BLOG vom: 01.01.2014
Erfahrungswerte: Wir Säuger sind Neugier- und Lerntiere
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
„Erfahrung ist das Resultat aller jener Reaktionen,
wo wir auf etwas ausser oder in uns reagiert haben.“
Friedrich Nietzsche
*
Im fortgeschrittenen Alter ist man oft auf das mitgeschleppte Instrumentarium seiner während Jahrzehnten zusammengetragenen Erfahrungen stolz, und man glaubt, damit über einen nützlichen Schatz zu verfügen, der manch einen Entscheid erleichtert, in die richtige Richtung lenkt. Wo der Instinkt, dem man etwas salopp „Bauchgefühl“ sagt, ausfällt, müssen Erfahrenes und Erlerntes die Lücke ausfüllen, wie der amerikanische Zoologe Charles Otis Whitman schon 1919 schrieb. Das gilt auch fürs Tierreich, zu dem wir aus der Evolution hervorgegangenen Menschen als Säuger ja gewisse unverkennbare verwandtschaftliche Beziehungen haben.
Der Instinktzerfall könnte von eingefleischten Positiv-Denkern als etwas Wünschenswertes empfunden werden: Er wird als das wichtigste Moment in der phylogenetischen (stammesgeschichtlichen) Entwicklung von uns Säugern beschrieben: Es sei nämlich die Kombination von Instinkt-Überresten und Erfahrung, welche die Hirnrinde (Neopallium) mit ihrer „grauen Substanz“ zu einigem Antrieb verhalf, verkünden Evolutionsexperten. Dennoch sei der Mensch nach wie vor ein „Mängelwesen“, wie aus der Lektüre der ständigen Nachrichtenflut ohne weiteres zu erkennen ist und angesichts dieser erdrückenden Beweislast nicht geleugnet werden kann.
Dieser vor Unvollkommenheiten strotzende Mensch ist laut dem Verhaltensforscher Otto Koenig (1914‒1992) ein „Lern- und Denkspezialist auf Grund der grossen Zahl angeborener Bausteine“, die er als fast beliebig kombinierbar hält. Dazu kam es in entwicklungsgeschichtlicher Gemächlichkeit, wie vielerorts nachzulesen ist. In Bezug auf die Raubtiere – um bei unserem Beispiel zu bleiben – hat der österreichische Zoologe Konrad Lorenz (1903‒1989) erkannt, dass sich das Hinzulaufen und wahllose Zubeissen zuerst einmal in ein Lauern, Schleichen, Haschen, Anspringen, Angeln, Tötungsbiss usw. aufgliedern musste, bevor die Verselbständigung der Einzelantriebe beginnen konnte. Und so seien denn die höheren Säugetiere „die Neugier- und Lerntiere“ schlechthin. Lorenz fügte bei: „Erst die Vielgestaltigkeit des Antriebssystems gibt den adaptiven Leistungen von Erfahrung, Lernen und Einsicht einen Sinn, ein Anwendungsfeld.“
Aus einem solchen Erfahrungswissen, das uns Verhaltensforscher in Überfülle vorsetzt haben, wage ich zu entnehmen, dass Erfahrungen halt doch eine ernstzunehmende Grösse sind, wenn Systeme einigermassen sinnvoll funktionieren sollen. Und eben deshalb ist es umso bedauerlicher, dass Erfahrungen im Umfeld der heutigen Verwirrtheiten und Verirrungen, in denen vieles schief läuft, praktisch nichts mehr zählen.
Im Rahmen einer lebhaften Diskussion im Facebook (https://www.facebook.com/walter.hess.7) über militärische Einsätze von Israel im September 2013, wie sie gerade während der vergangenen Festtage wieder an der Tagesordnung waren, wagte ich zu schreiben: „Aus meiner jahrzehntelangen publizistischen Erfahrung weiss ich, dass jeder Anflug von Kritik an Israel ein ganzes Abwehr-Netzwerk aufschreckt, das den Journalisten dann übel verunglimpft, auch mit Briefen an den Verlag, um ihn kaltzustellen.“ Ich sprach damit einige Erlebnisse an, die mir aus meiner redaktionellen Berufstätigkeit unvergessen geblieben sind. Auch sie sind unter den Begriff „Erfahrung“ zu subsumieren.
Laut dem „Deutschen Universalwörterbuch“ von Duden (2001) bedeutet Erfahrung „Durchwanderung, Erforschung“, im Einzelnen: „bei praktischer Arbeit oder durch Wiederholen einer Sache gewonnene Erkenntnis, Routine“ – oder auch „Erleben, Erlebnis, durch das jemand klüger wird“. In dem erwähnten sprachlichen Standardwerk wird sogar auf die Redensart „Erfahrung ist die beste Lehrmeisterin“ hingewiesen. Im philosophischen Sprachgebrauch ist die Erfahrung ein „durch Anschauung, Wahrnehmung, Empfindung gewonnenes Wissen als Grundlage der Erkenntnis.“
Es ist ein Zeichen dieser desorientierten Zeit, dass das Wort „Erfahrung“ schon fast negativ beladen ist. Bei der erwähnten Facebook-Diskussion schrieb eine Israel-Lobbyistin erzürnt: „Jahrzehntelange publizistische Erfahrung’ heisst nichts, gar nichts!“ Eine Begründung dafür wurde nicht angefügt.
