Textatelier
BLOG vom: 05.03.2014

Reisefüdli wird genannt, wer gern und oft unterwegs ist

 
Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
 
Das Dialektwort Füdli steht für das schriftdeutsche Gesäss. In meiner Jugend wurde es vielfältig gebraucht. Trödelten wir bei einer Arbeit, hiess es manchmal: Lupf emal s Füdli! Steh auf, mach vorwärts! Das Füdli wurde aber auch als eine Art Gefäss verstanden, in dem die Schulden versenkt oder unübersehbar viel Arbeit auf Erledigung wartete. Da hiess es dann: S Füdli voll Schulde oder s Füdli voll Arbet.
 
Ich beschränke mich in diesem Beitrag nun auf das Thema Reisefüdli. Dieses Wort ist gut verständlich, sitzen wir doch auf Reisen manche Stunde in der Eisenbahn, im Auto oder im Bus. Uf em Füdli.
 
Ich stecke gerade in einer neuen Vorfreude. Die Reise ins Gebiet der oberitalienischen Seen steht bevor. Immer wieder träumte ich davon, einmal dorthin zu kommen. Erster Anlass zu diesem Traum war Johanna Spyris Buch Heimatlos. Als wir 1971 ins Bernoullihaus in Zürich übersiedelten, fanden wir es auf dem sauberen Estrichboden. Die Hausbesitzer hatten es als Willkommgruss zurückgelassen und so signalisiert, dass hier unsere neue Heimat sei.
 
Es ist eine sehr alte Geschichte, 1878 im Verlag A. Weichert in Berlin erschienen. Der Text wurde noch in Frakturschrift gedruckt. Unsere Mädchen konnten ihn damals noch nicht selber lesen.
 
Er liess und lässt sich gut erzählen. Ricos Geschichte bewegte uns und bewegt mich immer noch. Wir litten mit dem Buben, der die Mutter und später auch den Vater verloren hat. Wir fühlten sein Heimweh, und wir fieberten mit, als er den weiten Weg von Sils Maria im Kanton Graubünden nach Peschiera am Gardasee in Italien antrat.
 
Seit 43 Jahren sitzt dieser Wunsch in mir fest, ebenfalls nach Peschiera zu kommen und das südliche Licht aufzunehmen. Blumen und Bäume zu bewundern, die nur im Süden gedeihen. Ich bin alt geworden, aber der Traum von dieser Reise lebt noch in mir, regt sich und signalisiert, er möchte endlich erfüllt werden.
 
In Ricos Leben spielte eine Geige eine grosse Rolle. Auf seiner Reise nach Hause konnte er Mitreisende in der Postkutsche unterhalten und etwas Geld gewinnen. Nach der Schriftstellerei war ihm das fotografische, eidetische Gedächtnis angeboren. Wenn er zuschauen konnte, wie jemand geigte, konnte er das Stück gleich nachspielen. So will es die Geschichte, und so hörte ich es auch schon von zeitgenössischen Musikern. Das sind die wahren Talente.
 
Und gestern kam mir unerwartet ein altes Gesangbuch in die Hände. Ein Erbstück einer verstorbenen Tante, die viel mit uns gesungen hat. Ich blätterte darin und staunte. Da war mir, als würde mir Rico sein Lied singen. Ich kannte es nicht. Es wurde vermerkt, dass es gefühlvoll gesungen werden müsse. Und so empfand ich es, auch wenn ich nur den Text las.
 
Das arme Geigerlein, Komponist J. Gungl
 
Ich bin ein armer Musikant, wie ihrer viele sind, ich hab kein Haus, kein Heimatland, ich hab nicht Weib und Kind.
Ich sing und spiel vor mancher Tür wohl um mein täglich Brot, und reicht man eine Gabe mir, dann sag ich: Lohn es Gott!
 
Die einz'ge Freundin, die ich hab, ist hier die Geige mein, die zieht mit mir Welt auf, Welt ab in Sturm und Sonnenschein.
Und was mich quält und was mich freut, all' das vertrau ich ihr, und sie versteht mich jederzeit, sie lacht, sie weint mit mir!
 
Und wenn einst vor der letzten Tür' mein letztes Lied erklang, und wenn an meiner Geige mir die letzte Saite sprang:
Ach nur ein Plätzchen gönnt mir dann an stiller Friedhofswand, wo von der Wand'rung ruhen kann der arme Musikant!
 
Was kann ich da dazu noch sagen?
Dass ich mich darüber freue und es als gutes Omen für unsere Reise nach Peschiera verstehe. Aber ganz besonders auch darüber, was ich aus der Geschichte weiss, dass Rico die Schulfreundin und Nachbarin aus Sils Maria heiratete und sie nach Peschiera mitnahm.
 
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