BLOG vom: 30.04.2014
Reaktionen auf Blogs (143): Deschner schrieb Geschichte
Zusammenstellung der Blog-Reaktionen: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Das Medienecho auf den Tod von Karlheinz Deschner, dem Verfasser der 10 Bände umfassenden „Kriminalgeschichte des Christentums“, war gewaltig und in diesem Umfang durchaus gerechtfertigt. Eine besonders intensiv geführte Diskussion mit fachlichem und persönlichem Tiefgang lösten die beiden fulminanten Blogs aus dem Textatelier.com aus, die der Historiker und Schriftsteller Pirmin Meier, Rickenbach/Beromünster LU, verfasst hat:
Die mit Karlheinz Deschners Schaffen seit Jahrzehnten vertraute Mainzer Pädagogin und Autorin (E-Mail: gabriele_roewer@gmx.de) repliziert detailliert auf Pirmin Meiers Deschner-Porträt.
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Stellungnahme von Gabriele Röwer
Lieber Herr Dr. Meier,
wir beide waren Gesprächspartner Ihres Landsmannes, des Religions- und Kirchenkritikers Robert Mächler (1909‒1996), engagierter Mittler der Werke Karlheinz Deschners in der Schweiz. Ihre Briefe an Mächler nahm ich auf in den Korrespondenzband „Arme Teufel sind wir alle“ (Haupt 2010). Ich wusste um Mächlers Wertschätzung Ihres, trotz konservativem Grundton, nonkonformistischen Geistes. Dessen Spuren fand er als Rezensent in den Literatengedichten eines „strengkatholischen Nihilisten“ („Gsottniger Werwolf“, 1984) wie auch 1993 in Ihrem Werk über Paracelsus (einer einzigartigen „Zusammenschau von Medizin, Kosmologie, Psychopathologie, magischen Gesichtspunkten und politischer Kritik“). Mit Mächler, wie auch mit Deschner, verbindet Sie zudem das Plädoyer für eine Trennung von Staat und Kirche, inklusive Aufhebung der staatsgarantierten Kirchensteuer und des kirchlichen Pfründenwesens.
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Ich danke Ihnen für Ihr Bemühen, sich mit Karlheinz Deschner, dessen Werk ich seit einigen Jahrzehnten kritisch begleite, anlässlich seines Todes am 8. April 2014 auseinanderzusetzen. Sie gaben mir freundlicherweise Anteil an einigen Vorstadien der Veröffentlichung Ihrer Gedanken zu Deschners Œuvre. Meine von Ihnen erbetenen Korrekturvorschläge berücksichtigten Sie teilweise – hier und in den kürzeren Fassungen (Basler Zeitung, 16.4.14; „Portal der Erinnerung“). Das, trotz Mächlers Geistesnähe, aus meiner Sicht im Ganzen eher negative Ergebnis Ihrer Betrachtungen lässt mich nach dem Movens eines solchen Unterfangens fragen – Antwort offen. Zumal Sie (im Gegensatz zu Mächler im Ausklang sämtlicher seiner kritischen Würdigungen) für mein Auge mehr als nur in der Schwebe (allenfalls ahnen) lassen, was Sie als Ihr ureigenes „Proprium“ gegen Deschner verteidigen (gemäss Fichtes immer wieder bedenkenswertem Diktum: „Jeder denkt, wie er’s braucht“), ja, warum Sie, „in der Sache“ (!), sein „Gegner“ sind („Portal der Erinnerung“). Zuweilen hatte ich grosse Mühe, dem Duktus Ihrer Sprache und Kritik zu folgen, zu verschieden wohl ist vor allem unsere Erfahrung mit und daher unser Zugang zu Karlheinz Deschner und seinen Büchern.
Im Folgenden werde ich mich auf das beschränken, was ich, unbeschadet meiner sonstigen Hochachtung für Ihr literarisches Schaffen, als besonders problematisch erachte sowohl an Ihrem eigenen Sprachgestus wie an Ihrer Kritik von Form und Inhalt des Deschner’schen Werks, dem Sie aus meiner Sicht, trotz wiederholtem Gesamtlob, im Einzelnen nicht gerecht werden.
Ihr Gesamtlob Karlheinz Deschners
Vieles zwar klingt achtungsvoll, schon der Titel könnte rühmlicher nicht sein: „Der Zeit die Stirn geboten“, wieder aufgenommen im „Selberdenker“ gegen eine dem jeweiligen „Zeitgeist-Klüngel“ verhaftete historisch-theologische „Konsensobjektivität“. Sie attestieren Deschner, einem „authentische(n) Unzeitgemässe(n) unserer Zeit“, „intellektuelle Redlichkeit“ und einen „vielschichtigen Horizont“, ja, Sie vermochten, dank Mächler, in ihm „dauerhaft einen interessanten Autor“ zu sehen, gar einen der „bedeutenden Intellektuellen Deutschlands im 20. Jahrhundert“.
Der Teufel aber steckt bekanntlich im Detail, und in der Detailkritik verflüchtigt sich Ihr Allgemeinlob denn auch nicht selten gänzlich oder es relativiert sich durch Widersprüchlichkeit, wie nun zu zeigen ist.
Ihre Detailkritik Karlheinz Deschners
Vorweg: Anmerkungen zu Ihrem Sprachgestus und zu Ihrer Sicht Deschners als „Polemiker“:
Ich bitte um Nachsicht dafür, dass mir Ihr Sprachgestus Deschner gegenüber oft, gelinde gesagt, Mühe macht. Sie sprechen zuweilen gleichsam „olympisch“, als wüssten Sie, einem auktorialen Erzähler gleich, was Deschner gewollt oder nicht gewollt haben mag, ein Autor, den Sie – im Unterschied zu all jenen, über die Sie sonst Beachtliches schrieben – so oder so kaum kennen. Fehlende – oder wie in einem besonders gravierenden Fall verfälschte – Zitate oder Texthinweise sprechen für sich, ebenso die fehlende, mich bei unserem gemeinsamen Freund Robert Mächler stets aufs Neue beeindruckende klare Unterscheidung zwischen persönlicher Stellungnahme im Gefolge wertungsfrei-sachlicher (bei Ihnen kaum ansatzweise zu findender) Darstellung des zu würdigenden Werks.
Den im März 2013 abgeschlossenen 10. Band der „Kriminalgeschichte des Christentums“ (Abk. KdC), nur auf diesen nehmen Sie, wenn auch minimal, überhaupt Bezug (wie viel lasen Sie davon?), lassen Sie in einigen Varianten des vorliegenden Textes gar schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts enden, statt (auch für das „Portal der Erinnerung“ nach Hinweis korrigiert) erst im Ausgang des 18. Jahrhunderts. Im summarischen Eingang zur neuzeitlichen „Politik der Päpste“ (Neuauflage 2013) wird die Französische Revolution (wie vieles andere vor dem Pontifikat Leo XIII. 1878 ff) nur gestreift, freilich nicht, wie Sie mutmassen, aus Desinteresse an damaliger „Christenverfolgung“. (Auf welche Quellen stützt sich übrigens Ihre Mitteilung andernorts, die Christenverfolgung im 20. Jahrhundert übertreffe alle anderen für dieses Säkulum dokumentierten Verfolgungen?)