Ich mag der Dame das nicht verübeln, sprach sie doch genau das aus, was heute Konsens ist, ohne eingehender nachgedacht zu haben. Fixe Denkstrukturen, die eher auf ein Eintrichtern denn Erfahrungen beruhen, werden üblicherweise nicht hinterfragt und nicht mit aktuellen Vorkommnissen abgeglichen; das kritische Denken ist verkümmert. Daraus resultiert eine der modernen Weisheiten: Erfahrung ist wertlos – selbst wenn jede Erfahrung dagegen spricht.
Die Ursache dafür ist bei der momentan besonders schnelllebigen Entwicklung in allen Lebensbereichen zu suchen und zu finden. Sie geht derart rasant voran, dass viel überliefertes Wissen und Können überrannt und nicht mehr gebraucht werden, also wertlos sind. In einer extrem arbeitsteiligen Welt, die den Aktionsradius des Einzelnen einengt, bedarf es keines umfangreichen Repertoires an spartenübergreifendem Können mehr, sondern es gilt nur noch, ein Mosaiksteinchen aus dem grossen, computergesteuerten Gesamtprozess zu beherrschen. Aus dieser Fachidiotie heraus ergibt sich dann der Trugschluss, dass das Erfahrungswissen insgesamt ohne Wert sei. In dem Fall könnte man gleich alle Bibliotheken einstampfen.
Leute mit hohlem Hirn und hohlem, von Gefühlen befreitem Bauch erkennen nicht mehr, dass fast alle alltäglichen Entscheidungen nur mit Hilfe von Erfahrungswissen einigermassen richtig getroffen werden können. Kaufe ich in einem Supermarkt eine Fruchtkonfitüre, werde ich besser nicht den holen und hungrigen Bauch entscheiden lassen, sondern aufmerksam auf der Etikette nachlesen, wie es ums Früchte-/Zuckerverhältnis bestellt ist, woher die Früchte stammen und wie sie angebaut wurden (z. B. nach Bio-Richtlinien). Ich werde die weitere Zutatenliste lesen und brauche einen Wissensfundus, um beurteilen zu können, ob die Zutaten für meine erhöhten Ansprüche genügen, ob sie akzeptabel, gesundheitlich erträglich sind. Verschiedene Publikationen mehren den Wissensstand, auch die im Textatelier.com veröffentlichten täglichen Blogs.
Selbst die Wissenschaften – und insbesondere die Medizin und die Klimatologie – verkünden zum grössten Teil Erfahrungswissen. Vor medizinischen Anwendungen werden die entsprechenden Erfahrungen zuerst einmal bei Tieren gesammelt, selbst wenn sich das längst als Irrweg erwiesen hat, weil nicht alle Lebewesen identisch reagieren. Erst dann werden die Tropfen und Pillen 1:1 aufs lebende menschliche Objekt losgelassen, manchmal auch im Rahmen von Operationen oder bei Physiotherapien. Daraus wird dann auf die Funktion des menschlichen Organismus geschlossen, den man noch heute so wenig wie die Zusammenhänge in der Natur (Ökologie) versteht. Das alles ist viel zu komplex. Unsere Kombinationsmöglichkeiten sind zu sehr eingeschränkt.
Jeder Mensch, der stirbt, nimmt ein enormes Erfahrungswissen mit ins Grab oder in die Urne. Und offensichtlich mag es die Gesellschaft kaum erwarten, bis sie Erfahrungswissen aus dem Umlauf verbannen kann. Das geschieht vorab durch das möglichst vorzeitige Ausrangieren älterer Arbeitskräfte, die bestenfalls noch als Entwicklungshindernisse eingestuft werden. Daraus hat sich ein verhängnisvoller Jugendkult entwickelt, der, von herkömmlichem Wissen unbeschwert, ungebremst herumfunktioniert – immer in der Hoffnung, dass es schon gut herauskommen wird. Die Kombination von jugendlichem Stürmen und Drängen und der Besonnenheit älterer Menschen schien zu umständlich geworden zu sein. Doch sind im Moment, nach all den eingeheimsten miserablen Erfahrungen, die Ratschläge älterer, ja alter Menschen wieder höher im Kurs.
Instinkte, die beim Menschen ohnehin verkümmert sind, was als „Instinktarmut“ bezeichnet wird, sind keine taugliche Basis zur Beeinflussung des Weltengangs. Es braucht Erfahrenes, Erlerntes, Abgesichertes, verbunden mit dem damit verbundenen Können, um ein Schiff oder ein Flugzeug auf den gewünschten Kurs zu bringen.
Niemand würde, nimmt man die Metapher wörtlich, in vollbesetzten Flugzeugen unerfahrenen Kindern den Steuerknüppel überlassen.
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