Textatelier
BLOG vom: 17.04.2013

Mit Käse und Marmelade: Eine Seele essen, ein Genuss!

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Rainer Maria Fassbinder drehte 1974 den Film „Angst essen Seele auf“, ein Melodrama um einen Gastarbeiter, der durch die Probleme im fremden Deutschland ein Magengeschwürleiden bekommt.
 
Im Schwäbischen, also in Stuttgart D und Umgebung, gehe ich in eine Bäckerei und verlange eine Seele. Da wird nicht gefragt: „Wieso, haben Sie keine?“, sondern man händigt mir ein Weissbrot aus, das einem Baguette ähnelt.
 
Zu Hause schneide ich die Seele auf und belege sie mit Käse und mit Marmelade. Ich esse sie ganz ohne Angst!
 
Wieso das Brot „Seele“ heisst? Es gibt 2 unterschiedliche Erklärungen: Bei Wikipedia heisst es, das habe mit dem Fest Allerseelen zu tun, das vermutlich an ein vorchristliches Totenfest anknüpft. Den Armen zum Ende des Herbstes und zu Beginn des Winters ein Brot zu schenken, versprach eine gute Ernte im nächsten Jahr. Nicht historisch belegt ist das Gelübde im Dreissigjährigen Krieg, wenn die Stadt Ravensburg D von der Pest verschont werde, sei jedem Bettler zu Allerseelen ein Brot zu schenken.
 
Die andere Erklärung hat Fritz Mauthner, wenn er schreibt: „Es ist wohl ursprünglich ein Scherz gewesen, dass der Bäcker (dem Volke stets ein Urbild des Wucherers) seine Seele ins Brot gebacken habe, die Hohlräume der Ware mit bezahlen lasse; nachher wurden Sprichwörter daraus. Ich sehe in der ‚Seele’ des Brotes, d  h. der Stelle, wo für das Auge nichts ist, und in der ‚Seele’ des Bäckers, die für den Wucher in der Hölle leidet, die gleiche grobe Sachvorstellung.“
 
Ich werde jetzt die Hohlräume im Brot anders sehen als nur als ein Backfehler!
 
Der Begriff taucht auch in anderen Berufen auf, z. B.:
 
1) bei der Stukkaturarbeit, der aus dem Groben gearbeitete Kern der Figuren, aus Gips, Kalk u. Sand ist; 2) bei Heringen die lange, silberfarbene Blase, welche sich im Inneren an dem Rücken derselben hinzieht; 3) der von dem Dorn gebildete hohle Raum einer Rakete; 4) der hohle Raum in der Achse von stärkeren Hanf- oder Drahtseilen; 5) die Höhlung des Laufes eines Feuergewehrs; 6) das Stäbchen von Tannenholz, welches in den Bogeninstrumenten (Geige) lotrecht aufgestemmt ist (Quelle: „Pierer’s Universal-Lexikon“).
 
Wenn die Geigerin von ihrer „gebrochenen Seele“ spricht, meint sie wahrscheinlich ihr Instrument!
 
Mauthner folgend ist da, „wo für das Auge nichts ist“, die Seele. Nur wenige Begriffe haben so vielfältige Bedeutungen. Ausserhalb der oben genannten müssen wir zwischen mythischen, religiösen, philosophischen oder psychologischen Traditionen und Lehren unterscheiden.
 
Bei religiösen und philosophischen Konzepten wird von der Unsterblichkeit der Seele ausgegangen; der Tod sei der Zeitpunkt der Trennung vom Körper. Im Hinduismus geht die Seele (Atma oder Atman, ursprünglich aus dem Sanskrit: „Lebenshauch, Atem“) dann in ein anderes Lebewesen über, solange, bis sie ins Nirwana eingeht. Im Christentum, das eine Seelenwanderung streng ablehnt, „verbleibt“ sie in der Unterwelt, bis sie bei der „Auferweckung am jüngsten Tage“ wieder mit dem Körper vereint wird.
 
Angeblich kann man seine Seele auch dem Teufel verkaufen. Einige Persönlichkeiten werden des Handels bezichtigt: Papst Sylvester (wegen seiner Intelligenz!), Nicolo Paganini (wegen seines virtuosen Geigenspiels), Dr. Faustus (auf den sich Marlowe und Goethe berufen) und noch einige andere, wie z. B. einer, der selbst Anspielungen in diese Richtung machte, Robert Johnson (1911‒1938), angeblich einer der grössten amerikanischen Blues-Musiker:
 
Die Legende besagt, dass er der grösste Gitarrist aller Zeiten werden wollte. Dafür sollte er zu einer Strassenkreuzung gehen, um dort den Teufel zu treffen. Der Teufel stimmte seine Gitarre, wodurch er zum Meister seines Instruments wurde. Johnson tat wenig, um die Gerüchte zu entkräften, die über ihn kursierten, im Gegenteil! Er erzählte auch jedem bereitwillig, dass er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe und wie es dazu kam.“
 
Seit vielen Jahrhunderten wird diskutiert, ob es die Seele überhaupt gibt, ob sie teilbar ist, wo im Körper sie ihren Sitz hat, ob sie eine persönliche Identität begründet, ob sie unsterblich sei und, und, und.
 