Zudem urteilen Sie nach meinem Empfinden nicht selten anmassend-apodiktisch, zumindest verallgemeinernd über etwas, das nur, Ihnen sonst so wichtig, am Einzelfall relevant wird. Ein Beispiel, das für andere steht: „Polemiker (als den Sie Deschner hier mehrfach bezeichnen) sind regelmässig Gescheiterte.“
Auch Ulrich von Hutten? Auch Lessing und Schopenhauer? Auch Heine und Marx? Auch Tucholsky und Karl Kraus? Auch Ambrose Bierce und Oskar Wilde? Sofern man unter „Polemik“ nicht, wie heute verbreitet, abschätzig blosse Streitsucht, ein Niedermachen des andern mit allen Mitteln und um jeden Preis versteht, sondern, wie vor Zeiten, eine gelehrte Fehde im Wettstreit nachprüfbarer, auch scharf und schärfst formulierter Argumente, etwa zur Aufdeckung einer Lüge oder Schandtat: dann und nur dann mag man einem Urteil Ludwig Marcuses von 1965 folgen: Die ersten beiden Literaturkritiken Deschners waren erschienen und 1962, gleichfalls vielbeachtet und folgenreich, „Abermals krähte der Hahn“ (sein Frühwerk zur ausführlichen Kritik der Glaubensgrundlagen wie auch, damals noch summarisch, zur fast ausnahmslosen Pervertierung frühchristlicher Ideale wie Armut und Friedfertigkeit im Lauf der nächsten 2 Jahrtausende durch christliche Potentaten, zumal auf dem sogenannten „Stuhl Petri“, in ihr krasses Gegenteil). Mit Bezug darauf handelt Marcuse am 5.11.1965 in der „Zeit“ das „Kapitel Polemik“ am Beispiel Karlheinz Deschners ab. „Die Kunst des homerischen Streits“ sei zwar hierzulande noch unterentwickelt, was auch Deschners polemische Potentiale beschränke. Dennoch, resümiert er, sei „nur mit den Deschners“ diese Kunst zu regenerieren, „eine grosse deutsche Literaturtradition...: das beste Wort für die notwendige Attacke.“
Hebt sich aber, so ist darüber hinaus zu fragen, Ihr obiges generalisierendes Urteil nicht selbst auf, wenn Sie den „regelmässig Gescheiterten“ zugleich attestieren, das müsse „noch lange nicht heissen..., ihre Anklage sei nicht ernst zu nehmen“. Wird diese aber ernst genommen, ist der polemische Ankläger nicht unbedingt gescheitert. Was Sie schliesslich unter einer „polemischen Synthese“ verstehen, nach der Deschner angeblich gesucht habe, wäre zu verifizieren an einem Beispiel aus Deschners Büchern – ich weiss davon nichts.
„Polemik“, immerhin im klassischen Sinn, schreiben Sie dem „kämpferische(n) Privatgelehrte(n)“ Deschner zu.
Cum ira et studio entschieden Partei ergreifend für die Abermillionen Opfer kirchlicher Macht – gefoltert und gemeuchelt, erschlagen, erhängt oder verbrannt –, einem „kirchenhistorische(n) Anti-Tacitus“ (Ludger Lütkehaus) gleich, begegnet Deschner im weiteren Fortgang Ihrer Darlegungen allerdings nicht unbedingt Ihrem Wohlwollen, etwa wenn Sie schreiben, dass er „sich (!) als einen radikalen Aufklärer versteht (!)“: nur er sich selbst? Warum diese individualisierende Begrenzung? Was sonst, wenn nicht dies schätzten seine Leser an ihm und viele seiner Rezensenten – wahrlich nicht nur die von Ihnen angeführten zweifelnden Kirchenmitglieder und diverse Redakteure, sondern, das „übersehen“ Sie (warum?), eine ganze Phalanx namhafter Gelehrter, darunter zahlreiche Theologen, auch katholische, deren Stimmen über Deschner, unbeschadet seiner Kritiker mit und ohne akademische Würden, auszugsweise nachzulesen sind im Beiheft zu Band 10 der KdC
(S. 14‒22; 32 f) oder auf
Deschners Website mit dem bezeichnenden Motto – einem seiner inzwischen vielzitierten Aphorismen –: „Aufklärung ist Ärgernis; wer die Welt erhellt, macht ihren Dreck deutlicher.“ Eben dies war Deschners Lebensaufgabe – ganz im Sinne Robert Mächlers, der schrieb: „Radikale Kritik zerstört das Zerstörende, die Lüge, und ist so die Vorbedingung eines jeden rechten Aufbaus“ (in: „Irrtum vorbehalten“, Haupt 2002, S. 82). Für eine von Ihnen vermisste Kritik des Judentums, des Islams, hätte Deschner nochmals ein ganzes Leben gebraucht...
Deschners Hauptwerk: ein „Grosspamphlet“?
Sein zehnbändiges Opus Magnum aber, das auf 6000 Seiten mit 100 000 Belegen die dunklen, ja, nach zeitlosen Massstäben (Mord war immer ein Verbrechen) wie erst recht nach urchristlichen Maximen kriminellen Machenschaften der Catholica im Namen des Höchsten, die „Blutspur einer Liebesreligion“ durch die Jahrhunderte ausleuchtet – wahrlich nicht, wie Deschner ausführlich nachweist, Ausnahmen, vereinzelte Ausrutscher gleichsam, sondern die Regel im Sinne der relevanten politikbestimmenden Leitlinien ihrer führenden Potentaten: diese bei Rowohlt 1986-2013 erschienene „Kriminalgeschichte des Christentums“ winken Sie ab als „Grosspamphlet“ – ein Begriff mit nach heutigem Sprachgebrauch eindeutig pejorativem Beigeschmack (in der „Basler Zeitung“ nennen Sie das Pamphlet sogar „Deschners bevorzugte Textsorte“...) – und verweisen u. a. auf weitgehend fehlende eigene Quellenstudien: wie dies, wollte er, sofern respektabler Quellenforscher, nicht heute noch bei Band 1 seines Hauptwerks stehen. Der Göttinger Theologe Julius Groos hält stellvertretend für viele seiner Berufskollegen dagegen: „Was unseren gelehrten Büchern versagt bleiben wird, Ihrem Werk dürfte es gelingen: die Masse der Gebildeten mit den Ergebnissen der modernen Forschung über das Christentum bekannt zu machen.“ Selbst der katholische Theologe Georg Denzler konnte sich nicht die Anerkennung Deschners als „kenntnisreichste(m) unter den Advocati diaboli“ versagen.
Zugleich heben Sie hervor, Deschner sei „der wohl bestbeachtete und von einigen meistgefürchtete Kritiker des Christentums und der Kirchen in den letzten 50 Jahren“. „Bestbeachtet“ warum? „Meistgefürchtet“ warum? Ein „generalisierender“ Verfasser von Gesamtdarstellungen, der Deschner für Sie im Wesentlichen ist, mit wenig profunder Detailkenntnis, etwa über die positiven (u. a. medizinischen) Leistungen des Deutschritterordens, muss nicht gefürchtet, gar „meistgefürchtet“ werden, der dünne Boden seiner Darstellungen wäre rasch offenkundig.
