Textatelier
BLOG vom: 24.03.2014

Freihandelsabkommen: Extrarechte für 600 US-Lobbyisten

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 
Als ich am 20.03.2014 die TV-Sendung „Gefährliche Geheimnisse“ auf 3sat sah, konnte ich vieles nicht glauben, versuchen doch die USA bei der bevorstehenden Abstimmung zum Freihandelsabkommen mit der EU das Beste für sich herauszuholen - und die EU fällt darauf herein. Die USA will US-Investoren schützen, sogar vor deutschen bzw. europäischen Gesetzen. Zusätzliches Misstrauen weckt auch, dass es Präsident Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel besonders eilig haben, das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) zwischen der USA und der EU so schnell wie möglich abzuschliessen ... bevor der folgenschwere Schwindel enthüllt ist. Die Befürworter sind der Ansicht, dadurch würden Handelsschranken abgebaut, die Wirtschaft gestärkt und neu Jobs geschaffen.
 
Wie unter www.format.at nachzulesen ist, „droht durch den Abbau der Handelsschranken die hohen demokratischen und ökologischen Standards massiv zu unterminieren.“ Man befürchtet aber auch den Verlust der europäischen Identität.
 
Nun bremst die EU das Abkommen mit guten Gründen. Vielleicht sind es die Bemühungen der deutschen Umwelt- und Verbraucherschützer, die über 320 000 Unterschriften sammelten (www.campact.de) und die Verantwortlichen aufforderten, das Abkommen nicht zu unterschreiben.
 
Lobbyisten konnten alles lesen
Die Geheimhaltung ist unverständlich, skandalös. Die EU-Kommission bekam Einblick in Dokumente, aber sie gab zum Teil diese nicht einmal an die Regierungen weiter. Die Fakten bleiben in Brüssel weiter unter Verschluss. Die europäische Wunschliste wollte die Kommission nicht bekanntgeben. Und jetzt kommt der „Hammer“: Die rund 600 US- Lobbyisten konnten alles lesen. Diese wollen ja das Beste herausholen. Die Waren der US-Industrie sollen in Europa prächtig verkauft werden. Hier stehen wieder einmal Wirtschaftsinteressen im Vordergrund. Gesundheitliche Risiken für den Verbraucher und der Umweltschutz bleiben auf der Strecke. Die Politik hat andere Prioritäten.
 
Besonders strittig ist das Investitionsschutzabkommen. Dazu Franziska Keller, Abgeordnete im EU-Parlament und für die Grünen im Handelsausschuss (www.zeit.de): „Wir fürchten, dass das Handels- und Partnerschaftsabkommen die Chancen von Konzernen, die Bundesrepublik oder gleich die ganze EU vor Schiedsstellen zu verklagen, enorm erleichtert… Amerikanische Unternehmen könnten dann beispielsweise klagen, wenn EU-Umweltgesetze ihre Gewinnaussichten schmälern.“
 
Etliche Umwelt- und Verbraucherzentralen, Bürgerrechtsinitiativen aus den USA und Europa fordern, dass die „Streitschlichtung zwischen Staaten und Investoren“ nicht in den endgültigen Vertrag aufgenommen werden sollten.
 
Regierungen in Peru und Australien verklagt
Bei den Verträgen gelten keine demokratischen Regeln. An 2 Beispielen soll dies demonstriert werden.
 
Beispiel 1: Der amerikanische Zigarettenkonzern Philip Morris verklagt derzeit die australische Regierung, weil sie auf den Zigarettenschachteln Gefahren des Rauchens hervorheben werden. Das Unternehmen befürchtet eine Schmälerung des Gewinns. Der Konzern hat über seine Vertretung in Hong Kong ausserhalb des bestehenden Rechtsrahmens die Regierung auf zig Millionen Dollar Schadenersatz verklagt. Karen Hansen-Kuhn: „Das ist ein ziemlicher Dämpfer für das Gemeinwohl. Und ein Weg für Unternehmen, dies mit Hilfe privater Schiedsgerichte zu umgehen, die der Öffentlichkeit nicht verantwortlich sind“ (3sat).
 
Zurzeit laufen weltweit 500 solcher Verfahren. Es geht um Schadenersatzklagen in Milliardenhöhe. Die Klagen werden vor internationalen Schiedsgerichten geführt, z. B. bei dem International Centre for Settlement of Investment Disputes in Washington. Das Recht, das hier gesprochen wird, kann nicht angefochten werden! Vertrag ist Vertrag und Recht ist Recht. Ich frage mich, warum angeblich „kluge“ Leute überhaupt solche Verträge unterschreiben. Das deutet eher auf Geistesschwächen hin.
 
Beispiel 2: Der Politikwissenschaftler Todd Tucker hat das Wesen der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit untersucht. Als Beispiel nannte er die Missstände des amerikanischen Konzerns Renco. Diese Firma betreibt in Peru ein Hüttenwerk. Der Ort soll einer der 10 am meisten verschmutzten Orte der Welt sein. 99 % der Kinder, die dort leben, haben erhöhte Bleiwerte im Blut. Die peruanische Regierung forderte Renco zweimal auf, den gesetzlichen Auflagen nachzukommen und auch bestimmte Stellen zu dekontaminieren. Die US-Firma unternahm nichts. Sie nutzte stattdessen das Freihandelsabkommen zwischen USA und Peru. In diesem Vertrag ist eine Klausel für Investorenschutz. Die Firma war fein raus. Sie drehte den Spiess herum und behauptete, Peru sei seinen Pflichten nicht nachgekommen. Die Schuld liege eindeutig bei der peruanischen Regierung. Tucker: „Das ist eine komplette Verdrehung. Jetzt setzt sich das Unternehmen über die Köpfe der Regierung und der Gemeinde hinweg und nutzt internationale Schiedsgerichte, um Geld von der Regierung zu verlangen.“ Die US-Firma verlangt nun 800 Millionen Dollar Schadenersatz von Peru.
 
