Textatelier
BLOG vom: 28.08.2013

Das Ich und das Handeln im Sinne seiner Bestimmung

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Ich lese über die Schriften des Philosophen Johann Gottfried Fichte (1762‒1814):
 
Da das Ich reine Tätigkeit ist, so strebt es in jeder Weise nach Selbsttätigkeit, Freiheit und Autonomie. Um seine Tätigkeit voll entfalten zu können, bedarf jeder Mensch daher in erster Linie persönliche Freiheit und eines Arbeitsfeldes. Auf beides steht jedem ein uneingeschränktes Recht zu. Es sind Urrechte (..). Die Sittenlehre zeigt, wie die verschiedenen Triebe im eigenen Ich zueinander stehen sollen. Seiner intelligiblen Natur nach strebt das Ich nach reiner Selbsttätigkeit, nach absoluter Freiheit.
 
Das Streben wird durch die Naturtriebe aufgehalten. Sie sind zur Existenz und zur Selbsterhaltung notwendig und sollen nicht unterdrückt werden. Der Mensch soll sich aber nicht von ihnen beherrschen lassen, sondern so handeln, dass er immer mehr Macht über die sinnliche Natur gewinnt. Der sittliche Grundsatz: Handle jedesmal nach (im Sinne) deiner Bestimmung!
 
1. Treffen
Zwei Freunde unterhalten sich.
 
Ich habe ein Problem!
 
Ja?
 
Ich hatte einfach Lust. Ich wollte wieder eine Frau kennenlernen. Je älter ich werde, desto schwieriger wird es. Und so habe ich im Internet mit einer Frau Gedanken ausgetauscht, in Englisch wird das chatten genannt.
 
Und?
 
Sie hat humorvoll geschrieben. Nicht tiefsinnig.
 
Sag’ mal ein Beispiel!
 
Über das Wetter zum Beispiel. Dass sie sich immer falsch kleide, ziehe sie morgens etwas Wärmendes an, komme die Sonne, und sie schwitzt; ziehe sie etwas Leichtes an, bleibe es kühl. Sie fände das lustig.
 
Und was schliesst du daraus?
 
Sie macht sich schon Gedanken über das Leben. Vielleicht nimmt sie alles nicht so ernst.
 
Glaubst du, sie ist oberflächlich?
 
Vielleicht will sie sich auch nur gut darstellen.
 
Ob sie einsam ist?
 
Das denke ich mir, sie sucht jemand, sie will unbedingt einen Partner.
 
Ist sie enttäuscht vom Leben?
 
Ich habe sie gefragt, was sie so mache, und sie sagte nur, es sei nichts Besonderes.
 
Was hast du geantwortet?
 
Ich habe sie gefragt, was sie in ihrem Leben als wichtig ansieht. Sie hat viele Fragezeichen gemacht und dann geschrieben: ‚Dass ich ein schönes Leben habe’.
 
Meint sie jetzt, sie habe eins oder meint sie, sie habe keins?
 
Ich denke, eher nicht. Auf die Frage: „Was ist ein schönes Leben?“ kam jedenfalls keine Antwort.
 
Und wie ging es weiter?
 
Jetzt will sie etwas über mich wissen.
 
Und?
 
Wie definiere ich mich denn jetzt?
 
Wie wäre es mit Name, Beruf, Interessen?
 
Ich zweifle.
 
Was ist daran falsch?
 
Ich bin nicht davon überzeugt, dass das mich ausmacht!
 
Verstehe ich nicht!
 
Ich bin ich! Mein Name, mein Beruf, meine Interessen sind nicht mein Ich!
 
Was denn?
 
Ich gebe dir ein Beispiel: Manche Menschen ändern ihren Namen, ich kenne einen Mann, der hat den Namen seines leiblichen Vaters angenommen. Bisher waren es Frauen, die bei der Vermählung den Namen des Mannes angenommen haben, heutzutage kann sich das Paar zwischen seinem, ihrem und einem Doppelnamen entscheiden.
 