Das Movens von Deschners Kirchenkritik
Deschner legt den Finger auf die Verbrechensgeschichte Ihrer Kirche, gegen die Sie, so spüre ich aus vielem heraus, trotz aller Kritik, so etwas wie eine „Heilsgeschichte“ verteidigen möchten (müssen? siehe Fichte). Beides könnte nebeneinander bestehen, würden Kritiker Deschners sich überhaupt erst mal lesend auf ihn einlassen. Rasch würde deutlich, dass er die von Ihnen vermissten und von Apologeten favorisierten positiven Gestalten der Kirchengeschichte in der Nachfolge des synoptischen Jesus keineswegs leugnet, freilich klarstellt, zum einen, dass sie nicht selten einst von ihrer Kirche verfolgt, später, wenn opportun, zur Selbstrechtfertigung bisweilen umso höher gehoben wurden; dass sie, zum andern, kaum bestreitbar, alles in allem nur geringen oder keinen Einfluss hatten auf die, von Deschner detailreich fokussierten, politikbestimmenden kurialen Mächte (deren „Macht“ Sie indes von Deschner „regelmässig falsch“ eingeschätzt sehen...) nebst deren Vasallen, welche zur Wahrung und Mehrung ihrer Macht nach innen und aussen die Ethik der Bergpredigt Jahrhundert für Jahrhundert „im Namen des Herrn“ mit Feuer und Schwert ins Gegenteil verkehrten. Für deren namenlose Opfer aber schlägt das Herz Deschners, auch sonst mitfühlend, ja, mitleidend wie nur einer. Kaum jemand hat das wohl so eindringlich zum Ausdruck gebracht wie sein ihm auch räumlich fast benachbarter Freund Hans Wollschläger in einem mehrfach veröffentlichten „Leitfaden a priori“ von 2004:
„Deschner schreibt als Kirchengeschichte die ganze Geschichte neu – und gibt sie in eben dieser Identität als die Kriminalgeschichte zu erkennen, die sie war. Das geht der gesamten Vertuschungs-Historiographie mitten ins Gesicht, und nur folgerichtig geschieht es mit allen dort verpönten Mitteln: urteilend, wertend – nämlich ‚moralisch‘ wertend, nämlich aus der Sicht der Opfer urteilend, die das alles erdulden mussten: eine Greuel-Chronik ohne Wenn und Aber. ‚Differenzierung‘ verlangt da habituell die Zunft-Kritik, um aus dem Blutsumpf in irgend eine ‚Idee‘ abheben zu können; nichtsda: sie brächte, aus der Nähe der Erduldenden gesehen, keine Differenz. Diese Nähe, an der er unerbittlich festhält, ist Deschners Prinzip – und seine ihm nicht entreissbare Legitimation.“
Doch nicht Hass treibt diesen Kirchenkritiker an, wie auch Sie mehrfach suggerieren, trotz seiner, wie Sie konzedieren, so gar nicht „hasserfüllten Augen“ (im ironisch gefärbten Titel des Films von Ricarda Hinz), sondern Feindschaft, wahrlich nicht zurückzuführen auf plattes Ressentiment. In der ausführlichen Einleitung zu seinem Hauptwerk über seine Methode, das Objektivitätsproblem und die Problematik aller Geschichtsschreibung stellt er klar: „Die Geschichte derer, die ich beschreibe, hat mich zu ihrem Feind gemacht.“ Und mit Blick auf seine Kritiker, die ihm Einseitigkeit oder Fehler vorwerfen werden, fügt er hinzu: „Und nicht, weil ich nicht, was auch wahr ist, geschrieben habe, bin ich widerlegt. Widerlegt bin ich nur, wenn falsch ist, was ich schrieb.“
Statt sich dem erschütternden Resultat seiner Gesamtbilanz auszusetzen, schirmen sich etliche von Deschners Kritikern davor ab,
‒ indem sie, wie leider auch Sie, Herr Dr. Meier, den Fleiss des Autors, immer wieder seinen immensen Fleiss hervorheben (wie geprügelt fühlten wir uns als Pennäler, wenn man uns mit diesem Kommentar eine Arbeit zurückgab, die ansonsten zu wünschen übrig liess...);
‒ oder indem sie an diesen und jenen Ungenauigkeiten herummäkeln (unvermeidlich bei einem solchen Mammutwerk eines Einzelnen ohne Mitarbeiterstab wie universitäre Forscher);
‒ oder auch, indem sie das Ganze generös deklarieren – und herabwürdigen – als ein, immerhin „anregendes“ (allerdings, wie Sie mehrfach hervorzuheben nicht versäumen – warum? – nach Form und Aufklärungsgehalt von etlichen wirklich Grossen zuvor weit übertroffenes bzw. in Teilgebieten auch von Autoren der NS-Ära [!] bereits gründlich erforschtes) „Überblickswerk“ mit mehr als nur „Unterhaltungswert“;
‒ oder schliesslich, indem sie es, wie der von Ihnen zitierte Hans Küng, belächeln als „ewige Fortschreibung der kirchlichen Skandalchronik“ („chronique scandaleuse“ in der Kurzfassung Ihres Textes) – wobei wenigsten der fortgesetzte „Skandal“ zugegeben wird, während Sie im vorliegenden Text, für mich viel gravierender, Deschner fast bis zur Unkenntlichkeit diminuieren als einen „skandalisierenden (!) historiographischen Erzähler“ – unverkennbar der Wink: die Geschichte der Kirche selbst ist nicht finster, nicht skandalös, sondern Deschner ist es, der sie schwärzt – sie eben, effekthascherisch, skandalisiert. Semper idem: wer den Schmutz aufdeckt, gilt als Verschmutzer.
Ausblendung von Deschners „Politik der Päpste“ im 19. und 20. Jahrhundert
Einen Gipfel aber erreicht für mich Ihre fatale Ausblendung des Skandalons (!) päpstlicher, Politik zur Durchsetzung kurialer Macht mit allen erdenklichen, nur eben nicht „ur-christlichen“ Mitteln bei Ihrer weitgehenden Ignorierung der über 1000 Seiten umfassenden neuzeitlichen Papstgeschichte Karlheinz Deschners „Die Politik der Päpste. Vom Niedergang kurialer Macht im 19. Jahrhundert bis zu ihrem Wiedererstarken im Zeitalter der Weltkriege“ (Alibri/2013), vom Autor verstanden als gleichsam 11. Band seiner „Kriminalgeschichte des Christentums“. Dessen mit gut 550 Seiten (der Hälfte also des Gesamtwerks) und weit über 3000 Anmerkungen allein dem Pontifikat Pius XI. (ab 1922) und Pius XII. (ab 1939) gewidmeten Hauptteil hatte Deschner längst vor dem 1. Band der KdC (1986) vorbereitet bereits durch das epochale Werk „Mit Gott und den Faschisten“ von 1965, worin er als erster in dieser Ausführlichkeit die Verbindungen zwischen Vatikan und europäischem, inkl. kroatischem, Faschismus, aufzeigte; später dann erheblich erweitert um die Päpste seit Mitte des 19. Jahrhunderts und nach 1962 im Doppelband von 1982/83 („Ein Jahrhundert Heilsgeschichte...“, Verlag Ki&Wi), nochmals aktualisierend erweitert 1991(Rowohlt) und schliesslich 2013 bis in die Gegenwart erweitert von Michael Schmidt-Salomon.
