BLOG vom: 21.02.2014
Chroniken: Weiber-Revolution und ein armer Apotheker
Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
„Ein Volk, das seine Geschichte nicht kennt, oder sie gar verleugnet und geschichtslos nur den Tag lebt, hat auch keine Zukunft.“
*
„Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft gestalten!“
*
Diese Sprüche von unbekannten Autoren, die ich in Chroniken entdeckte, haben ihre Berechtigung. Für mich sind Chroniken immer sehr lesenswert und informativ. Sie geben Einblick in die entbehrungsreichen Lebensverhältnisse der damaligen Zeit. Manche Ereignisse entbehren nicht einer gewissen Komik, wiederum andere sind traurig. Die Schilderungen der vielen Kriege von anno dazumal, von Plünderungen, Brandschatzungen, getöteten Soldaten und zu Tode gekommenen Zivilisten sind erschreckend. Aber da muss man als Leser durch. Oft ertappe ich mich, dass ich bestimmte Schilderungen über Kriegsereignisse nicht mehr lese, da sich fast in allen Ortschroniken diese ähneln.
Beim Studium der Chroniken wird mir bewusst, wie gut man heute lebt. Nahrung gibt es in Hülle und Fülle. Wir kommen mit dem Auto an jeden Ort, den wir wünschen, können in Urlaub fahren und viele Freiheiten geniessen. Wenn man keine Lust zum Kirchgang hat, wird das nicht mehr bestraft. Und es gibt, wie wir sehen werden, keine armen Apotheker mehr.
Dieser Tage las ich wieder einmal die „Geschichte der Stadt Schopfheim und ihrer Umgebung“ von August Eberlin (1838−1887). Er war von 1876−1887 evangelischer Stadtpfarrer von Schopfheim. Die Ausgabe von 1878 wurde in unveränderter Form neu aufgelegt.
Die 2. Chronik „Beiträge zur Geschichte der Stadt Schopfheim“ von Rektor Karl Seith (1890‒1963) wurde erst nach seinem Tode 1977 publiziert. Aus diesen beiden Chroniken werde ich einige interessante Kapitel präsentieren. Blicken wir zunächst in die Chronik von Karl Seith.
Fruchtbarkeit der Ehen
Anfang des 18. Jahrhunderts wurde in Ehen eine grosse Fruchtbarkeit registriert. Im Durchschnitt gab es 5 bis 7 Kinder. In besonders fruchtbaren Ehen waren 10 bis 16 Kinder keine Seltenheit. Man muss jedoch berücksichtigen, dass zu jener Zeit die Kindersterblichkeit sehr gross war. Allgemein wurde der Name eines früh verstorbenen Kindes einem später ankommenden Erdenbürger zugelegt. Das Wochenbettfieber raffte viele junge Frauen dahin. Der hinterbliebene Ehemann ging dann oft eine 2. oder 3. Ehe ein und war weiter fruchtbar. Goldene Hochzeiten waren eine Seltenheit. Sie erregten ein grosses Aufsehen. Weltliche Obrigkeiten feierten dann mit.
1698 gab das Visitationsprotokoll die Einwohnerzahl in Schopfheim mit 573 Seelen an. Hier eine Aufzählung (es wurden nur Erwachsene aufgeführt):
25 Reformierte und ein katholischer Lehrjunge, 94 Ehen, 4 Witwer, 8 Witwen, 45 erwachsene Söhne und Knechte, 76 erwachsene Töchter und Mägde, 9 Hintersassen und Taglöhner, 9 Weiber mit Kindern.
In späteren Jahren wurden auch die Tiere aufgezählt. Dies war nach 1700 der Fall. Schopfheim zählte damals 531 Einwohner. In den Stallungen standen 453 Tiere, nämlich 62 Pferde, 174 Ochsen, 51 Rinder und Kälber und 166 Schafe. Die Kühe und Schweine waren auffällig klein.
