Textatelier
BLOG vom: 26.03.2014

50 Jahre Medien-Geschichte: Krankes Plantagen-Syndrom

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Bin ich nicht nur alt (77), sondern auch gerade noch veraltet, Schnee von gestern?
 
Ich habe diese Tage einige Akten aus dem Jahr 1961 geordnet. Am 01.03. jenes Jahres konnte ich die Alleinredaktion der Lokalzeitung „Wynentaler-Blatt“ übernehmen, die (noch heute) in der Druckerei Baumann AG in Menziken AG erscheint. Zu jener Zeit – über 50 Jahre sind’s her – gab es in der Schweiz neben dem Landessender Radio Beromünster eine Fülle von kleinen, mittleren und relativ grossen Zeitungen, die alle Regionen und Denkweisen abdeckten. Die Schweiz galt als das zeitungsreichste Land der Welt. Für Vielfalt war gesorgt.
 
Allein im abgelegenen oberen Wynental erschienen 2 Lokalzeitungen; denn da war auch noch das „Echo vom Homberg“ aus der Buchdruckerei Ernst Tenger in Reinach; beide Lokalzeitungen erschienen 2 Mal wöchentlich. Von Aarau aus brachte das „Aargauer Tagblatt“ ein erweitertes kantonales, nationales und internationales Angebot aus liberaler, freisinniger Sicht in die Briefkästen und Stuben. Katholiken konnten ihre religiöse Gesinnung im „Aargauer Volksblatt“ bestätigt finden, das in Baden erschien, wo auch das „Badener Tagblatt“ angesiedelt war, eine Tageszeitung, die sich unabhängig gab, aber ebenfalls dem bürgerlichen Gedankengut nahestand und die mit dem „Aargauer Tagblatt“ um die kantonale Vorherrschaft rang, ohne allerdings die etwa durch den Raum Brugg verlaufende Demarkationslinie wesentlich durchbrechen zu können. Und die Aargauer Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB), die Vorläuferin der heutigen Schweizerischen Volkspartei (SVP), wie sie sich seit 1971 nennt, hielt sich die „Aargauische Bauern- und Bürgerzeitung“. Die Sozialdemokraten waren mit dem „Freien Aargauer“ gut bedient, und den randständigen Raum Zofingen deckte das „Zofinger Tagblatt“ ab, das selbstbewusst seinen eigenen Stil pflegte.
 
Das Material aus dem ausseraargauischen Gebiet beschafften sich die Zeitungen zur Hauptsache von der Schweizerischen Politischen Korrespondenz (spk), deren Angebot auf kleinere Organe zugeschnitten war (Postversand vervielfältigter Blätter), oder von der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA). Diese bezog ihr Material meistens telefonisch aus den Redaktionen der grössten kantonalen Tageszeitungen, die ja den besten Überblick über das Geschehen in ihrem Rayon hatten. Ich selber arbeitete im Auftrag des Aargauer Tagblatts jahrelang als Aargau-Korrespondent der SDA als Nachfolger von Dr. Kurt Lareida, der als Chefredaktor und Kantonalpolitiker (Gross- und dann Regierungsrat) diese Aufgabe abgeben musste. Viele Meldungen liess ich durch das Telegrafenamt in der Aarauer Hauptpost nach Zürich übermitteln, weil Outlook noch nicht erfunden war.
 
Durch die Auswahl und vor allem durch die individuelle Behandlung und Kommentierung des lokalen und kantonalen Geschehens in den Redaktionen ergaben sich eine erfrischende Vielfalt und politische Ausmarchungen, in welche die verschiedenartigsten Aspekte und Betrachtungsweisen einbezogen wurden. Gründe, um von einem Mainstream zu sprechen, existierten nicht.
 