Was willst du mir damit sagen?
 
Ändert sich dadurch die Persönlichkeit, das Ich?
Nein, natürlich nicht!
 
Der Name sagt also nichts aus!
 
Momentan identifizierst du dich doch damit!
 
Schon, aber nur äusserlich, wenn er mir nicht gefallen würde, hätte ich ihn geändert.
 
Ich verstehe. Wer bist du denn?
 
In erster Linie ein Ich mit Selbstbewusstsein!
 
Das unterscheidet dich nicht von Millionen Anderer. Wie wäre es denn zuerst mit einer Beschreibung deines Äusseren?
 
Alles, was ich über mich selbst erfahren kann, ist das Ergebnis einer Beobachtung!
 
Dann beobachte dich ganz objektiv von aussen!
 
Du meinst Alter, Länge, Gewicht, Haar- und Augenfarbe, usw.?
 
Damit könnte man anfangen.
 
Was sagt das über mich aus?
 
Für viele Menschen ist das Aussehen wichtig, besonders bei einer Beziehung!
 
Du meinst, wenn ich beispielsweise schreibe, ich sei 40, blond, 1.70 m lang, wiege 120 kg und meine Haarfarbe sei braun, sagt das etwas aus?
 
Es gibt Frauen, die bei dem Gewicht und der Körpergrösse sich einen Mann mit dickem Bauch vorstellen und entscheiden, der passt nicht zu mir. Sie schliessen daraus auf einen Pykniker, der laut der Kretschmerschen Körperbautypen ein zyklothymisches Temperament hat und zu unkalkulierbarem Wechsel von Niedergeschlagenheit und freudiger Erregtheit neige.
 
Was heisst schon „passt“, und kann man wirklich vom momentanen Aussehen auf den Charakter schliessen? Wenn sie das von Vorneherein annimmt, dann Tschüss!
 
Dann weisst du jedenfalls, dass aus der Sache nichts wird!
 
Gehen wir davon aus, sie teile mir mit, dass das Aussehen für sie nicht ausschlaggebend ist!
 
Damit wärst du schon einen Schritt weiter. Du könntest sie fragen, was es denn ist.
 
Sie hat mich ja schon gefragt, wie ich denn so bin.
 
Und was hast du geantwortet?
 
Ich bin ich! Und dass das nicht so leicht zu beantworten ist und ich darüber nachdenken werde.
 
Das hat sie akzeptiert?
 
Ja, und dann haben wir uns über Politik ausgetauscht.
 
Da habt ihr ja schon ein gemeinsames Thema gefunden!
 
Ja, aber jetzt wartet sie auf eine Antwort.
 
Das Wort „ich“ weist auf deine „Persönlichkeit“ hin, als das, was dir von dir selbst bewusst wird. Beginne mit deinem sozialen Status, mit deinen Bedürfnissen, Interessen, Zielen und Wünschen.
 
Und dann?
 
Deine Gedanken- und Gefühlswelt würde ich erst danach darlegen!
*
 
2. Treffen
Hallo, wie geht’s dir?
 
Gut! Und Dir, was macht deine Chat-Bekanntschaft?
 
Wir sind schon viel weiter gekommen!
 
Das musst du mir näher erklären!
 
Ich habe ihr erzählt, dass ich lange mit einer Frau zusammen gelebt habe, aber jetzt allein lebe.
 
Wie hat sie reagiert?
 
Sie berichtete, sie wohne in einer Wohngemeinschaft mit einer Freundin zusammen, die habe einen Freund. Manchmal fühle sie sich wie das dritte Rad am Wagen.
 
Und wie hast du dich weiter vorgestellt?
 
Ich habe dargestellt, was mich interessiert: Lesen, Fotografieren, Reisen, Politik, klassische Musik, Philosophie, die deutsche Sprache, Literatur, Schwimmen, im Fernsehen: Dokumentationen und Tatort-Krimis.
 
Wie hat sie geantwortet?
 