Postverbindungen
1742 wurde durch den kaiserlichen Erbgeneralpostmeister von Thurn und Taxis die Postverbindung Frankfurt am Main nach Basel durch 4 reitende Posten eingerichtet. Ausserdem ging in jeder Woche ein „geschwinder Postwagen“ einmal hin und her. Um 1784 wurde regelmässig zweimal in der Woche der Botendienst von Schopfheim nach Lörrach und Basel eingeführt.
Man kann sich heute dies nicht mehr vorstellen, wie die Postsendungen damals zugestellt wurden. Aber es hat funktioniert. Man musste jedoch etwas warten, sich in Geduld üben.
Keine Silbermannorgel
1761 wurde die Sonntagsschule für die Schulentlassenen eingeführt und eine Lateinschule eingerichtet. Johann Peter Hebel besuchte nach dem Tod seiner Mutter 1773/74 diese Lateinschule.
1768 wurde eine neue Orgel in der Stadtkirche aufgestellt. Die berühmten Orgelbauer der Familie Silbermann von Strassburg, hatten sich beworben. Diese wurden als Ausländer abgelehnt. Heute wären die Schopfheimer froh, wenn sie eine solche Orgel besässen.
In der Chronik wurden auch Viehseuchen und Blatternerkrankungen aufgeführt. Auch das Unglück im Eichener See, der periodisch kommt und wieder verschwindet, wurde erwähnt. 1772 waren 4 Opfer zu beklagen. Es ertranken ein junger Mann von Eichen, ein lediger Wollweber aus dem Berngebiet und 2 Mädchen.
In den Chroniken erfährt man auch viel über Wetterverhältnisse und Schäden durch Hochwasser. 1786 herrschte beispielsweise eine grosse Kälte, so dass an Weihnachten der Abendmahlwein in den Kannen gefror. Der Pfarrer konnte also seinen Durst in der Kirche nicht stillen! 1829 kam eine erneute grosse Kälte. Wasserwerke standen still, die Kartoffeln erfroren in den Kellern.
Ein armer Apotheker
1712 wurde eine Apotheke durch Apotheker Philipp Heinrich Sahler, Sohn des Apothekers Sahler aus Wehr, eingerichtet. Die Heilmittel wurden ursprünglich in der Privatwohnung des Apothekers untergebracht. Erst 1736 konnte er einen Hausplatz und ein Gebäude kaufen. Dort richtete er eine Apotheke ein. „Die Unruhe der Zeit und der elende Zustand des Landes, die Armut der Bewohner und die Fremdartigkeit des Arzneimittelverkaufs in einem Haus, in dem kein Chirurg seine Kunst ausübte und die Heilmittel selbst herstellte und verkaufte, hielt die Bevölkerung vom Kauf in der Apotheke ab. Als Sahler 1748 mit 54 Jahren starb, musste ihm die Stadt wegen Armut den Sarg bezahlen.“
Tessiner und italienische Gewürzkrämer tauchten auf den Märkten in Schopfheim auf. Sie priesen ihre Gewürze und angeblich heilkräftige Tränklein, Pillen und Salben für Mensch und Tier an. Im 17. Jahrhundert waren nämlich in Schopfheim weder ein Kramladen noch eine Apotheke vorhanden.
Hochwasser und Missernten
Schopfheim wurde im 18. und 19. Jahrhundert von grossen Hochwassern heimgesucht. Brücken und Stege über die Wiese wurden weggerissen.
Infolge von Missernten (1816/1817) gab es eine starke Teuerung. Korn, Wein, Kartoffeln, Fleisch, Brot waren nahezu unerschwinglich. Die Ärmeren unter den Bewohnern kochten Brennnesseln zu Gemüse; sie buken Brot aus Kleie und Hafermehl. Es brach der Hungertyphus aus. Kein Wunder, dass in dieser Zeit eine Auswanderung nach Nordamerika einsetzte. Manche kamen nur bis Holland, und die Abgewiesenen kehrten wieder zurück. Später folgten weitere Auswanderungswellen, besonders nach den Ereignissen der Revolution von 1848 und durch Nahrungs- und Arbeitsnot.