Um die 1970er-Jahre setzte dann eine „Flurbereinigung“ ein, die selbstredend treffender mit „Zeitungssterben“ zu bezeichnen war. Zum Radio, das seine Dominanz ausbaute und viel schneller als die schwerfällig zu produzierenden und zu verteilenden Druckmedien war, kam das Fernsehen hinzu, sozusagen ein Heimkino, das die Anstrengungen des Lesens überflüssig machte und das Gefühl des Dabeiseins vermittelte. Zwar könnte man darin eine Belebung des Informationsbetriebs erkennen, doch das dadurch beschleunigte Verschwinden der Zeitungsindividuen und die damit verbundene Entwicklung hin zum Konzernjournalismus mit dem Einheitsbrei wogen schwerer. Der Prozess ist noch immer im Gange.
 
Unter dem Rationalisierungsdruck sprengten die Medien die kantonalen Grenzen, schlossen sich zusammen, vereinfachten die Abläufe durch den Austausch vorgefertigter Mantelseiten (Ausland, Schweizer Politik, auch unterhaltungs- und Werbebeilagen). Mit dem Aufmarsch von privaten Radio- und Fernsehstationen kam es auch zu Vereinigungen sozusagen intermedialer Art. Einige Grosskonzerne beherrschten zunehmend das gedruckte, visualisierte und digitalisierte Feld, konkurrenzierten sich selber und gegenseitig, wucherten über Landesgrenzen hinaus, wurden zu internationalen Konzernen, nach rein kommerziellen Gesichtspunkten betrieben; der Dienst an der Gesellschaft spielte keine Rolle mehr.
 
Der wirtschaftliche Druck wuchs, Überlebensfragen stellten sich. Waren es einst die Abonnenten, welche die wirtschaftliche Grundlage von Zeitungen gewährleisteten, mussten zunehmend die Inserenten diese Rolle allein übernehmen, was insbesondere zu den Zeiten des Rückgangs von Stelleninseraten schwierig war. Gratiszeitungen (Pendlerzeitungen für eilige Leser) setzten die Finanzierung aus der Werbung konsequent um. Das wiederum öffnete den als „Öffentlichkeitsarbeit“ getarnten Public Relations bis hin zur offenen Vermischung von Informationen mit Werbebotschaften Tür und Tor. Marketingfachleute mit ihrer einseitigen Verkaufsoptik, frei von publizistischer Erfahrung, bekamen das Sagen, zerstörten die Seelen der Publikationsorgane, hatten die gesellschaftliche Funktion der Medien nicht erfasst.
 
Journalisten mit eigenen, abweichenden Meinungen störten den pekuniären Gottesdienst, zu dem nur noch einstimmige Gregorianische Gesänge passten; wer Misstöne oder persönliche Improvisationen von sich gab, hatte bald einmal ausgesungen. Zurückblieben nützliche Idioten, abgesehen von wenigen selbstbewussten Ausnahmen. Beim Radio und Fernsehen SRF ist selbst die Sprache normiert, auf immer dieselben Floskeln reduziert; Moderatoren gebärden sich als Sprechautomaten. Kommentare gibt es nicht mehr, nur noch „Einschätzungen“.
 
Die Medien wurden durch und durch uniformiert, was sich nicht allein auf redaktionsinterne Verhältnisse bezog, sondern auch auf die Informationsquellen (meist englisch/amerikanisch beherrschte Agenturen) und die Meinungslieferanten. Diejenigen Personen, die man für Interviews auswählte, mussten kompatibel sein. Selbst Kabarettisten, die sich nicht als Linke outen, haben einen schweren Stand, erhalten kaum Möglichkeiten zu einem Auftritt vor Mikrofonen und Kameras.
 
Die zurechtgestutzte, schöne, neue Medienwelt hatte nur einen Faktor ausser Acht gelassen: den anspruchsvollen Leser, den Nutzer. Diese standen zunehmend frustriert dem verkürzten Angebot aus Scheininformationen, Verdrehungen und Weglassungen gegenüber und traten massenhaft die Flucht in die neuen Sozialmedien wie Facebook und Twitter an, die sich auch ausgefallene Ansichten einverleiben und diese verbreiten. Die Medienredaktionen nützen die neuen Möglichkeiten ebenfalls, machen dort ihr Angebot publik. Der Nutzer kann sie berücksichtigen oder nicht (meistens dienen sie als Lieferanten von Grundlagenmaterial, auf dem Diskussionen geführt werden können). Die fast unbegrenzte Fülle der Informationsquellen erschwert das Totschweigen von Wesentlichem als perfideste und weit verbreitete Form der medialen Lüge.
 