Während Sie das immense Werk im vorliegenden Text nur bei Nennung jenes Namens einmal kurz streifen, ansonsten nur auf dessen mutmassliche Entstehungszeit zu sprechen kommen anlässlich einer Veranstaltung mit dem „Demagogen“ Deschner 1982 im Zürcher Spirgarten, die Ihren zutiefst negativen Eindruck von dessen Kritik des zeitgenössischen Papsttums bis heute nachhaltig prägte, las ich dieses Werk als Korrektorin der Neuauflage vor einem Jahr Wort für Wort, immer wieder innehaltend, überwältigt auch von der Sprachkraft, mit welcher der Autor die Fülle der gerade hier (!) bestdokumentierten, meist „geheimdiplomatischen“ Verbindungen des Vatikans mit sämtlichen Weltmächten, je nach Gebot und Gunst der Stunde, darzustellen wusste. (Vgl. meine Zusammenfassungen
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Wenn Sie nun bedeutungsvoll auf die Vatikan-Archive verweisen, mit deren Öffnung überhaupt erst eine seriöse Forschung über die fragliche Zeit möglich sei, halte ich dagegen: Die zahlreichen päpstlichen und bischöflichen Verlautbarungen, zumal in der Ära der beiden Weltkriege, welche in Deschners neuer Papstgeschichte zu lesen und mit Quellenangabe genau belegt sind, werden durch neue Funde ganz sicher ergänzt, nicht aber annulliert. Vergewissern Sie sich selbst – lesen Sie’s, bitte, einmal genau! Selbst ein Teilnehmer des 1992 (man bedenke: just ein Jahr nach der ersten Neuauflage dieser – Ansehen und damit Macht des hohen Klerus besonders bedrohenden – Papstgeschichte bei Rowohlt!) gegen Deschner aufgebotenen Symposions der katholischen Akademie Schwerte, Siegfried Wiedenhöfer, Professor für systematische Theologie, räumte ein, dass die Kritik Deschners auf ein „Fundamentalproblem“ von Kirche und Theologie hinweise, das „Glaubwürdigkeitsproblem“. In dieser Hinsicht sei „der ethische Rigorismus Deschners durchaus als Partner der Kirchenreform zu verstehen“. Auch wenn für Deschner, obschon nach Wolfgang Thielmann (theologischer Mitarbeiter von „Christ und Welt“) ein Anwalt „der moralischen Massstäbe des Christentums“ (ZEIT 24.04.14), eine solche Reform letztlich illusorisch ist, weil schon die Glaubensgrundlagen seiner kritischen Prüfung nicht standhalten (siehe „Abermals krähte der Hahn“, 1962; „Der gefälschte Glaube“, 1971/1988; KdC Band 3, 1990), könnten Voten wie das von Professor Wiedenhöfer Sie vielleicht doch zu näherer Beschäftigung mit Deschners Kirchenkritik bewegen. Zumal Sie selbst, trotz bisher offensichtlich geringem Zugang zu seinem Werk (immerhin auch für Sie ein „Gegensteuer“ zur „Geschichtsschreibung der Herrschenden“), eingestehen: „Hätte ich aber Deschner [dessen Name Ihres Erachtens „in der Geschichte von Religion und Kirche länger halten (wird) als vielleicht Namen wie Küng, Rahner und Drewermann] nicht gelesen, die Gefahr, es (was?) idyllisch, verkitscht oder schlicht verlogen zu machen, wäre grösser geworden als sie es ohnehin ist.“
Der Nerv von Deschners Opus Magnum:
Kritik der Heuchelei im Heiligenschein
Gerade die Gefahr der „Verlogenheit“ halte ich nicht für unwahrscheinlich. Denn Fakt ist: Deschner deckt sie auf, die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, diese Heuchelei im Heiligenschein. Noch gehen Sie nicht selbst der Entlarvung kirchlicher „Doppelmoral von Helden und Heiligen“ nach als dem Zentralnerv von Deschners Arbeit, zitieren aber, dankenswerterweise, den auch hier wieder unübertrefflich klaren Michael Meier, kritischer Katholik wie Sie, indes langjähriger Kenner des Werks von Karlheinz Deschner mit Gespür zugleich für dessen ethisches Movens.
Johannes Ude freilich, vielseitig gelehrter österreichischer Priester, Lebensreformer, Pazifist (1874‒1965), taucht leider, obwohl ich in unserer Korrespondenz auf ihn verwies, in der vorliegenden Langfassung Ihres Deschner-Nachrufs nicht mehr auf. Dessen Maxime „Ich kann das Unrecht nicht leiden“ (und nicht, wie Sie unterstellen, das Jagen nach möglichst breiter Publikumswirksamkeit seiner hier und heute ohnedies gefahrlosen, aber einträglichen Kirchenkritik) leitete Deschners gesamtes Werk, nicht nur das kirchenkritische.
Und zwar mitnichten, wie Sie mit vielen anderen mutmassen, aufgrund individuell erlittener Schäden durch katholische Sozialisation oder spätere „Exkommunikation“ – vgl. die Darlegungen von Hermann Gieselbusch (der als Rowohlt-Lektor die ersten 9 Bände der KdC von Karlheinz Deschner begleitete) während der Feier von Deschners 80. Geburtstag am 23.5.2004 in Hassfurt:
oder Deschners eigene Aussagen in „Warum ich Agnostiker bin" (Auszug aus dem gleichbetitelten, umfangreichen Essay von 1979/1999):
– (auch als „Kulturkatholik“, wie Sie zu wissen vorgeben, verstand sich Deschner zu keiner Zeit). Zur Kritik von Religion und Kirche gelangte Deschner vielmehr, worüber wir oft sprachen, durch intensive Auseinandersetzung erst mit Nietzsche, später mit Kant und Schopenhauer, schliesslich, um sich auch emotional vom Traditionskatholizismus seiner Steigerwälder Heimat zu verabschieden, durch 5 Jahre währende autodidaktische Studien bei der Vorbereitung seiner ersten Kirchenkritik „Abermals krähte der Hahn“ (1962): für einen denkenden Menschen, alles in allem, übergenug und keiner „Irrungen und Wirrungen“ bedürftig, wie Sie behaupten (nach welcher Quelle?), um die von Ihnen erfragte „Intimität von Abneigung und Gegnerschaft ... hinzukriegen“. Das von Deschner seither unermüdlich angeprangerte „Unrecht“ – Verkehrung einer einstigen „Liebesreligion“ vor allem durch deren kuriale Sachwalter weithin in ihr Gegenteil – könnte gerade Sie, lieber Herr Dr. Meier, als Ethiker auf Dauer weit stärker als bisher berühren, sofern Sie Deschner genau(er) lesen.
Ambivalenzen Ihrer Einschätzung der Literaturkritiken Deschners und seiner Sprachkraft
Aber auch in anderer Hinsicht gewann Udes Diktum für Karlheinz Deschner eine besondere Bedeutung: ihm war alles Unechte im Sprachlichen zuwider, ein „Unrecht“ sah er daher schon früh auch in der Überschätzung bestenfalls mediokrer Literatur bei gleichzeitiger Unterschätzung der Werke von Genialen wie Musil, Jahnn und Broch, für die er mit seiner vielbeachteten literarischen Streitschrift „Kitsch, Konvention und Kunst“ von 1957, ein Jahr nach seinem von Rigo Söder, Ihrem Philosophen-Kollegen in Luzern, gerühmten Romanerstling „Die Nacht steht um mein Haus“ (1956), eine breitere Öffentlichkeit zu interessieren vermochte.
