Textatelier
BLOG vom: 16.12.2013

Bücher auf dem Lebensweg und in 1000 und einer Nacht

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen D
 
 
Ich streune über einen Flohmarkt. Mein Blick erfasst Porzellan, Kleidungsstücke, Nippesfiguren, Spielsachen aus alter und neuer Zeit und Bücher. Ich stosse auf eine alte Ausgabe der Märchen aus 1000 und einer Nacht. Das Buch hat etwas gelitten. Der Umschlag ist abgegriffen, aber die Zeichnung auf der Vorderseite ist nicht beschädigt. Man sieht eine Landschaft mit einer Hafenstadt. Es ist, als ob der Blick des Betrachters unten am Rand des Bildes auf eine Dachterrasse gelenkt werde, auf dem ein Mann mit einem weissen Bart in orientalischer Kleidung mit einem grossen gelben Turban auf einem Mäuerchen sitzt und in einer Papierrolle liest. Rechts schaut ein anderer Mann mit einem Turban aus einem Türmchen heraus. Ein weiterer sieht in die Richtung des Betrachters, aber nach oben, wie auch eine Frau an einem gerade noch angedeuteten Tisch, und eine mit einem Gefäss in der Hand. Neben dieser Terrasse stehen mehrere Personen, eine zeigt mit dem ausgestreckten Arm himmelwärts. Man sieht die Stadt mit einer grossen Moschee, einem Türmchen, Bäumen und weissen Häusern. Auf dem Weg kann man eine Kutsche, einen Hirten und einen Wanderer erkennen. Es scheint gemächlich zuzugehen. Der Weg führt auf eine Landzunge hinaus und rechts und links dieser Landzunge sieht man Schiffe aller Art; aus dem Meer ragen Felsen empor. Das Wasser dieses kleinen Aquarells ist hell grün-bläulich gezeichnet. Es ist, als ob ich dabei sei, ein Bewohner der Stadt.
 
Ich erwache aus meinen Betrachtungen und schlage die erste Seite auf. Das Buch ist im Cicerograd der Unger-Frakturschrift, der Herausgeber die Deutsche Buchgemeinschaft G.m.b.H. in Berlin. Im Impressum auf der nächsten Seite ist kein Erscheinungsdatum zu finden.
 
Der Eingangstext macht Lust aufs Lesen: „Das Leben der Früheren gereicht den Späteren zu einer Lehre, auf dass der Mensch die Lehren, welche andern zuteil geworden sind, schaue und beherzige; dass er die Geschichte der vergangenen Völker und ihre Erlebnisse studiere und sich warnen lasse. Preis darum Ihm, der die Geschichte der Früheren für spätere Geschlechter zum Exempel aufgestellt hat.“
 
Ich handle mit dem Verkäufer, der mir erzählt, dass er dieses Buch schon mehrmals angeboten, aber keinen Käufer gefunden habe, ganz im Gegenteil zu anderen Büchern, die er aus einer Mülltonne gefischt habe und die ihm einen kleinen Gewinn eingebracht hätten. Wir einigen uns auf 3, ursprünglich hatte er 5 Euro verlangt. Angesichts des äusseren Zustands des Buches dennoch ein angemessener, wenn nicht günstiger Preis.
 
Eine halbe Stunde später an einem anderen Stand sehe ich, wie ein Herr in meinem Alter mit dem Verkäufer handelseinig geworden ist und eine 5-bändige Ausgabe exakt derselben 1001 Geschichten in einen Beutel legt. Ich weise ihn auf meinen Fund hin.
 
Wir kommen ins Gespräch. Er berichtet von einer „mit einer angenehmen Stimme gesprochenen“ Tonaufnahme der Geschichten, die 24 Stunden dauere. Er habe sie neben seiner Arbeitstätigkeit angehört und sich dabei ertappt, nur noch gelauscht und seine Arbeit darüber ganz vergessen zu haben. Ich sehe einige Bücher von Karl May in der grünen Originalausgabe und berichte, dass dessen Romane überall feilgeboten werden.
 
Ob sie noch jemand liest, so wie wir das vor 50 Jahren getan haben? Mein Gesprächspartner zweifelt, wie ich auch. Sogar eine Ausgabe mit dem Titel „Weihnacht“ entdecke ich. Auf dem Umschlag ist eine kleine Zeichnung, aus der man erkennen kann, dass der Roman unter Indianern spielt.
 
