Textatelier
BLOG vom: 08.04.2014

Lebensbeichte – Fortsetzungsroman aus Nachlässen (2)

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
Heinrich Heine hatte in „De l'Allmagne“ (Nouvelle Edition, Paris 1855, 2. Bd., 10. Teil) behauptet, es sei noch niemanden gelungen, eine aufrichtige Autobiographie zu schreiben. Ob es dem Verfasser der „Lebensbeichte“, wie ich sie für mich benannt habe, gelingen würde?
 
Was ist für Heine „aufrichtig“? Dostojewskij schrieb in seinen „Aufzeichnungen“, „wie man sich zuweilen aus Eitelkeit ganze Verbrechen zuschreiben kann“.
 
Eitelkeit habe ich bisher aus den Blättern nicht herauslesen können. Ich war gespannt auf seine weiteren Ausführungen. Ich begann das Blatt 4 zu lesen.
 
„In dieser Zeit erwachte in mir meine Sexualität. Auch hier musste ich zuerst den Geboten und Normen meiner christlichen Erziehung adé sagen. Für die leibfeindlichen Katholiken ist schon der Gedanke daran sündhaft. Geschlechtsverkehr ist bei ihnen nur erlaubt, wenn ein Kinderwunsch vorhanden ist. Kinder in diese Welt setzen? Mich schauderte. Schon der Gedanke daran erzeugte in mir Widerwillen. Ich hatte zwar ein Auge auf ein Mädchen geworfen, aber bei ihr in dieser Hinsicht anzukommen, erschien mir fast unmöglich. Bereits bei unseren ersten vertrauten Gesprächen teilte sie mir ihre feste Überzeugung mit, mit dem, was Ehepaare tun, wie sie sich ausdrückte, warten zu wollen, bis sie verheiratet sei. Unter meinen Mitschülern waren einige Aufschneider und Grosstuer, die angaben, sie hätten schon ‚eine Reihe Schiksen flachgelegt’. Das konnte man glauben oder auch nicht, beweis- und belegbar war es nicht.
 
Ein Freund hatte die Idee, ins Bordell zu gehen. Die erste Frage war die nach dem Preis, die zweite, was das wohl für Frauen seien, die sich dort verkauften, und warum taten sie es? Wir vereinbarten einen späten Nachmittag, es war bereits dunkel, nahmen den Zug in die nächste Stadt und fuhren in die Strasse, in der die Frauen flanierten. Eine Frau im mittleren Alter mit langen dunkelblonden Haaren nahm mich mit auf ihr Zimmer. Sie sah wohl, dass ich ein unerfahrenes Jüngchen war und behandelte mich mit Verachtung, auch deshalb, weil ich auf besondere Praktiken, die sie gegen zusätzliches Geld anbot, nicht einging. Das enge Zimmer, das schmuddelige Bett, das unsaubere Waschbecken, in dem sie vor dem Akt mein Organ waschen wollte, stiessen mich ab und widerten mich an. Ich erkannte, dass ich so keine Befriedigung erhalten würde, nur die Frau würde sie in Form von Geld bekommen. Sie drängte, kassierte und wollte mich schnell abservieren. Hassgefühle stiegen in mir hoch. Ohne Nachzudenken griff ich zur Sektflasche, die auf dem kleinen Beistelltisch für zahlungskräftige Kunden bereitstand und versetzte ihr damit einen kurzen heftigen Schlag auf den Kopf, so dass sie bewusstlos niedersank. Ich zog mich an, vergewisserte mich, dass mich auf dem Flur und im Eingang niemand sah und lief in die Dunkelheit. Der Bahnhof war nicht weit, und ohne auf meinen Freund zu warten, nahm ich den nächsten Zug in meine Stadt.
 
Im Abteil legte sich meine Aufregung. Niemand wusste, wer ich war. Huren mussten damit rechnen, misshandelt zu werden. Die Gesellschaft behandelte sie wie Abschaum, sie gehörten zu den Rechtlosen. Ich fühlte keine Schuld, es war doch sie, die mich schamlos provoziert hatte. Die Zeitungen erwähnten 2 Tage später in einer kurzen Notiz, ein Freier habe eine Prostituierte niedergeschlagen. Sie sei mit einer Gehirnerschütterung davongekommen.
 
Das ihr gegebene Geld ärgerte mich. Ich sagte mir, dass ich doch etwas dafür bekommen hätte, ich hatte Macht verspürt, das Gefühl mehr zu sein als diese Frau. Es war ein triumphales Gefühl, ich erkannte, dass ich in der Lage war, in dieser Gesellschaft aufzusteigen, so hoch, bis ich auf andere hinunterschauen, sie dirigieren konnte. Der Vorfall hatte mir ein ungeahntes Hochgefühl des Selbstbewussten verschafft.“
 
Dostojewskij beschrieb eine Traumperiode seines Erzählers, in dem er eine Liebe erlebte, die „eine phantastische Liebe war, wenn sie sich auch in Wirklichkeit niemals auf Menschliches richtete, so gab es ihrer so viel, dieser Liebe, dass man später, in Wirklichkeit, gar kein Bedürfnis empfand, sie zu verwenden.“
 
Dem Verfasser der „Lebensbeichte“ muss es ähnlich ergangen sein. Er beschrieb Träume, in denen er „Zuflucht zu allem Schönen und Erhabenen“ gefunden habe. Damit hatte er zwar Dostojewskijs Worte benutzt, und doch war es etwas anderes. Dostojewskijs Held hatte die Prostituierte aufklären wollen, in welcher Situation sie sich befunden hat, dass sie niemals aus eigener Kraft aus dem Sumpf herauskommen würde.
 