Ambivalenzen Ihrer Einschätzung Deschners irritieren mich, wie so oft in diesem „Nachruf“, auch hier. Einerseits urteilen Sie rigoros apodiktisch, Deschner sei „als Literaturkritiker wie auch als spätexpressionistischer Romanautor grandios gescheitert“ (woher wissen Sie das? und: gescheitert inwiefern?). Zwar scheint immerhin in der BaZ (16.04.14) der Einfluss Söders durch in Ihrem Bedauern, sein früher Roman werde, „weil er es auf keinen literarischen Kanon gebracht [habe], leicht unterschätzt“. Das mag für heutige Leser stimmen – damals aber rüttelte dieses Werk zahllose Leser und Rezensenten auf; auch heute noch kenne ich niemanden, der, sobald er sich auf die Verzweiflung des Autors über die conditio humana – die eigene und die der Nachkriegsgesellschaft – einlässt, von solch schonungsloser Ehrlichkeit, solch aussichtsloser Hoffnungslosigkeit nicht getroffen wird – heftig angewidert die einen, Zeile für Zeile betroffen die anderen: Was immer Deschner schrieb, er polarisierte zeitlebens – wie anders denkbar! Erst recht irren Sie in Ihrer Einschätzung der Resonanz auf Deschners Literaturkritiken, zumal auf die erste, „Kitsch, Konvention und Kunst“ (1957; zwei weitere folgten 1964und 2007). Günter Maschke etwa sprach für „eine ganze Generation“ (auch für mich!), die durch dieses Buch „lesen lernte“. Noch heute treffen Briefe diesen Tenors bei Freunden Deschners ein.
Wie aber, andererseits, vereinbart sich das „grandiose Scheitern“ von Deschners Literaturkritik mit jener, Sie beeindruckenden, „veritablen Alternative“, geeignet, die zwiespältige „Macht des Geistestyrannen Marcel Reich-Ranicki“ zu brechen, dem dieser (wenngleich freilich wieder nur „an polemischer Schärfe“) „herausragende Literaturkritiker“ „unbedingt ebenbürtig“ sei?
Die Sprachkraft Karlheinz Deschners
Hier ganz besonders frage ich mich nach dem Movens Ihrer häufigen Abwertungen gerade dessen, was sogar seine Gegner respektvoll hervorheben (sofern sie nicht, ressentimentgeladen, auch Deschners Sprachkraft desavouieren als polemisch, pamphletistisch oder gar demagogisch konnotiert) – bei oft fast gleichzeitiger, fast überschwänglicher Bewunderung: Wie kann ein Autor, etwa in seinen Literaturkritiken, „herausragen“ als „sprachbewusster Förderer der literarischen Moderne“, wenn er zugleich, seine Aphoristik ausgenommen, auf das Niveau eines gerade mal „mittelmässigen Schriftstellers“ hinab zu verweisen ist, seine Sprache, ein (immerhin) „ansprechendes Zeitungsdeutsch“, inbegriffen?
Dieser „respektable Sachbuchautor“, wie Sie generös konzedieren, zeichnet sich indes gerade dadurch aus, dass er, nach meiner Erfahrung eine Rarität im literarischen Leben, fast durchgängig, eben auch in seinen „Sachbüchern“, einen unvergleichlich ausgeprägten Sinn für Rhythmus, für Sprachmelodie bekundet – indes nur durch jene zu spüren und zu würdigen, die dafür selbst auch ein Sensorium haben. Dem von mir sehr geschätzten, zuweilen indes als „Vernünftiger“ belächelten Robert Mächler, ein Meister luzider, schnörkellos-sachbezogener Sprache, fehlte (bzw. ging verloren) für Deschners Stil weitgehend ein entsprechendes Organ (möglichen biographischen Gründen gehe ich in meiner ersten Auswahlausgabe über diesen „Don Quijote im Schweizer Geistesleben“ von 1999 nach). Was ich von Ihnen las, erinnert mich stilistisch von fern an unseren gemeinsamen Freund. Und so nimmt es nicht Wunder, dass Sie lediglich „Zeitungsdeutsch“ wahrnehmen, wo ich mich, wie so viele andere Leser, an einer Sprachkunst erfreue, die meines Erachtens ihresgleichen sucht (wie zahlreiche Nachrufe, demnächst auf deschner.info veröffentlicht, bestätigen, etwa der von Alexander Wallasch: „Deschner war einer der ganz wenigen, denen es noch einmal gelungen ist, die Macht des geschriebenen Wortes in ihrer ganzen Kraft zu illuminieren.“)
Seine Selbstkritik, von Ihnen gründlich missverstanden, resultierte dabei nicht aus dem Eingeständnis sprachkünstlerischer Unfähigkeit, sondern aus seinem, mich zuweilen masslos dünkenden, permanenten Streben nach immer besserer Entfaltung dieser wahrlich wunderbaren Anlage: „Ich bin Kritiker, auch meiner selbst“, zitieren wir ihn auf seiner Website. „Ich habe ein Schafott in mir.“
Deschners Liebeserklärung an Franken, „die Landschaft (s)eines Lebens“
Besonders augenfällig bestätigt sich mein Eindruck, wenn Sie sich zu Deschners Frankenbuch (mit dem für Sie degoutanten Titel „Dornröschenträume und Stallgeruch“) äussern – mein „Lieblingsbuch“ nun aber gerade nicht, weil es eine „Heimatstudie“ bietet (so in Ihrer Kurzfassung), „Heimatliteratur“ auf „literarisch ansprechendem Niveau“ bzw. „Darstellungen über Lokales“ oder, wie Sie mir schrieben, im Gegensatz zu ideologisierenden historischen Überblickswerken „wirklich exakte (!) Porträts einer Landschaft, eines Dorfes, einer Stadt“: um mancherlei ging es Karlheinz Deschner in diesen „Liebeserklärungen an seine fränkische Heimat“ (lasen Sie sie?), ganz sicher aber nicht um „exakte“ Porträts im Stil verlässlicher Reiseführer etwa.
Nie zuvor und seither fand ich in einem Buch eine solch zarte, sehnsuchtsvolle Landschaftspoesie, nie eine solch „panhafte Sprachmusik“ (Günter Haas) wie hier, immer wieder unterbrochen freilich und durch solche Pausen noch verstärkt durch den – bei einem Autor wie Deschner nicht anders denkbar – kritischen Blick in die Abgründe der auch dort allgegenwärtigen, zumal kirchlichen, Gräuelgeschichte. Aus diesem unterschiedlichen Zugang zu Deschners Frankenbuch ergibt sich auch unsere diametral verschiedene Wertung seines Titels – für mich poetischer Traum, für Sie reinster Kitsch (gegen den, auch vor dessen ethischem Hintergrund, Deschner höchst allergisch war, vgl. „Zum Kitsch – ein Widerruf“, Vorwort zur Neuauflage seiner ersten Literaturkritik im Jahr 1980). So unterschiedlich können zuweilen literarische Wertungen sein, je nach persönlicher Prägung und also Neigung.
Über seine Lieblingslandschaften am Meer, zumeist Inseln des Nordens, des Südens auch, gibt es zahlreiche Vorarbeiten, die Deschner nicht mehr abschliessen konnte. Sie bekunden ausnahmslos ein besonders intensives Naturgefühl, zu spüren auch im Abschlussvortrag zur Hamburger Tagung „Jahnn 100“ (1994): „Musik des Vergessens. Über Landschaft, Leben und Tod im Hauptwerk Hans Henny Jahnns“ (ASKU-Presse 2003).
