BLOG vom: 13.01.2014
Verstand, Vernunft, Gefühle. Eine Erzählung aus Indien
Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Norddeutschland
Erich Fried beginnt sein Gedicht „Was es ist“ so:
„Es ist Unsinnsagt die VernunftEs ist wie es istsagt die Liebe ...“
Älteren Zeitgenossen unter uns klingt vielleicht noch der Schlager „Monsieur, Monsieur, ich habe Sie erkannt ...“ im Ohr, mit der Zeile: „Ich möcht’ so gern mit Ihnen glücklich sein, mein Herz sagt ja, doch mein Verstand sagt nein ...“
Wird hier der Konflikt „Vernunft versus Gefühl“ aufgegriffen oder „Verstand versus Gefühl“? Es scheint, als ob im Sprachgebrauch beide Begriffe nicht exakt unterschieden würden.
Oswald Spengler definiert sie in seinem Werk „Der Untergang des Abendlandes“ folgendermassen:
„... Die Vernunft ruft Ideen ins Leben, der Verstand findet Wahrheiten, Wahrheiten sind leblos und lassen sich mitteilen, Ideen gehören zum lebendigen Selbst ihres Urhebers und können nur mitgefühlt werden. Das Wesen des Verstandes ist Kritik, das Wesen der Vernunft ist Schöpfung. Die Vernunft erzeugt das, worauf es ankommt, der Verstand setzt es voraus. Das besagt jener tiefe Ausspruch von Bayle, dass der Verstand nur ausreiche, um Irrtümer zu entdecken, nicht um Wahrheiten zu finden ...“ (S. 570).
Die Vernunft steht also über dem Verstand und über die Gefühle? Ich befrage das etymologische Wörterbuch „Woher“ von Dr. Ernst Wasserzieher:
„Vernunft, althochdeutsch firnunft, eig. Tätigkeit des Vernehmens, Hörens, Begreifens“. „Verstand, mittelhochdeutsch verstan, eig. ‚durchstehen’ vor d. Thing in einer Rechtssache, danach dann: können und kennen.“
Dr. Renate Wahrig-Burfeind schreibt in ihrem „Wahrig Grosswörterbuch Deutsch als Fremdsprache“:
„Vernunft, 1. der bewusst gebrauchte Verstand, 2. Einsicht, Besonnenheit“.
„Verstand, zum Auffassen, Erkennen und Beurteilen notwendige Fähigkeit, Denkfähigkeit“.
Immanuel Kant erläutert die Begriffe mit folgendem Zitat:
„’Was will ich’ fragt der Verstand.
‚Worauf kommt es an?’ fragt die Urteilskraft.
‚Was kommt heraus?’ fragt die Vernunft.“
Er bringt dabei aber ein neues Wort mit ins Spiel: Urteilskraft. Sein 3. Hauptbuch nach „Kritik der reinen Vernunft“ und „Kritik der praktischen Vernunft“ trägt den Titel „Kritik der Urteilskraft“. Er unterscheidet dabei die bestimmende Urteilskraft, also das Gesetz, die Regel, das, nach dem wir uns in unserem Tun richten; von der reflektierenden und will damit eine Brücke zwischen Verstand und Vernunft bauen.
In der Interpretation von Kant bedeutet das Lateinische „sapere aude“:
„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“.
Wörtlich bedeutet das Sprichwort:
„Wage es, vernünftig zu sein!“
So ganz einsichtig sind diese Aussagen noch nicht; ich muss also zwischen Verstand, Vernunft, Urteilskraft und Gefühl unterscheiden. Einfach ist das nicht!
Tradition und Liebe – eine Erzählung aus Indien
Für die ältere Generation hatte es nie etwas anderes gegeben. Seit Urgedenken lebten die Familien mit ihren Grosseltern unter einem Dach. Kurz nach der Geburt des Sohns war der Vater Raj Krishna ins Nachbardorf gefahren. Der Reishändler des Ortes war im vorigen Jahr Vater eines Mädchens geworden. Raj kannte ihn schon lange. Er war immer anständig zu ihm gewesen und hatte ihm einen guten Preis für seinen Reis bezahlt. Damit hatte Raj viele Jahre lang seine Familie ernähren können. Die beiden Väter verhandelten einen Tag lang, dann vereinbarten sie, dass Sohn und Tochter nach 18 Jahren verheiratet werden sollten. Die Mitgift, Dowry genannt, in Goldschmuck und Bargeld wurde festgelegt.