Tucker weiter: „Unternehmen haben jetzt neue Rechte, mit denen sie Umweltpolitik anfechten können. Jedes Mal, wenn Regierungen jetzt ein Umweltschutzgesetz erlassen wollen, müssen sie darüber nachdenken, ob sie sich auf Schadenersatzklagen in Millionen oder gar Milliardenhöhe einlassen wollen. Das könnte sie entmutigen, in Zukunft für den Umweltschutz zu handeln.“
 
Die EU hat die Verhandlungen über den Investorenschutz bis nach den EU-Wahlen verschoben. Auf jeden Fall soll die EU-Kommission wachsam sein und sich nicht an die USA verkaufen. Aber Achtung! Sollte es zur Ablehnung des Investorenschutzes kommen, dann könnte die USA Zugeständnisse in anderen Bereichen fordern (Gentechnik, Chlorhühnchen, Hormonfleisch usw.).
 
10 Ängste von Firmen und Konsumenten
Unter www.format.at sind 10 Ängste aufgeführt (gekürzt und mit Kommentaren von mir versehen):
  1. Globalisierungsgegner fürchten einen vermehrten Raubbau der Natur.
  2. Hormonfleisch, Chlorhähnchen und Fleisch und Milch von geklonten Tieren könnten nach Europa legal verkauft werden. Sogar Suppenkonzentrate und andere Nahrungsmittel, die Extrakte von Chlorhähnchen oder Hormonfleisch enthalten, kämen hier in unsere Supermärkte.
  3. Gentechnisch veränderte Pflanzen würden nach Europa importiert werden.
  4. US-Firmen könnten klagen, wenn aufgrund von Sozial-, Gesundheits- oder Umweltschutzgesetzen ihre Gewinne geschmälert werden. Dieser Punkt zeigt doch, wie skandalös solche Bestrebungen sind. Die Gesundheit der Verbraucher ist den US-Boys egal.
  5. Sinkender Verbraucherschutz zugunsten der Konzernprofite.
  6. Lobbyisten von Firmen versuchen Einfluss zu gewinnen, zum Schaden der Konsumenten und Unternehmen.
  7. Die Industrie in Europa befürchtet hohe Zusatzinvestitionen, aufgrund der Angleichung technischer Standards und Normen.
  8. Die Privatisierung von Allgemeingut wie Luft und Wasser. In der Vergangenheit wurde schon diskutiert bzw. vorgeschlagen, ob nicht US-Unternehmen bestimmte Wasserwerke übernehmen könnten. Wahrscheinlich sind für US-Unternehmen die Geschäfte mit dem Wasser sehr lukrativ.
  9. Buchpreisbindung könnten gekippt werden (siehe Amazon, Apple mit seinem iTunes und Google).
  10. Das Copyright auf viele Werke könnte aufgeweicht werden. Nicht der jeweilige Verfasser würde profitieren, sondern das Unternehmen, das dessen Werk verkauft.
 
Ich finde, man sollte die Ängste der Verbraucher ernst nehmen. Viele Politiker wollen sich profilieren und so schnell wie möglich das EU-US-Freihandelsabkommen zu pushen. Warum nicht mehr Zeit lassen und alle Einsprüche von Seiten der Verbraucher und auch von neutralen Fachleuten überprüfen?
 
Walter Hess sandte ich Infos zur 3sat-Sendung zu. Er lobte die Fernsehsendung und betonte, dass viele Politiker blöde genug sind, auf Versprechungen der USA hereinzufallen.
 
Schon in einem Blog vom 19.01.2006 „Mögen wir von Schurkennahrungsmitteln verschont bleiben!“ warnte Walter Hess in drastischen Worten vor der Einschleusung von minderwertigen Nahrungsmitteln und gentechnisch veränderten Pflanzen in die Schweiz, falls das Freihandelsabkommen kommt. Seine Schlussworte im Blog: „Ich habe nichts dagegen, wenn die Amerikaner Hormonfleisch und Gentech-Nahrungsmittel für den eigenen Bedarf herstellen. Sie mögen ihr minderwertiges Zeug selber herunterwürgen, aber bitte nicht die ganze Erde damit verseuchen. Wir sind davon bereits genügend betroffen. Man müsste Türen schliessen statt total öffnen.“
 
Ich hoffe nur, dass einige Politiker ihren Verstand einsetzten und nicht auf die Empfehlungen von „Freunden“ hereinfallen. „Das tut man nicht unter Freunden“, sagte einst Angela Merkel nach Bekanntwerden der Handy-Abhöraktion der NSA bei ihr. Empfehlung: Das sollte sie auch vor der Unterschrift des Freihandelsabkommen den US-Boys entgegenschleudern. Aber sie wird wohl weiterhin zu unterwürfig den „Freunden“ gegenüber sein.
 
In einem weiteren Blog werde ich die Folgen der Gentechnik und den Einsatz von Glyphosat näher beleuchten. Super-Unkräuter bedrohen heute schon die US-Landwirtschaft – und sicher auch bald weitere Länder.
 
 
Internet
www.zeit.de („Extrarechte für Multis“)
www.format.at („Internationale Wirtschaftsnachrichten“)
www.zeit.de („Aus Angst vor den Bürgern“)
 
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