Dem Lebenden fühlte sich Karlheinz Deschner verbunden, mit offenen Sinnen aufgenommen zumeist daheim, im Garten, umgeben von Tieren – sich erholend von täglicher16-Stunden-„Fron“ am Schreibtisch („Cordon sanitaire und Angriffsbasis zugleich“).
„Wer die Kirche verlässt: ein Lichtblick für mich; wer kein Tier mehr isst: mein Bruder.“
Lebte er noch einmal, so Deschner oft, würde er seine ganze Kraft einer noch hoffnungsloseren Thematik als der Bekämpfung des Christentums widmen – den Tieren, den durch menschliche Hybris, gepaart mit Gedanken- und Empfindungslosigkeit, geschundensten Wesen. Dächte er zu oft an dieses für ihn „grösste Verbrechen der Menschheitsgeschichte“, müsste er „verrückt werden“ (Interview mit David Signer für die Zürcher „Weltwoche“ Nr. 14, April 2007). Bei all den menschlichen Abgründen, in welche dieser Autor sah, zumal, wenn es um unseren Umgang mit Tieren ging, verging ihm restlos jenes „Lachen“ oder „Witzeln“, das Sie bei ihm vermissen, zu betroffen machte ihn, empfindsam wie kaum einer, was er sah und las, worüber er schrieb. Ironie zuweilen ja, auch Spott. Indes: „Jeder grosse Spott wird aus Trauer geboren.“ Deschner, so betonen viele Nachrufe, war ein durch und durch melancholischer Aufklärer, dessen Augen alles verrieten.
In der ASKU-Presse von Sven Uftring veröffentlichte er 1998 eine Textsammlung mit dem Titel „Für einen Bissen Fleisch – Seid furchtbar und mehret euch! ‒ Das schwärzeste aller Verbrechen“, 2004 gab er ein Interview zu diesem Thema
diesen ethischen „Traktaten“ (ein Wort immerhin mit einem zuweilen negativen Beiklang), so Ihr Resümee, sei kein annähernd vergleichbarer Erfolg wie seiner Kirchenkritik beschieden. Wohl wahr, was die Verbreitung betrifft. Doch auf seine Kinder und Freunde, auf etliche seiner Leser hatten seine (in oft zitierten Aphorismen komprimierten) Gedanken, hatte sein ohne missionarischen Habitus gelebtes Beispiel eine grosse Wirkung.
Auch für Sie ist er, was mich besonders freut, „ein glaubwürdig argumentierender Anwalt der ‚Kreatur‘“ (vgl. den zusammenfassenden Essay
einer, der es, über Peter Singer hinausgehend, „mit den Tierrechten [Deschner verstand sich allerdings nicht als „Tierrechtler“, es ging ihm um viel mehr, um eine „Revolution“ in unserem Verhältnis zu Tieren, mit Schopenhauer um die prinzipielle Gleichwertigkeit allen Lebens] eher noch radikaler nimmt als der heilige Franz von Assisi“, einer „der wenigen Ethiker, der seine Überzeugungen in seltener Konsequenz gelebt hat“.
Lebensanfang – Lebensende:
Was Deschner hierzu schrieb und was nicht
Nur beim Schutz ungeborenen Lebens mache Deschner, konstatieren Sie, eine Ausnahme, was Sie mit der, leider gänzlich verfehlten, weil die aphoristisch-ironische Zuspitzung ausblendenden Paraphrasierung seines bekannten Aphorismus zu begründen versuchen. Während Deschner schrieb: „Wie der Klerus doch, was er im Mutterschoss schützt, preisgibt im Krieg: als [= als ob, nicht: damit!!!] sammelte er in Weiberbäuchen Kanonenfutter“, verkennen Sie, dass es ihm auch hier ausschliesslich, wie im Gesamtwerk, um eine scharfe Anklage kirchlicher Doppelmoral geht, die nichts, absolut nichts aussagt, wie Sie den Leser auch noch im Fortgang des Textes glauben machen wollen, über seine eigene (Sie suggerieren: inkonsequente) Haltung zur „Heiligkeit“ des Lebens, hier: zur Unantastbarkeit des werdenden Lebens. Am Schluss dieses Passus erinnern Sie sich meines brieflichen Hinweises auf die auch hier attackierte Doppelmoral (von Deschner 1974 ausführlich dargelegt in Kapitel 22 seiner Sexualgeschichte des Christentums „Das Kreuz mit der Kirche“) und fügen ihn wie einen Appendix an: warum diese Windungen, statt einfach nur offen zu sein für das, was da steht?
Nicht minder als Deschners Gedanken zum werdenden Leben (die er nirgends niederschrieb) interessieren Sie jene zu dessen Ende, zumal seinem eigenen. Ihrer Insinuation möglicher Auferstehungshintertürchen bei seiner Verfügung, erdbestattet zu werden wie seine Eltern, darf ich beruhigend entgegenhalten, dass ihn, den Nicht-Chemiker, ohne längeres Nachdenken die Erdbestattung „organischer“ anmutete als die Verbrennung – im Sinne seines einzigen „Glaubensbekenntnisses“, fixiert im Nachtrag zum oben genannten Interview mit David Signer. Auf dessen Frage hin, ob ihn als jemanden, „der vermutlich nicht an das ewige Leben glaubt“, die „Vergänglichkeit und die Endgültigkeit des Todes“ beschäftige, antwortet Deschner: „Ja. Diese Fragen beschäftigen mich. Ich bin alt. Es wird dunkel – und Licht ist meine Lieblingsfarbe. Doch lieber möchte ich in tausend Zweifeln sterben als um den Preis der Lüge in der Euphorie.“
Seine persönliche Anmerkung dazu fügte er auf Seite 19 des Beiheftes zu Band 9 der KdC hinzu: „So lese man auch meinen, oft verkürzt zitierten, Aphorismus nicht gegen den Strich: ‚Von Zweifel zu Zweifel, ohne zu verzweifeln. Im Grunde bin ich ein aus lauter Zweifeln bestehender gläubiger Mensch.‘ – Denn woran ‚glaube‘ ich? ‚Je älter ich werde, desto mehr glaube ich, dass die kleinste Hilfe oft mehr taugt als der grösste Gedanke.‘ (‚Ärgernisse‘, Rowohlt 1994 – ein Fingerzeig des dezidierten Nicht-Philosophen! Vgl. „Was ich denke...“, 1994, S. 11. f)... ,Somit glaube ich (wie ausführlich dargelegt in dem fast hundertseitigen Aufsatz ‚Warum ich Agnostiker bin‘, Kiepenheuer&Witsch 1977, wieder abgedruckt in ‚Oben ohne‘, Rowohlt 1997), mit allem, was ist, einbezogen zu sein in den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen.‘“ Zum „Glauben“ (freilich mit der Einschränkung: „Ich glaube wenig, und auch das nicht ganz“) dieses dem Monismus zuneigenden, allzeit vom methodischen Zweifel geleiteten Radikal-Agnostikers (ohne jedes metaphysische Schlupfloch) an die Einheit des Organischen und Anorganischen vgl. meinen Essay in „Aufklärung und Kritik“:
Denn Deschner, hier irren Sie, war kein (wenn auch „skeptischer“) Atheist: Theisten wie Atheisten behaupten seines Erachtens viel zu viel, was unser kleines Hirn (nach Ditfurth ein Anpassungs-, kein Erkenntnisorgan) gar nicht erfassen kann. Antworten religiösen Glaubens nahm er wahr er als Ausdruck menschlichen Hoffens, für viele hilfreich, nicht mehr, zu bekämpfen aber, sobald mit Machtanspruch dogmatisch verankert und zur Festigung und Mehrung klerikaler Macht über das Fussvolk oder politische Gegner von Anbeginn an mit allen, nur eben nicht „ur-christlichen“ Mitteln verteidigt.
