BLOG vom: 06.11.2013
Herbstgedanken – Winde und Melodien im Nordseegebiet
Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
Es ist windig. Die Bäume rauschen im Wind. Ich schliesse die Augen und habe auf dem flachen Festland das Empfinden, ich sei am Meer und die Wellen rollten ans Land.
Der Wind erzeugt Gedanken in mir. Der eine stammt aus meiner Kindheit. Ich weiss nicht mehr genau, welches Buch von Johanna Spyri es war. Sie ist die Autorin der Geschichte ums Heidi, in der das Mädchen, ein Waisenkind, in die Berge umziehen musste und dort den Alpöhi, auch Alm Öhi genannt, ihren Grossvater, traf. Der Grossvater lebte als Einsiedler in einer Hütte in den Alpen, und er sagte dem Mädchen, dass es dem Wind gut zuhören soll, denn er habe viel zu erzählen, der Wind komme von weit her.
Eine Melodie kommt mir in den Sinn, mit der Zeile:
„Die kalten Winde bliesen mir grad ins Angesicht. Der Hut flog mir vom Kopfe. Ich wendete mich nicht.“
Es ist eine Zeile aus dem Lied „Am Brunnen vor dem Tore“ aus dem Liederzyklus „Die Winterreise“ von Franz Schubert.
Der Wind selbst ist unsichtbar und unhörbar. Wir hören ihn erst, wenn er sich an etwas reibt, das sich ihm in den Weg stellt, seien es Berge und Hügel, Segel, Fahrzeuge, Häuser, Bäume, wir selbst oder anderes.
Ende Oktober 2013 hatten wir in unseren Breiten einen Herbststurm mit Windgeschwindigkeiten von über 100 km/h. An diesem Tag fuhren meine Frau und ich von der Lübecker Bucht weg parallel zur Nordseeküste in die Niederlande nach Bergen.
Im niederländischen Radio warnte man die Bewohner, nur auf die Strasse zu gehen, wenn es unbedingt erforderlich wäre. In den Nachrichten wurde von einigen Todesfällen in England, in den Niederlanden und in Deutschland berichtet, häufig verursacht durch Unfälle mit herabstürzenden Bäumen, Ästen, Dachpfannen und anderem.
Die Strassen waren nicht sehr stark befahren. Immer wieder musste ich gegenlenken, wenn der Wind den Wagen in die Mitte der Strasse schieben wollte. Ich empfand es nicht als gefährlich. Wir fuhren über den Afsluitdijk, deutsch Abschlussdeich, einen Sperrdamm.
Er trennt die Zuidersee, ursprünglich ein Salzwassergebiet und zugehörig zur Nordsee, von dieser ab und veränderte dadurch das salzige Wasser über die Jahre hinweg ins Süsswassergebiet, das jetzt das Ijsselmeer genannt wird. Der Deich wurde zwischen 1927 und 1933 gebaut, ist 32 km lang, 90 m breit und erhebt sich etwas mehr als 7 m über den Meeresspiegel. Darauf ist eine gut ausgebaute Strasse.
Wir fuhren auf dieser Strasse: Rechts war meistens der über die Strasse ragende Teil des Deichs zu sehen. Er verdeckte die Sicht auf die Nordsee, und links schloss sich das Ijsselmeer an, eine grosse Wasserfläche. Der Wind liess die Wellen mit weisser Gischt gegen den Deich rollen. Er war kaum zu spüren; er konnte nicht ungehindert nach Norden blasen.
Der kleine Ort Bergen liegt 5 km vor der Küste. Er lebt hauptsächlich von Touristen. Der nächste grössere Ort ist Alkmaar, die Stadt, die durch Käse bekannt ist. Im Sommer laufen die Käseträger für die Touristen über den Markt. Die Stadt beherbergt unter anderem ein Käse- und ein Biermuseum.
Am nächsten Tag war es zwar noch immer windig, aber da der Ort durch ein breites Dünengebiet geschützt ist, merkte man davon wenig. Wir fuhren mit Fahrrädern zur Nordsee. Hinter den Dünen am Strand wehte der Wind stärker, und die Wellen rauschten ans Land. Ein paar Surfer mit Lenkdrachen liessen sich vom Wind mitziehen und machten Sprünge über die Wellen. Man kann lange Wanderungen entlang des Meers unternehmen, nur die vom Wind erzeugten Geräusche und das Geschrei der Möwen im Ohr. Es ist angenehm, in einem der Strandcafés zu sitzen, heissen Tee zu trinken und geschützt vor Wind und Wetter durchs Fenster auf das wilde Meer zu schauen.
Was hat uns der Wind zu erzählen?
Er kann nur blasen, auch wenn uns der Öhi oder Zarah Leander im Schlager „Der Wind hat mir ein Lied erzählt, von einem Glück, unsagbar schön ...“ etwas anderes weismachen will.
Er entsteht durch die Unterschiede im Luftdruck zwischen Luftmassen, die den Ausgleich von einem höheren in ein tiefes Luftdruckgebiet suchen, und zwar so lange, bis der Luftdruck wieder ausgeglichen ist.
Könnte er erzählen, wäre das bestimmt interessant; denn er kommt wirklich von weit her, oft aus dem Süden. Manchmal finde ich sogar Saharasand auf meinem Auto, das er über Tausende von Kilometer hinweg mitgetragen hat.
Wenn man gegen den Wind angeht, kann er schon einmal ungemütlich sein und vermischt mit Regen die Tropfen wie Nadelstiche ins Gesicht jagen. Und in der anderen Richtung treibt er uns vorwärts, manchmal schneller als wir das wünschen.
Noch einen Aspekt möchte ich erwähnen. Wir sagen „frischer Wind“ und richtig, der Wind bläst all die Schadstoffe, entstanden durch Verbrennungsmotore, Kamine und vieles mehr, einfach weg und reinigt die Luft.
So kann der Wind etwas Gutes bringen, aber auch Schaden anrichten. Und es ist gut, dass der Mensch die Natur nicht bezwingen kann, die Jahr für Jahr ihren Gang geht!
Hinweis auf weitere Blogs zum Thema Wind
31.07.2005: Wetterfühligkeit: Vom Hexenwind (Föhn) aufs Kreuz gelegtHinweis auf weitere Blogs von Bernardy Richard Gerd
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