Sie hat über ihre Interessen geschrieben: Fernsehen, Fitness-Club, Tanzen, Reisen, Schlagermusik, Spielen.
 
Wenig Berührungspunkte, würde ich sagen!
 
Ach so, dann hat sie noch erwähnt, dass sie Kinder liebe und gern selbst eins haben möchte.
 
Ich kenne dich, da haben bei dir die Alarmglocken geläutet!
 
Ich habe das Gefühl, die Frau suche ganz schnell einen Ehemann oder zumindest einen Vater für ihr Wunschkind! Ich für mein Teil möchte kein Kind in diese Welt setzen!
 
Hast du sie gefragt, ob sie sich der ganzen Tragweite bewusst ist, ein Kind zu haben?
 
Ja, denn damit berühre ich ganz unmittelbar ihr Ich!
 
Jetzt bin ich aber gespannt auf ihre Antwort.
 
Sie hat geschrieben, es käme aus ihrem Innersten; sie spüre, es fehle etwas in ihrem Leben.
 
Hast du sie gefragt, ob ihr nur das Kind fehle und nicht der Partner?
 
Ja
 
Wie hat sie geantwortet?
 
Dass sie fühle, das sei ihre Bestimmung. Das Kind sollte aber mit einem Vater aufwachsen.
 
Und was hast du erwidert?
 
Dass ich der Ansicht bin, ein Kind beschränke meine individuelle Freiheit und Autonomie.
 
Ich wette, ihre Antwort war, ob das nicht purer Egoismus ist?
 
Stimmt, aber ich habe gekontert: Ein Kinderwunsch ist das auch!
 
Und, was hat sie dazu gemeint?
 
Das sei ein Naturtrieb, den sie nicht unterdrücken könne, den sie als notwendig und zur Selbsterhaltung ansehe.
 
So wie ich dich kenne, hast du geantwortet, du willst dich nicht davon beherrschen lassen!
 
Richtig, und meine Bestimmung sei das nicht!
 
Und wie seid ihr weiter verblieben?
 
Dass wir so nicht weiter kommen! Was sie denn meine!
 
Und?
 
Sie schrieb, wir sollten uns persönlich darüber unterhalten, wir sollten uns treffen!
 
Bist du darauf eingegangen?
 
Ja, sie ist einfach fantastisch. Es war Liebe auf den ersten Blick! Du glaubst gar nicht, wie ich mich verknallt habe!
 
Und deine Vorsätze?
 
Komm’ mir doch nicht damit! Sie ist meine Bestimmung! Unsere Streitgespräche sind einmalig!
 
Bei Verliebtheit schaltet sich der Verstand aus!
 
Das ist mir egal. Sie passt zu mir. Ich geniesse es einfach!
 
Gönne ich dir, aber pass’ auf dich auf!
*
 
Anmerkung: Das frisch verliebte Paar hat kurz darauf geheiratet. Die Meinungs- und Interessenunterschiede und ihr Kinderwunsch waren aber so gross, dass die Ehe nach einem Jahr wieder geschieden wurde. Jetzt lebt die Frau mit einem anderen Mann zusammen. Sie ist schwanger.
 
Ich (ego, me, proprium) (1) Allgemeine Bezeichnung für ein >angenommenes Inneres<, für den >Kern< oder die >Struktur< der Persönlichkeit. Diese Annahme kann sich (a) auf die Gesamtheit all dessen beziehen, was einem Individuum an und von sich selbst >bewusst> wird.. Sie kann sich (b) auch vorwiegend auf bewusste und unbewusste Arten und Formen der Orientierung in Bezug auf bestimmte Gegebenheiten beziehen (z. B. Interessen, sozialer Status, Bedürfnisse, Wünsche).
 
Quelle
Friedlein, Curt: „Lernbuch und Repetitorium der Geschichte der Philosophie“, Hannover 1947, 8.Aufl.
Drever, James; und Fröhlich, W.D.: „dtv Wörterbuch zur Psychologie“, 1972, 7.Aufl.
 
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