Die agnostische Haltung verband ihn mit seinem Freund Hans Wollschläger. Dessen, wie hernach aus berufenem Munde zu hören war, wider seinen Willen katholisch zelebrierte Beisetzung alarmierte Deschner. Bald darauf bekräftigte er seine zuvor schon mehrfach (u. a. 1987 in „Opus Diaboli“, S. 243) mitgeteilte Verfügung, ohne alle christlichen Symbole in der Stille des engsten Familienkreises, sang- und klanglos beerdigt zu werden wie seine Tiere. Seiner Verfügung wurde, auch dank der Unterstützung durch einen guten Freund, vollauf entsprochen.
***
Lieber Herr Dr. Meier,
ich danke Ihnen nochmals für Ihre Darlegungen! Meiner Replik darauf entnehmen Sie hoffentlich das Bemühen um argumentative, das heisst um text- und personnahe Hinterfragung von sachlich Unstimmigem in Ihrem Deschner-Porträt – unbeschadet meines Respekts vor Ihren sonstigen Arbeiten überall dort, wo Sie sich gut auskennen.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich in den Spuren unseres gemeinsamen Freundes Robert Mächler, trotz aller Distanz zu dessen grundsätzlicher Christentumskritik, offener als meines Erachtens bisher auf das Werk Karlheinz Deschners einlassen mögen und dadurch klarer erkennen können, was dieser Autor intendierte und was nicht.
Und ich bitte Sie um Verständnis dafür, dass ich mit Interesse zwar lesen werde, was Sie fernerhin noch zu Karlheinz Deschner anzumerken gedenken, öffentlich aber keine Stellung mehr dazu nehmen werde. Nach dem Tode Karlheinz Deschners brauche ich alle Zeit und Kraft, um, von ihm erbeten, mich, gemeinsam mit Freuden, weiterhin für sein Lebenswerk einzusetzen. Was hier zu sagen war, habe ich gesagt.
Freundlich grüsst Sie
Gabriele Röwer
Mainz, den 26. April 2014
Antwort von Pirmin Meier auf Gabriele Röwer
Gabriele Röwers Antwort auf meine Deschner-Kritik, welche die Kritik an einem Toten ist, vor dem ich den Respekt nie preisgeben werde, scheint mir wertvoll genug, dass alles, was ich über Deschner geschrieben habe, nur als gültig erachtet wird in ergänzender Relativierung aus dem Gesichtspunkt eines Menschen, welcher Deschner nachweisbar weitaus besser kannte als es mir möglich war. Kommt dazu, dass man aus der Perspektive einer gewissen Zuwendung, es müsste nicht einmal Liebe sein, der Wahrheit über einen Autor letztlich näher kommt als wenn man sich, wie ich, als „Gegner in der Sache“ bezeichnet. Dabei bin ich ganz gewiss kein „katholischer Kirchengeschichtsschreiber“, würde das Verschwinden sämtlicher Privilegien von Religionsgemeinschaften lieber heute als morgen sehen, wiewohl ein von mir vor Jahrzehnten verfasstes Kirchenpapier Übergangsfristen von bis zu 50 Jahren formulierte.
Ich bin bloss ein Gegner einer Geschichtsschreibung, von welcher Goethe und Jacob Burckhardt nichts hielten. Goethe hielt Friedrich dem Grossen entgegen, dass man „auf dem moralischen Standpunkt keine Weltgeschichte schreiben kann“, d. h. Geschichtswerke von Wert eignen sich, wie Thukydides oder Herodot, eher nicht als Anklageschriften. Natürlich trägt es auch wenig zu einer vernünftigen Diskussion bei, wenn man hervorhebt, dass die vom Schweizer Katholischen Frauenbund neuerdings als niedrig bezeichnete Zahl von nur 11 000 Abtreibungen jährlich in der Schweiz dem Fünfzehnfachen der Gesamtzahl der Opfer der Hexenprozesse in den letzten 700 Jahren bzw. ungefähr knapp dem Zehnfachen der Opfer der Schlacht bei Sempach entspräche.
Solche Aufrechnungen sind nicht zielführend. Zugleich gilt der Satz von Jacob Grimm: „Jede Einzelheit aus der Vergangenheit ist wissenswerth.“ Zum Beispiel nicht nur die Zahl der Opfer der Hexenprozesse, sondern auch deren Hintergründe, und seien sie noch so banal. Dass Tiere im Mittelalter auf die Anklagebank kamen und der Mensch zum Beispiel für das Wachsen der Gletscher verantwortlich gemacht wurde, ist von hohem Interesse auch für das Verständnis der geistigen Situation unserer Zeit. Und so wie fast jeder Krieg den Fortschritt der Chirurgie und der Prothesentechnik begünstigte, trugen die Hexenprozesse in mancher Hinsicht zum Fortschritt der Justiz auf das heutige professionelle Niveau bei. Über letzteren Fortschritt hat sich der Schweizer Philosoph und Autor Friedrich Dürrenmatt skeptisch ausgelassen, und zwar ohne die Absicht, irgendetwas rechtfertigen oder entschuldigen zu wollen. Eben gerade nicht. Entsetzlich ist, dass die Abscheulichkeiten in vorchristlichen, christlichen, nachchristlichen und ausserchristlichen Epochen fast unverändert weitergingen und weitergehen, ausser dass seit gut 100 Jahren die technischen Möglichkeiten für Massenmorde, übrigens auch die wegen der Bevölkerungszunahme erwünschten Massenabtreibungen, sich eindrucksvoll verbessert haben.
Der Einfluss von Ideologien oder Religionen ist dabei nicht zu unterschätzen, wird gelegentlich jedoch auch überschätzt. Christentum, Islam und vor allem natürlich die Aufklärung mit den damit verbundenen ideologischen Begründungssystemen zur Abdressierung des Gewissens scheinen den von naiven Optimisten erhofften Nutzen nicht erbracht zu haben, in ungezählten Einzelfällen noch mehr Opfer nicht nur nicht verhindert, sondern noch mehr zur Misere beigetragen zu haben. Auch Robert Mächler blieb nicht ewig „Optimistiker“, wie ein Buchtitel von ihm lautet. Wo Deschner die christliche Religion und sein Lieblingsfeindbild, die katholische Kirche, hauptsächlich anprangert, liegt ein anthropologischer Befund vor.