Beide Kinder wuchsen heran. Sie wussten nichts von dieser Vereinbarung. Als der Sohn Harun 16 Jahre alt war, verliebte er sich in seine Mitschülerin Varsha. Sie stammte aus einem anderen Ort, einige Kilometer weit weg von seinem Heimatdorf. Viele Monate lang war es eine scheue Liebe; sie tauschten kleine Geschenke aus, einen hübschen Stein, ein kleines gemaltes Bild. Beide merkten, dass sie sich mochten. Sie wussten, dass sie damit gegen die Tradition in den Dörfern verstiessen. Sie waren zu Hochzeiten eingeladen, bei denen sich die Ehepartner zum ersten Mal in ihrem Leben gesehen hatten. Varsha fand diese Feste sehr schön und hatte sich nie etwas dabei gedacht. So war das Leben, die Eltern bestimmten über den zukünftigen Ehemann. Etwas anderes war undenkbar, so war es Tradition. Die Eltern sagten, das gebiete die Vernunft.
Bis Varsha Harun kennen lernte. Sie merkte, dass sie ihn gern hatte. Er war intelligent, lernte fleissig, war lustig, stritt selten und schlug sich mit den Schulkameraden nur dann, wenn er sich verteidigen musste. Nach einigen Monaten wandte sich Harun an seinen Vater und sagte, er möchte Varsha zur Frau nehmen. Der Vater war wütend, schrie ihn an und schlug ihn. Das sei unmöglich, sagte er, Harun sei bereits lange versprochen. Diese Vereinbarung könne und wolle er nicht brechen. Damit verliere er, der Vater sein Gesicht, das Ansehen werde zerstört. Und wenn der Reishändler ihm dann nicht mehr die Ernte abkaufen würde, müssten sie verhungern.
Zuerst war Harun eingeschüchtert. Er zog sich zurück, sprach nicht mehr darüber. Er wurde immer trauriger, lernte weniger, und wenn es die Gelegenheit gab, Alkohol zu trinken, griff er zu. Dann traf er sich heimlich mit Varsha. Er erzählte ihr, was sein Vater gesagt hatte, sie weinte, er küsste sie. Er würde sie nie verlassen, eher wollten beide sich umbringen.
Das Leben ging weiter. Immer wieder gelang es den beiden, sich heimlich zu treffen. Harun war jetzt 17 Jahre alt, und es würde nicht mehr lange dauern, bis er behördlich heiraten könnte. Die beiden schmiedeten Pläne für eine gemeinsame Zukunft, egal, was ihre Eltern mit ihnen vorhatten.
Nach und nach schafften sie einige Sachen in ein Versteck. Harun hatte einen Freund, dessen Bruder in Bangalore arbeitete. Er weihte den Freund in sein Vorhaben ein. Harun und Varsha konnten für kurze Zeit in der Wohnung des Bruders in Bangalore bleiben, bis sie einen Job gefunden hatten und eine eigene Unterkunft bezahlen konnten. Haruns Freund fuhr eine Rikscha und liess Harun ab und zu damit fahren. Harun machte heimlich den Führerschein. So würde er in Bangalore vielleicht einen Job als Rikschafahrer bekommen können.
Eines Tages war es soweit. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion und mithilfe des Freunds flüchteten die beiden in die 7-Millionen-Stadt. Sie wussten, es würde kein Zurück mehr geben. Im eigenen Dorf müssten sie um ihr Leben bangen.
Ich traf die beiden auf einer Wanderung in einem Ort, ein paar Hundert Kilometer entfernt von Bangalore, auf dem Weg zu einem Hindutempel oben auf einem Berg. Es war ein langer steiler Pfad und einige Zeit liefen wir nebeneinander her. Von oben hat man eine sehr schöne Aussicht ins Land. Harun erzählte mir seine Geschichte, immer wieder betonte er, dass er Varsha aus Liebe geheiratet habe. Er hatte einen Job als Rikschafahrer gefunden, Varsha arbeitete in einem Laden als Verkäuferin.
War es ein Akt des Verstands, was die beiden getan hatten? Aus der Sicht der Eltern bestimmt nicht. Immer wieder hatten sie Harun eingeredet, seinen Verstand zu benutzen. Vernunft war für das Liebespaar, sich für ein selbst bestimmtes Leben zu entscheiden. Sie hatten entdeckt, dass sie füreinander bestimmt waren. Darauf kam es ihnen an, ihre Urteilskraft dazu hat sie zu dem Schritt bewogen, ihre Heimatdörfer zu verlassen. Sie haben es gewagt, wie Spengler sagt, die Vernunft für diese Idee zu gebrauchen. Ihr Verstand hat sie dazu geführt, die Wahrheit zu finden.
Obwohl die junge Frau kaum etwas sprach – was in Indien gegenüber Fremden nicht unüblich ist –, hatte ich den Eindruck, das Paar sei glücklich. Sie haben sich von den Ketten der Tradition befreit.
Quellen
Spengler, Oswald: „Der Untergang des Abendlandes – Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte“, dtv, München, 5. Auflage 1979, urspr. Beck’sche Verlagsbuchhandlung München, 1923.
Wahrig: „Grosswörterbuch Deutsch als Fremdsprache“, Bertelsmann Lexikon Institut und Cornelsen, Berlin, 2008.
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