhalter dienen, damit die Unterschiede überhaupt wahrgenommen werden können.
Natürlich braucht man aus der Kunst des Essens und Geniessens nicht den Professor zu machen, wie man so sagt. Doch wenn immer sich das Küchenpersonal eine grosse Mühe gemacht – allein die Pastete gab über 3 Stunden Arbeit (ein Loch im Teigmantel wurde bei Einfüllen der Sülze mit kalter Butter abgedichtet) –, wenn der Koch die besten Zutaten mit aller Sorgfalt ausgesucht, zubereitet und arrangiert hat, ist es zweifellos ein Gebot des Anstands, sich solch einem Kunstwerk aufmerksam zuzuwenden. Dabei wird ja auch das eigene Vergnügen vergrössert.
Ganz schlimm sind Leute bei Tische, die bei solchen Festmahlzeiten des langen und breiten von früheren Essen zu erzählen beginnen, die Vergangenheit abdriften und wahrscheinlich nicht wahrnehmen, was ihnen aktuell vorgesetzt wurde. Ins ähnliche trübe Kapitel gehören die Arbeitsessen, bei denen man sich geschäftlichen Belangen, Sorgen und Aufgaben zuwendet. Entweder sollte man arbeiten oder essen. Es sei denn, man gebe sich mit einer Massenabspeisung zufrieden, denen abwegige Tischgespräche nichts anhaben können. Ein Argument für Leute, die gegenteiliger Ansicht sind, liefern einige Naturvölker, die bei Festgelagen über Frieden und Krieg entschieden haben ...
Kultiviert speisen
Auch wenn das Essen und das Trinken alltägliche Vorkommnisse sind, sollte man darin nicht einfach die Zufuhr von Nährstoffen und Flüssigkeiten sehen, sondern daraus immer ein paar Minuten oder gar eine Stunde der Festlichkeit machen. Das hat mit Kultur zu tun und geht über den eigentlichen Sinn der Fähigkeit, zu riechen und zu schmecken, hinaus.
Im Grunde genommen ging und geht es bei sämtlichen Allesfressern darum, Nahrungsmittel und Flüssigkeiten auf ihre Güte zu untersuchen und herauszufinden, welche für sie bekömmlich und am nahrhaftesten sind. Es muss also verhindert werden, dass verdorbene und/oder giftige Nahrungsmittel über den Mund in den Körper gelangen; für Notfälle ist der Geschmackssinn mit Würge- und Brechreflexen verbunden.
Hat man ein exzellentes Angebot auf dem Tisch, wird das Degustieren zum Vergnügen, und man darf und soll auch darüber sprechen, Empfindungen bekannt geben. Der mit Sorgfalt ausgewählte und bei der richtigen Temperatur servierte, gelüftete Wein als Begleiter zum Essen intensiviert die erhabenen Gefühle. Doch sind auch die Wirkungen des Alkohols in Rechnung zu stellen: Die Stimmung wird dadurch meistens gehoben, wobei es auch solche Leute gibt, die davon grantig werden. Auf jeden Fall wirkt sich der Alkoholkonsum auf das Essverhalten aus.
Man empfindet gerade im höheren Alter die Säure im Wein als Verdauungshilfe und steigert durch diese angenehme Unterstützung den Esswarenkonsum, was nicht unbedingt nachteilig sein muss; denn wie das Über- ist auch das Untergewicht unerwünscht. Ein Normalgewicht lässt sich allerdings auch nicht definieren; für jedes Individuum gilt, situationsbezogen, ein anderer Wert. Und auch das ästhetische Empfinden ist Geschmackssache: Bei einem Hängebauchschwein ohne hängenden Bauch würde ja auch etwas nicht stimmen.
Die Gastronomie als Feinschmeckerei und Pflege des Bauchs ist eine wahre Kunst, die ein Leben lang geübt und verfeinert werden sollte. Sie hat es verdient. Brillat-Savarin: „Die gastronomischen Kenntnisse sind für alle Menschen von Nutzen, da sie darauf abzielen, das ihnen zugedachte Mass an Freuden zu erhöhen.“
Eine Überlebensmassnahme, wie es das Essen im Prinzip ist, kann, darf und sollte zu einer Abfolge von lustvollen Ereignissen führen, alle Tage wieder und mehrmals. Ein guter Vorsatz für die Zukunft (und nicht allein fürs Jahr 2013).
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