Textatelier
BLOG vom: 30.11.2013

Gespräch mit meinem Spiegelbild und Reflexionen darüber

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Ich wache auf, stehe auf, gehe ins Bad. Im Spiegelschrank sehe ich mein Gesicht, spiegelverkehrt. Ich klappe die Spiegeltür auf, schaue nach links und sehe mich doppelt, das 2. Mal das Spiegelbild vom Spiegelbild, nicht mehr seitenverkehrt.
 
Ich sage: Guten Morgen Richard, wie geht’s dir heute?
 
Das Spiegelbild antwortet: Frag’ nicht so blöd, schau’ dich doch einmal an!
 
Wie meinst du denn das?
 
Na, wie du aussiehst! Strubbelige, zerzauste Haare, unrasiert, und überhaupt.
 
Jetzt mach’ mal halblang! Ich habe noch nicht angefangen!
 
Bah, angefangen! Meinst du, du könntest viel an deinem Äusseren tun?
Rasieren, zum Beispiel!
 
Wenn du eine neue Klinge einlegst, schaffst du auch die Stoppeln!
Danke Schlauberger!
 
Viel wird es aber nicht nützen!
 
Und wieso nicht, wenn ich fragen darf?
 
Jetzt tust du so, als wenn du dich verschönern könntest!
 
Kann ich auch!
 
Haha, und deine Falten im Gesicht, deine eingefallenen Wangen, deine herausstehenden Backenknochen?
 
Ja und? Schliesslich bin ich nicht mehr 25!
 
Das wäre ja noch schlimmer, wenn du so mit 25 aussehen würdest!
 
Für mein Aussehen brauche ich mich nicht zu schämen!
 
Wie du meinst, aber grosse Chancen bei Frauen hast du nicht mehr!
 
Weisst du, dass du ein bisschen unverschämt bist!
 
Ich sage nur die Wahrheit, du Illusionsheini!
 
Halt’ die Klappe, du bist wohl mit dem falschen Fuss aufgestanden!
 
Ich nicht, ich bin nicht spiegelverkehrt!
 
Wenn ich ein Illusionsheini bin, dann bist du ein Reflexionsheini!
 
Es reicht, mach’ endlich den Spiegelschrank zu!
 
Habe ich das jetzt geträumt? Au, jetzt schneide ich mich auch noch mit der neuen Klinge! Was ist denn los heute Morgen?
 
Spiegel“ ist ein maskulines Nomen und im Plural unverändert.
 
Schliessen Sie die Augen und lassen Sie Ihre Gedanken um das Wort kreisen oder nehmen Sie sich ein leeres Blatt vor und schreiben alles auf, was Ihnen dazu einfällt.
 
Vieles von dem, was Sie aufgeschrieben haben, wird nicht nur Sie, sondern jeder andere auch denken.
 
In den meisten Fällen begegnet Ihnen ein Spiegel kurz nach dem Aufstehen, etwa im Bad. Sie benützen ihn zur Rasur, zur Kosmetik, zur Haarpflege. Wenn Sie feststellen, dass Sie nicht wissen, wen Sie im Spiegel sehen, sollten Sie entweder nüchtern werden oder zum Arzt gehen, und wenn Ihr Spiegelbild anfängt, mit Ihnen zu sprechen, vielleicht einen Psychiater konsultieren!
 
Jetzt kommt es darauf an, wie Ihr Tagesablauf ist. Als Autofahrer benutzen Sie die Spiegel innen und aussen an Ihrem Wagen, als 2-Rad-Fahrer manchmal den Rückspiegel.
 
Sollten Sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit oder sonstwo hinfahren, und es ist Montag, haben Sie sich vielleicht das Nachrichtenmagazin Der Spiegel gekauft und lesen darin.
 
Vielleicht werfen Sie auch einen Blick in Ihren Taschenspiegel, um zu prüfen, ob bei Ihrem Aussehen alles so ist, wie Sie es sich vorstellen.
 
Gehen Sie etwa durch einen Park, in dem es einen Teich gibt, sehen Sie, wie sich die Bäume und die Enten im Wasser spiegeln.
 
Bei den verschiedenen Beschäftigungen, denen Sie vielleicht nachgehen, könnten Sie weitere Bezüge zum Spiegel haben:
 
Im Kindergarten haben Sie als Erzieherin den Kindern das Märchen Schneewittchen vorgelesen.
 
Über ein Jahr nahm sich der König eine andere Gemahlin. Es war eine schöne Frau, aber sie war stolz und übermütig und konnte nicht leiden, dass sie an Schönheit von jemand sollte übertroffen werden. Sie hatte einen wunderbaren Spiegel, wenn sie vor den trat und sich darin beschaute, sprach sie:
 
-- Spieglein, Spieglein an der Wand, Wer ist die Schönste im ganzen Land?
 
... so antwortete der Spiegel:
 
-- Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.
 
Da war sie zufrieden, denn sie wusste, dass der Spiegel die Wahrheit sagte.
 