Und noch ein Buch erstehe ich: Streifzüge durch die englische Literatur. Ja, es sind in der Tat Streifzüge, die meine Frau und ich des Öfteren auf den Flohmärkten unternehmen!
 
Jetzt, in meinem 7. Lebensjahrzehnt, ertappe ich mich bei der Überlegung, ob ich dieses oder jenes Buch lesen soll oder nicht. Was will ich noch entdecken, in den wenigen Lebensjahrzehnten, die mir vermutlich noch bleiben?
 
Der Bücherschrank steht voller Schätze, die ich nicht missen möchte, obwohl ich sicher bin, dass ich nur das eine oder andere Buch jemals wieder in die Hand nehmen werde, viele wahrscheinlich nie mehr. Aber welche es sind, weiss ich heute noch nicht!
 
Manche der Inhalte der Bücher sind in meine Gedankenwelt eingedrungen, haben meine Meinung über die Welt und die Menschen geformt und geprägt. Meine Auffassungen sind ein Konglomerat von Ansichten vieler Autoren und die Teile sind mehr als das Ganze. Da gibt es religionskritische und philosophische Abhandlungen, die mich von dem in der Kindheit aufgezwungenen Glauben abgebracht haben. Da gibt es naturwissenschaftliche Bücher, die mein Weltbild und meine Sicht auf die Evolution geprägt haben. Da sind Werke von Schriftstellern, die mir gezeigt haben, dass es eine Innenwelt in jedem Menschen gibt und dass ich nach meiner eigenen suchen muss. Da sind Bücher, die haben mich tief in die Psyche der Menschen eintauchen lassen. Ich las Bücher, die mir die Natur näher gebracht haben, literarische wie Naturschilderungen und -darstellungen. Ein Regal beherbergt Bücher, die mir den grossen Schatz der deutschen Sprache offenbart haben, wie sie entstand und wie sie sich entwickelte bis sie so war, wie sie heute ist. Es sind nicht alles Lebensweisheiten, aber die sind auch darunter.
 
Ich habe sie alle gelesen und zum einen oder anderen Buch greife ich immer mal wieder, um etwas nachzuschlagen oder um Abschnitte noch einmal zu lesen.
 
Das Angebot ist unüberschaubar, ob in Büchergeschäften, in Bibliotheken, auf dem Flohmarkt und im Internet. Da heisst es, sich zu entscheiden. Da gibt es Genres, die sagen mir nichts, Liebesromane, Krimis, Phantasie, Erbauungsbücher, Lebensratgeber, Esoterik. Andere wiederum „lese ich an“, lasse die Sätze auf mich wirken und merke, ob sie mir zusagen, ob sie „mir schmecken“ oder nicht, meine persönlichen „Readers Digest“. Bei wieder anderen, Science fiction etwa, interessieren mich nur wenige herausragende Autoren. Dann sind da Sachbücher, die mein Wissen über bestimmte Gebiete erweitern können.
 
Ich treffe eine Auswahl, ich muss mich entscheiden, ob ich will oder nicht. Wie kommt die Entscheidung zustande? Nicht immer bewusst, manchmal spontan. Es sind nicht immer die schlechtesten Lesestücke, die ich so auswähle.
 
Aber die Richtung ist vorgegeben, sie hat sich im Laufe des Lebens wie Mosaiksteine zu einem inneren Bild gefügt. Manchmal kommen Steinchen hinzu, manchmal verlieren sich welche. Eine Stiländerung ist eher unwahrscheinlich.
 
Und dann, ganz plötzlich, halte ich ein Buch in den Händen und verspüre den unbedingten Wunsch, mich von den Erzählungen, von den Abhandlungen gefangen lassen zu wollen. Ich weiss sicher, das wird mich weiterbringen, meinen Horizont erweitern.
 
Das ist es: einen Erfahrungs- und Wissenshorizont über Lebensjahrzehnte aufgebaut zu haben, der festen Überzeugung sein, dass die Gedankenwelt „mein Ding“ ist. Das ist es!
 
Aber was rede ich für ein dummes Zeug. Scheherazade wartet!
 
 
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