Ein arbeitsamer Lehrer
Emil Schmolck wurde vom Chronisten als „hervorragender Lehrer mit grossen Verdiensten“ gewürdigt. Er hatte eine robuste Gesundheit, ein grosses Selbstvertrauen, ein grosses Wissen, gepaart mit einem sonnigen Humor. Kaum zu glauben, was er sich 1911 alles an Tätigkeiten auferlegte: Deputat in der Volks- und Fortbildungsschule, Turnunterricht, Leitung des Gesangvereins, Dirigent des Kirchenchors, Klavierunterricht, Vorsitzender des Bezirks.
Dann kam sein plötzliches Ende. Hatte er sich überarbeitet? „Schmolcks plötzlicher Tod wirkte wie ein Hammerschlag auf das kulturelle Leben der Stadt“, so der Chronist Karl Seith. Der arbeitsame Lehrer wurde nur 42 Jahre alt.
Zahlreiche Kriege
Es ist immer wieder deprimierend, zu lesen, wie viele Menschen nicht nur bei Erdbeben, Bränden, Hochwasser und Heimsuchungen durch Krankheiten (Pest, Typhus, Pocken), sondern auch im Dreissigjährigen Krieg (1618−1648) und danach umkamen. Der Chronist schrieb von einem kriegserfüllten Jahrhundert (1600−1714).
Mich wundert immer wieder, dass kein Kaiser, König, Fürst oder Politiker aus den zurückliegenden Kriegen etwas gelernt hat. Die kriegerischen Handlungen verfolgen die Menschheit bis in unsere Zeit.
Da fällt mir gerade ein Spruch von Carmen Sylva ein, die sagte: „Der Krieg zwischen 2 gebildeten Völkern ist ein Hochverrat an der Zivilisation.“ Leider war es in der Vergangenheit so, dass mehrere Völker Kriege führten. Und bei Shakespeare kann man in „Troilus und Cressidia“ dies lesen: „Krieg und Liederlichkeit, die bleiben immer in Mode.“ Damit hat er vollkommen Recht.
Nun kommen einige Besonderheiten und Merkwürdigkeiten, die August Eberlin zu Papier brachte.
Von Reinlichkeit keine Spur
Im 15. Jahrhundert wurde erstmals in Schopfheim eine Badstube eingerichtet. Damals legte man auf Reinlichkeit keinen grossen Wert. Manche legten sich nackt ins Bett. Die Leibwäsche war mangelhaft, und die übrige Kleidung bestand aus wenigen Stücken. Die Menschen wurden von Ungeziefer und Hautkrankheiten geplagt. „Schandbare“ Krankheiten wurden aus Frankreich eingeschleppt. Aus diesem Grunde wurden Stromer und Reisende, die in die Stadt kamen, genau beobachtet. Um die Körperpflege zu verbessern, wurden in vielen Städten Badstuben eingerichtet. Diese waren ähnlich wie die irischen Bäder, nur einfacher. Der erste Gang eines Fremden führte in die Badstube. Dort reinigte er sich und liess sich den Bart und die Haare schneiden. Es ging vergnügt zu. Es entwickelten sich Plaudereien, und die Badenden wurden mit den Neuigkeiten versorgt.
Hier wanderten noch Wolf und Bär
„In den Bächen tummelte sich die Forelle, besonders der Lachs; durch die Wälder wanderte noch der Wolf, der Bär, der Hirsch nebst kleinem Wild. Der Reichtum an Fischen und Wild war so massenhaft, dass 1585 den Herrschaften verboten wurde, ihre Dienstboten mehr als einmal Hirschfleisch oder Lachs in der Woche aufzutischen.“ Wahrscheinlich sollten die einfachen Bürger nicht zu sehr mit diesen Speisen verwöhnt werden.
Damals durfte nur die Herrschaft jagen und fischen. Nur im Stadtgraben war den Bürgern das Fischen erlaubt.
Kirchenlügner
1649 wurden neue Verordnungen über die Kirchenzucht erlassen.