In der Grundschule haben Sie als Lehrerin Ihren Schülern die Spiegelschrift gezeigt.
 
Sie beschäftigen sich mit der deutschen Sprache? Dann wird Sie vielleicht die Herkunft des Wortes interessieren:
 
Eine Art Spiegel kannten schon die Germanen (althochdeutsch scucor = Schattenbehälter), den verbesserten Metallspiegel (speculum) lernten die Germanen von den Römern kennen. Das Verb specio weist auf unser Verb spähen hin, dem Ins-Auge-Fassen. Schattenbehälter? Der Spiegel galt als moralische Erkenntnis, jemandem den Spiegel vorhalten heisst auch, sich mit den Schattenseiten der Person auseinander zu setzen.
 
Der Spiegel kann aber auch als Vorbild für mustergültiges Verhalten herhalten, und so wurden für den Adel zur Erziehung geeignete Lehrbücher ‚Fürstenspiegel’ genannt. Und diese wurden in der Schelmengeschichte vom ‚Ulenspiegel’, die die Erlebnisse des Till erzählt, auch ‚Eulenspiegel’ genannt, lächerlich gemacht.
 
An Musik interessiert, wie ich es bin, fällt mir die sogenannte Spiegel-Arie aus Jacques Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen ein. Dapertuto singt im 4. Akt: 
Leuchte, heller Spiegel, mir
und blende ihn mit deinem Schein,
dass sein Herz gehöret ihr -
sein Leben mir allein!
Wie der Falter, der sich fängt
in dem hellleuchtenden Glanz
und die Flügel sich versengt,
so blende ihn nun ganz,
und mein ist dann seine Seele!
Sein Herz muss er ihr geben,
zerstört ist dann sein Leben!’
 
Allerdings nur in der deutschen Übersetzung, so schön wie der Bariton klingt, im Original der französischen Sprache ist von scintille diamant die Rede, der Diamant hat die Macht, nicht der Spiegel!
 
Gottfried Ephraim Lessing, und hier kommen wir zur Germanistik, hat den Spiegel auch beachtet. Sein Gedicht Das Alter - Nach der 11ten Ode Anakreons beginnt so: 
Euch, lose Mädchen, hör ich sagen:
,Du bist ja alt, Anakreon.
Sieh her! du kannst den Spiegel fragen,
Sieh, deine Haare schwinden schon;
Und von den trocknen Wangen
Ist Blüt und Reiz entflohn’.
 
Und Lessing wusste auch:
Freilich ist das Bild von mir im Spiegel nichts als eine leere Vorstellung von mir, weil es nur das von mir hat, wovon Lichtstrahlen auf die Fläche fallen.
 
Und damit begeben wir uns in die Physik.
 
Im Physikunterricht ist der Spiegel ein Unterrichtsgegenstand. Vertauscht der Spiegel rechts und links? Das kommt auf den Beobachterstandpunkt an. Anders gesagt:
 
Gegenstand und Spiegelbild sind symmetrisch bezüglich der Spiegelebene.
 
Original und Spiegelbild sind gleich gross und gleich weit von der Spiegelebene entfernt. Das hat etwas mit der Reflexion des Lichtes (laut Duden das Zurückgeworfenwerden von Wellen, Strahlen) zu tun: Ein einfallender Lichtstrahl trifft auf den Spiegel und wird regelmässig reflektiert. Welchen Lichtstrahl sehen wir denn?
 
Soweit, so gut! Wenn Sie mehr wissen wollen: Literatur gibt es zuhauf!
 
Die englische Übersetzung von Spiegel  ist bekanntlich mirror. Das Wort lässt sich auf das alte französische Wort mireoir für ein reflektierendes Glas oder auch für Observation und auf das vulgärlateinische Wort mirare als eine Variante des lateinischen mirari, was auf miracle, Wunder, hinweist, zurückführen.
 
Ja, es ist schon ein Wunder, dass ich mich im Spiegel sehe. Und dass ich denke, das bin ich, obwohl es nur die Reflektion des Lichtes ist. Wenn es dunkel ist, sehe ich nichts, auch nicht im Spiegel. Dann kann ich nur mich selbst reflektieren, ich allein!
 
Emil Baschnonga schreibt:
 
Ein Spiegel macht zwei aus dir. Welcher ist besser?
Jener, der weg ist, wenn du wegtrittst.
 
Ich trete weg, drehe dem Spiegel das Licht ab und gebe Lessing recht. Ende der Vorstellung!
 
Quellen
Bergmann, Klaus: „Deutsches Leben im Lichtkreis der Sprache“, Verlag Diesterweg, Frankfurt/Main, 1926, S.129.
Haller, Klaus Jürgen: „Wörter wachsen nicht auf Bäumen“, Kapitel „Der Spiegel“, dtv Sachbuch, München 1991, S. 176ff.
 
Hinweis auf frühere Spiegel-Blogs
03.06.2011: Berliner Reichtagshaus: Glaskuppel mit spiegelndem Rüssel
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