Die Seele ist in der Haut ebenso wie im Hirn, sie ist eben, wohl verstanden, Form des Leibes.
 
Und doch ist sie zugleich auch mehr, denn der Leib ist an bestimmten Orten. Sein Aktionsradius kann durch Instrumente verlängert werden….
 
Die Seele jedoch kann in die Ferne wandern…
 
Das Seelische greift auf ganze Gemeinschaften über, es erscheint in der Form des Überseelischen. Tierstaaten, Symbiosen, Massenpsychose scheinen auf ein gemeinsames Überseelisches hinzuweisen, so dass hier Seele durchaus nicht die Bedeutung des Innerlichen, Individuell-Existentiellen haben kann. Sie besagt viel neue Schicht im Bereich des Menschlichen … Was von Leib und Seele gilt, gilt auch vom Geiste, wenn man dem Geiste eine von der Seele verschiedene Region des Menschseins zuteilt“ (Marcel Reding).
 
Wenn ich diese Darstellung in einem Buch über die Existenzphilosophie lese, bin ich noch mehr verwirrt. Ist die Seele jetzt Geist oder der Geist Seele? Haben Tiere auch eine Seele oder etwas „Seelisches“? Wenn die Seele „in die Ferne wandert“, ist sie dann nicht mehr bei mir, sondern auf Reisen? Vielleicht ist es Methode, einen Begriff, den unsere Geistes- und Religionswissenschaftler nicht fassen können, so verwirrend zu beschreiben! (Sind das überhaupt Wissenschaften im strengen Sinne?)
 
Es muss sie geben, die Seele, schliesslich sprechen viele von „der guten Seele“ und meinen damit besonders liebe Freunde, hilfsbereite und sozial engagierte Menschen, oder man spricht von der „armen Seele“ bei einem Menschen, dem etwas Schlimmes passiert ist.
 
Dass die „Seele“ synonym neben „Psyche“ auch „Geist“ genannt wird, weitet den Sprachgebrauch enorm aus. „Psychosomatisch“ wird allgemein so verstanden, dass Seele, Geist und Körper irgendwie aufeinander einwirken.
 
Axel Schweickhardt definierte 2005: „Psychosomatik bedeutet, dass Körper und Seele zwei untrennbar miteinander verbundene Aspekte des Menschen sind, die nur aus methodischen Gründen oder zum besseren Verständnis unterschieden werden. Dies bedingt keine »lineare« Kausalität in dem Sinne, dass psychische Störungen körperliche Krankheiten verursachen. Solches würde zu einem Dualismus führen, bei dem es Krankheiten mit psychischer Genese und Krankheiten mit somatischer Genese gibt.“
 
Er betont, dass es ganz so einfach nicht ist: „Ein einheitliches Modell für die Wechselwirkungen zwischen Körper, psychischen Prozessen und Umwelt existiert nicht. Meist werden Teilaspekte beschrieben, die von unterschiedlichen Theorien aufgenommen werden.“
 
Endlich jemand, der zugibt, dass alles zunächst einmal Theorien sind. Körper und Seele sind 2 Aspekte des Menschen. Mehr kann niemand wissenschaftlich aussagen, und auch darüber lässt sich genüsslich streiten, wenn ich z. B. behaupte: „Ich habe zwar Geist und Psyche, aber keine Seele. Meine Gefühle werden durch biologisch-chemische Prozesse vor allem im Gehirn ausgelöst, was bewiesen ist!“
 
Wer will, kann sich sein ganzes Leben lang mit Literatur über das Thema versorgen. Er wird nicht zu einem Ende kommen!
 
Ich beisse gern in eine Seele und befördere sie in meinen Magen. Habe ich jetzt 2 Seelen? Es gibt übrigens auch philosophische Überlegungen darüber, dass jeder Mensch mehrere Seelen haben könnte! Soll ich noch eine Seele essen? Oder bekomme ich davon ein Magengeschwür (bestimmt nicht, das wird doch bakteriell verursacht und nicht psychosomatisch, oder doch)?
 
 
Quellen
Fritz Mauthner: „Zur Psychologie, Beiträge zu einer Kritik der Sprache“, Band 1, 1906.
Marcel Reding: „Die Existenzphilosophie, Heidegger, Sartre, Gabriel Marcel und Jaspers in kritisch-systematischer Sicht“, Düsseldorf, 1949.
Axel Schweickhardt, Kurt Fritzsche, Michael Wirsching: „Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“, (Springer-Lehrbuch), Heidelberg 2005, S. 5 und 7.
 
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