Das Geschehen in den Medien, wie es hier beschrieben wurde, ist ein Bestandteil der alles unter sich begrabenden Globalisierung, die auf Einebnung und Verdummung des breiten Volks bedacht ist, ja von dieser Simplifizierung lebt; dieselben Abläufe sind in allen Bereichen menschlicher Aktivitäten zu beobachten. Und die selbst ernannte, marode Führungsmacht USA bestraft alle, die sich ihr nicht unterwerfen, woraus beispielsweise die Kniefälle der Europäischen Union (EU) und auch der Schweiz, die ihre bewährte Neutralität zu opfern bereit ist, zu erklären sind. Verheerend sind die Folgen im politischen Sektor, weil Eigenständigkeit und Demokratie nicht mehr systemkompatibel sind. Demokratisch gefällte Entscheide werden nur noch vollzogen, wenn sie im Sinne der Globalisierer an den Schalthebeln des Macht-Nachvollzugs nach US-Vorgaben ausgefallen sind, wobei Gesetze, Versprechen, eine konsequente Gleichbehandlung aller abseits von Willkür nichts mehr zu suchen haben. Und die eingebetteten Medien machen das alles mit, wagen nicht aufzumucken, betreiben die totale Desinformation als zeitgemässes Kerngeschäft.
 
Würde man die hier ausgebreitete Kurzgeschichte über den Medienwandel rückwärts lesen, ergäbe sich augenfällig, wie sich ein Übergang zu mehr Mannigfaltigkeit, zu mehr Arten und Formen, belebend auswirkt. Liest man sie aber chronologisch, wie hier dargestellt, erkennt man die Hinwendung zu einer monotonen Plantagenwirtschaft mit all ihren Folgen. Monokulturen, in denen es keine Puffer- und Ausgleichsmechanismen gibt, gehen regelmässig an Seuchen zugrunde, wenn man sie nicht ständig künstlich an ihrem immungeschwächten Leben erhält. Ein Urwald (auch der Zeitungswald von einst) ist vital, kann sich an seinen Lebensraum anpassen, und das Beste, was man für ihn tun kann, ist, ihn sich frei entfalten zu lassen. Menschliche Eingriffe in den Wäldern geschehen nicht zum Nutzen des Systems, sondern aus kurzsichtigem Gewinnstreben heraus.
 
Die herkömmlichen Medien sind grösstenteils in einem desolaten Zustand, haben sich kaputt- bzw. heruntergewirtschaftet und das Vertrauen verloren. Sie haben sich noch nicht darauf eingestellt, dass ihr Verhalten wegen der Möglichkeit zum Beizug von Vergleichsinformationen durchschaubar geworden ist.
 
Denke ich aus aktueller Sicht nach über 50 Jahren ans „Wynentaler-Blatt“ (WB) zurück, geschieht das mit Wehmut, unter die sich auch eine freudige Zuversicht mischt: Das WB als typische Lokalzeitung, die den Lesern den eigenen Lebensrum näher bringt und trotz der Übernahme des Echos vom Homberg nicht auf Expansionstour unterwegs ist, gibt es in der prinzipiell unveränderten Ausgestaltung noch heute. Und ich bin überzeugt, dass Globalisierungsverweigerer längerfristig die besseren Karten haben.
 
Aber vielleicht bin ich hoffnungslos veraltet, obschon mir klar ist, dass das Rad der Zeit nicht zurückgedreht werden kann. Aber man könnte ihm vielleicht eine vernünftigere Richtung geben.
 
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