So wurde der Verwalter angewiesen, der Kanzel gegenüber für besondere Stühle der Amtsleute und Ortsvorsitzenden zu sorgen, „damit der Pfarrer diese im Gesicht habe.“ Wahrscheinlich sollten die „überwachten“ Kirchgänger der Predigt lauschen und nicht eindösen.
Dazu eine Geschichte: In den 1950er-Jahren waren noch fleissige Kirchgänger in einem Dorf in Bayern. Da viele Bauern anwesend waren, kam es öfters vor, dass einige als Folge der harten Landarbeit einnickten und manchmal schnarchten. Wenn der Pfarrer auf der Kanzel dies bemerkte, wurde seine Stimme lauter und lauter. Die eingenickten schreckten auf. Vorbei war es mit dem erholsamen Kirchenschlaf.
Untertanen, die den Gottesdienst an Sonntagmorgen versäumten, wurden mit einer Geldstrafe von einem Schilling bestraft. Dieses Gebot wurde 1686 im Baden-Durlachschen Gebiet verschärft. 2 Gerichtspersonen, die an der Eingangstür zur Kirche standen, überprüften streng den Kirchenbesuch. Die Säumigen wurden verwarnt, die dennoch Ungehorsamen erhielten ein Halseisen oder wurden körperlich anderweitig bestraft.
Ein „Kirchenlügner“ ging während des Gottesdienstes herum und besuchte Wirtschaften und schritt bestimmte Plätze ab. Hackte einer Holz oder wusch eine Frau Wäsche im Dorfbrunnen oder hörte er Zänkereien, wurden diese „Vergehen“ bei der Kirchenzensur angezeigt.
Die meisten erhielten Geldstrafen und einige Einwohner Arrest. Ein Mann, der seine schwangere Frau schlug, wurde 1 Tag und 2 Nächte in den Turm gesteckt. Eine Witwe, die „wegen grausamen Fluchens“ erwischt wurde, erhielt eine Geldstrafe.
Eine Ehefrau, die wegen wiederholter Trunkenheit angezeigt wurde, musste „zu künftiger Besserung in der Geige mit Hebung eines Kruges voll Wassers und eines leeren Glases in die Hände auf dem öffentlichen Lindenplatz zur wohlverdienten Prostitution sich aufstellen.“
Der Chronist Eberle weiter: „So wenig freilich eine derartige Kirchenzucht, die wir von unserem Standpunkt aus so gerne belächeln, für unsere Zeit passte, so darf doch nicht verkannt werden, dass sie für das Volksleben jener Zeit ihre recht gute Seite hatte. Sie schuf einen ernsten Sinn, eine ehrenfeste Volks-Sitte, von der das gesamte bürgerliche Leben zu seinem Besten getragen war.“
Es kam zu einer „Weiber-Revolution“
1764 wurde eine neue Kleiderordnung erlassen. Wahrscheinlich wollte man den Absatz der heimischen Industrie fördern. Die selbst gefertigten Zwickel- und Ärmelröcke sollten nämlich abgeschafft und durch Faltenröcke und Wamsnesteln ersetzt werden. Es kam zu einer „Weiber-Revolution“. Der Chronist dazu: „… dass die Weibervölker sich so wenig entschliessen könnten, neumodische Kleider sich machen zu lassen, als eine neue Religion anzunehmen, daher man es einstweilen bei der Jungend einführen möge.“ Das Oberamt bemerkte, dass es keine schändlichere Tracht gebe, als die Zwickelröcke. Aber schliesslich blieb alles beim Alten. Die Frauen behielten Recht.
Literatur
Eberlin, August: „Geschichte der Stadt Schopfheim und ihrer Umgebung“, Druck und Verlag von Georg Uehlin, Schopfheim 1878.
Seith, Karl: „Beiträge zur Geschichte der Stadt Schopfheim“ (im Zusammenhang mit der Deutschen Geschichte), herausgegeben von der Stadt Schopfheim, MTS-Druck, Schopfheim 1977.
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