Textatelier
BLOG vom: 13.01.2013

Graphologie: Ein verdorrter Zweig der Psychologie

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Als lernbegieriger Jüngling beackerte ich die Graphologie und studierte die Lehrbücher von Ludwig Klages und anderen Schrittmachern der Handschrift-Analyse. Seit über 50 Jahren sind diese Bücher in die hinteren Reihen meiner Bücherwand verbannt.
 
Mein Eifer ging soweit, dass ich selbst hin und wieder graphologische Gutachten für einige Firmen erstellte, während meines 1. Aufenthalts in London. Das sicherte mir ein Nebeneinkommen. Damit konnte ich mit meinem Kohl der Kohlküche im Boarding House entrinnen und hin und wieder chinesische und indische Gerichte geniessen. Das kreide ich mir heute als Schmach an. Schwamm drüber! 
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In den Schweizer Schulen wurden die Kinder zur Schönschrift angehalten. Sie mussten sich an die herkömmlichen Schreibvorlagen halten. (Individualität ist seit jeher verpönt). Mein Vater hatte etliche alte Schülerschreibübungen aus Graubünden, in Tinte geschrieben, gesammelt, die belegen, dass schon damals grosser Wert auf eine gut leserliche Schrift gelegt wurde. Eine Vorbedingung dazu war, die Feder richtig zu halten. Die Hand mitsamt den Fingern hatte ihre Aufgabe, die Schrift zügig von links nach rechts aufs Blatt zu bringen. Auch der Violinbogen muss richtig geführt werden, damit die Töne rein erklingen. 
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Viele Schüler halten lebenslang an der von der Schule vermittelten Handschrift fest. Eigenwillige Veränderungen des Schriftbilds findet man am ehesten bei Künstlern, besonders ausgeprägt bei Schriftstellern. Ihre Schriftproben faszinierten mich, genau wie heute alte kaligraphische Texte, etwa die Ligaturen, vermutlich aus mittelalterlichen Wortbildern ableitbar.
 
Die Schriften aus der ägyptischen und der babylonischen Vergangenheit haben sich aus Bildern entwickelt. Am deutlichsten hat sich die Bilderschrift in der chinesischen und japanischen Schrift erhalten. Den Höhepunkt von malerischen Zierschriften erreichten die dem Koran gewidmeten Texte, wovon ich einige in meiner Sammlung habe. Die Kalifen (mohammedanische Herrscher) förderten die Kaligraphen. Ihre Meisterleistungen sind einzigartig. Ich bewunderte diese Zeugnisse der Schriftkunst in der Ausstellung „Spirit & Life“, vom “Aga Khan Trust for Culture” veranlasst (London 14. Juli bis 31. August 2007). Nach diesem Abstecher schwenke ich wieder ins graphologische Thema ein. 
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Die Technologie hat die Handschrift verdrängt und damit auch die Graphologie. Bewerbungsunterlagen benötigen heute keine Handschriftproben mehr. Auch die Stenographie hat den Prellblock der Zeit erreicht. Aus der Handschrift ist allenfalls Gesudel geworden.
 
Das ging mir auf, als ich aus der Bücherwand die von Anja und Georg Mendelsohn verfasste graphologische Übersicht „Der Mensch in der Handschrift“ klaubte und durchblätterte. Diese Übersicht, 1928 vom Verlag E.A. Seemann in Leipzig veröffentlicht, zehrt von Ludwig Klages graphologischen Erkenntnissen und ist mit vielen Schriftproben bereichert. Die Fadenbindung, Winkel-, Girlanden- und Arkadenbindungen werden dabei interpretiert, vom Gesamteindruck des Schriftbilds ausgehend. 3 Seiten bebildern die unterschiedlichen Unterlängen des Buchstabens „g“ als „Ausdruck des Sexuallebens in den Unterlängen“. Ein normal geschleiftes „g“ wird „einem jungen Mädchen, unerwacht“ zugeschrieben. Ein wuchtig nach links geblähtes „g“ deutet auf „Homosexualität“. Ein weiteres „g“, diesmal ornamental verrenkt, wird kurzerhand als „alles überflutende Sinnlichkeit“ interpretiert. Da reizt mich heute zum Lachen …
 
In diese Übersicht waren 2 handgeschriebene, inzwischen arg vergilbte Seiten eingestreut, wohl von einem Leser geschrieben, der sich intensiv mit diesem Text auseinandergesetzt hatte. (Ich bin froh, dass ich meinen graphologischen Jugendwirren längst entronnen bin.)
 
Ich streue hier einige Ausschnitte aus dem Text dieses aufmerksamen Lesers ein:
 
„Anja Mendelsohn: Fadenbindung beherrscht mehr und mehr die Handschrift unserer Zeit. Sie spiegelt den Zustand der Auflösung, der Wandlung, des Chaos, in dem wir uns befinden …
 
Die Psychologie sieht im neurotischen Menschen vielfach den Ansatz zu einem neuen Menschentyp und betrachtet die Neurose als missglückten Versuch zur Lösung unserer Konflikte …
 
Je mehr die Neurose den Charakter der Zwangsneurose bekommt, um so starrer wird die Schrift und umso mehr gerät sie in eine übermässige Verbundenheit.“
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Fazit: Am besten geht man psychologischen und graphologischen Gutachten aus dem Weg. Das ist die Summe meiner Erfahrung.
 
 
Hinweis auf ein weiteres Blog zur Graphologie
 
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