Ich war bei Blatt 5 angelangt.
 
„Das war der Anfang meiner Sammelleidenschaft. Ich habe keinen Plunder gesammelt, Dinge, die irgendwo herumstehen und verstauben, nein, ich fing an, Erfahrungen zu sammeln. Meine Unfähigkeit, mit der Prostituierten zu schlafen, verdrängte ich. Ich sammelte Erfahrungen, die mich – so glaubte ich fest – zu mir selbst führen würden. Ich hatte zum ersten Mal ein ,Ich-Gefühl’, ich war jemand! Niemand, den man wie ein Insekt mit dem Daumen zerdrücken konnte, sondern jemand, der sich auf den Daumen setzte und zustach. Ich fühlte mich nicht mehr als ‚kleines Würstchen’, ich hatte ein Potential, einen Schatz in mir, den ich nur heben musste.
 
Mit modernen Worten müsste man dieses Erlebnis ein Schlüsselerlebnis, eine Initialzündung nennen. Es hat etwas in mir bewirkt. Ich wurde selbstbewusster, ich, der ich wie ein Hund mit eingezogenem Schwanz depressiv und ängstlich durch die Gegend gelaufen war, fühlte plötzlich, das ich ein Individuum war, Würde und Ehre und all die Bezeichnungen trug, die einen ‚ganzen Menschen’ ausmachten.
 
Ich begann eine Ausbildung. Ich lernte, dass sich Kritik in ‚Vorschläge zur Verbesserung’ verstecken liess, ich war ‚konstruktiv’. Ich erfuhr, dass man meine Vorschläge annahm und umsetzte. Ich war wer, ich war ein akzeptiertes Mitglied des Betriebes.
 
Nach der Abschlussprüfung, bewertet mit ‚gut’, bekam ich als Einziger des Jahrgangs die Kündigung. Die Vorgesetzten hatten nicht erkannt, worauf es ankam, sie hatten es bequem und so sollte es bleiben! Mein Selbstgefühl liess mich mit dieser Erfahrung lässig umgehen. Es wurmte mich natürlich, aber – so dachte ich – sollen sie doch bleiben, wo sie sind. (Bereits 10 Jahre später musste die Firma Konkurs anmelden und wurde verkauft.)
 
Ich fand eine Stelle in einem anderen Betrieb. Nach einem halben Jahr bekam ich zum ersten Mal die Gelegenheit, Anordnungen und Aufträge zu erteilen. Ich war zwar kein Vorgesetzter, aber eine Stufe davor. Es war eine gute Erfahrung, meine Mitarbeiter waren willig, sie erfüllten ohne zu Murren die ihnen gestellten Aufgaben, und ich hielt sie bei Laune, indem ich belegte Brötchen und Getränke spendierte, auf Firmenkosten natürlich. Dennoch, ich wurde anerkannt in meiner Führungsrolle.“
 
Ich vermute, dass jeder, der mit dem Leben und dem Erlebten von anderen Personen konfrontiert wird, seien es Informationen über real lebende Personen, seien es Fiktion aus Filmen, Büchern und anderen Medien, versucht, diese Erkenntnisse in sein eigenes Weltverständnis einzugliedern. Dieser Jemand fragt sich, wie realistisch, wie glaubwürdig es ist oder ist es eine Scheinwelt, die dort vorgeführt wird. In diesen Blättern, die ich gerade gelesen hatte, ging es um sexuelles Verlangen und um Macht. Um sexuell aktiv zu werden, vor allem von der männlichen Seite her, ist immer auch Macht im Spiel. Ich erinnerte mich an Schriften von Michel Focault, die er zu genau diesem Thema veröffentlicht hat. Nach ihm ist Macht immer auf Handeln aus. Innerhalb Focaults Theorie gesellschaftlicher Macht hat die Sexualität einen hohen Stellenwert.
 
War die Beschreibung des Besuchs im Bordell und die Erkenntnis, dass Macht Omnipotenzgefühle auslösen kann, die mehr bedeuten als sexuelle Potenz, so eng verknüpft, Zufall, oder hatte der Verfasser der „Lebensbeichte“ Michel Foucault gelesen? Hat er Gedankengänge von Dostojewskij mit denen von Foucault verknüpft? Ich hoffte, dass sich das Rätsel beim Lesen der weiteren Blätter lösen wird.
 
Fortsetzung folgt.
 
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