Ich habe Deschner als einen der bedeutendsten deutschen Intellektuellen der Gegenwart gewürdigt, bin für seine Integrität eingestanden, habe auch seinen literarhistorischen Rang in einer in Deutschland keineswegs blühenden Gegenwartsliteratur nicht bestritten, ihm überdies ein Kompliment als Literaturkritiker gemacht. Dass ich ihn eher höher, zumindest nicht tiefer einschätze als Reich-Ranicki und in seiner Bedeutung für die Auseinandersetzung mit Religion höher achte als zum Beispiel den von mir respektierten Hans Küng, sollte nicht mit einer Negativwertung verwechselt werden. Nach meinen Studien betr. Freiheit und Terror sollte man Deschner zumal nicht mit der Karl Marx und Friedrich Engels oft zubedachten Verachtung strafen, zumal diese beiden eigentlich respektablen Denker den Massenterror befürwortet haben, bloss den individuellen Terror der Anarchistenkonkurrenz haben sie abgelehnt. Engels hat überdies seine grenzenlose Verachtung der Schweizer Demokratie auf dem Feindbild-Niveau der heutigen Europäischen Union EU markiert und sich klar und unmissverständlich gegen jede direkte Arbeitermitbestimmung gewandt, weil die Arbeiter gemäss der Schrift „Von der Autorität“ (1872) ähnlich wie das Schweizer Volk nicht in der Lage seien, komplexe Probleme so zu verstehen, dass sie als mündige Bürger ihre Interessen ebenso gut wahrnehmen könnten wie oft unter Fraktionszwang stehende Berufspolitiker und Ideologen.
Wer nach Marx, Engels und Lenin den Massenterror befürwortet, sollte sich nicht wundern, dass selbst die Erinnerung an Auschwitz nicht mehr nur Gewissensqualen auslöst. Es geht Ideologen primär darum, dass nicht die Falschen ins Lager oder ins Gefängnis gebracht, umerzogen, mit Berufsverbot belegt oder ermordet werden. Für die Richtigen gibt es unzählige Guantánamos, nicht nur in Afghanistan. Dass man sich auf ein paar Millionen Tote freuen darf, etwa wenn sie Hansjürgen, Inge, Horst, Günther oder Ute heissen, dafür hat sich sogar Theodor W. Adorno, der Beklager der zwischenmenschlichen Kälte in unserer Zivilisation, am Ende des 2. Weltkrieges in Briefen an seine Eltern in nachvollziehbarer Infamie bekannt. Für alle säkularen Ideologien und leider die meisten Weltreligionen ist der blinde Fleck betr. eigene Schädlichkeit ein systemimmanentes Problem, das man entweder kaum reflektiert oder dann lieber gar nicht zur Kenntnis nimmt.
Was Max Picard den „Hitler in uns selbst“ nannte, war keine subjektive Beschimpfung eines schlecht schreibenden, aber suggestiv argumentierenden Vegetariers, der nie jemanden eigenhändig umgebracht hat, sondern ein Hinweis auf die aggressive Struktur des Moralismus. In diesem Sinn hätten wir die Pflicht, zuerst mal „antifaschistisch“ gegen uns selbst zu sein.
Einer der wenigen, dem ich diese Eigenschaft attestiere, war der in diesem Diskurs mehrfach genannte Robert Mächler. Meines Wissens war dessen Freund Karlheinz Deschner weder Marxist noch Protagonist einer Massenmord rechtfertigenden Ideologie, darum ein von mir über den sonst geschätzten kommunistischen Intellektuellen Konrad Farner hinaus ernst zu nehmender Publizist. Wer hingegen, wie Farner, sich für die chinesische Kulturrevolution begeistert, ist offensichtlich der Meinung, dass deren Opfer im Vergleich zu Auschwitz weniger ins Gewicht fallen, weil banalerweise und wie China selbst mit seiner Einkind-Politik bezeugt, die Chinesen deswegen nicht ausgestorben sind.
Als belehrbarer Deschner-Leser bin ich schon länger nicht mehr davon überzeugt, dass eine Katholisierung Chinas um 1700 im Vergleich zu dessen Maoisierung im 20. Jahrhundert ein humaneres China ergeben hätte. Ich habe auch, wiewohl im Weltnetz als „Swiss Roman Catholic“ geführt, die katholische Kirche nie als „meine Kirche“ bezeichnet, so wie ich nach Aktivitäten in rund 7 sehr unterschiedlichen politischen Organisationen noch nie eine Partei „meine Partei“ genannt habe. Intellektuelle, die sagen, „meine Partei“, halte ich für weniger aufgeklärt als sie sich selber halten. Gerne hoffe ich, dass Deschner seinerseits nie „meine Partei“ gesagt hat. „Meine Heimat“ sage ich lieber, und auf die Lektüre seiner Heimatschriften freue ich mich sehr.
Zu Frau Röwers achtenswerten Anmerkungen erlaube ich mir kurze Antworten. Ungenauigkeiten ergaben sich in meinem Nachruf zum Teil deswegen, weil ich jeden Nachruf als Ausdruck auch subjektiver Betroffenheit meist in sehr kurzer Zeit aus dem Gedächtnis niederschreibe.
Für mich ist Deschner eine geistige Erfahrung, wie etwa Marcel Reich-Ranicki, den ich zwar nur einmal gesehen habe, aber immer zur Kenntnis genommen; wie der gelehrte Ratzinger, mit dem ich vor 41 Jahren in Freiburg im Breisgau eine konstruktive Begegnung zum Thema „Las Casas“ hatte, einem auch im Vergleich zu Deschner sogar welthistorisch unvergesslichen bedeutenden Kritiker von auch „christlich“ fundierten Morden und Völkermorden. Enzensberger hat dessen Hauptwerk bei Suhrkamp ediert. Von Las Casas wird man in 500 Jahren noch reden, von Deschner und den meisten von uns wohl kaum mehr, schon gar nicht von Ratzinger und Küng, ich fürchte auch von Papst Franziskus nicht, weil Ankündigungen nicht mit einer Reformation zu verwechseln sind.
Was indes Frau Röwer über Bergoglio mal geschrieben hat, beruhte wohl nicht auf Recherchen in den Vorstädten von Buenos Aires oder dem Bestreben, etwas zu schreiben was nicht auch bei Schweizer Jesuiten als Argument gegen die Loyalität zu diesem Papst herumgeboten wird. Da scheinen mir Röwers Essays über Deschner und die Tierethik von einer ganz anderen präzisen Sachkenntnis getragen. Frau Röwer möchte aber nicht selber von mir gelobt werden, was ich als beeindruckend empfinde. Umso unbestechlicher kann sie Deschner verteidigen.
Kurzantworten
Nun einige Antworten in Kürze; Vollständigkeit ist nicht angestrebt:
1. Die gescheiterten Polemiker: Hutten ist, wie Erasmus und Paracelsus bestätigen, grauenvoll gescheitert. Paracelsus wäre ohne die Polemik mit seiner Medizinrevolution wohl weit weniger gescheitert, er war ein massloser Polemiker, obwohl fast alles stimmte, was er sagte, aber kommunikationstechnisch funktionierte es nicht, flächendeckend gegen alle auszuteilen; auch deswegen hat Deschner, im Wissen, dass das publizistisch in Deutschland nicht korrekt ist, keine Kriminalgeschichte des Judentums geschrieben, diese in Ansätzen bei der christlichen Kriminalgeschichte integriert. Da Paracelsus als Polemiker flächendeckend austeilte, wirklich gegen alle, war er chancenlos. Über alles gesehen aber bedeutend genug, dass man sich mit ihm 2041 wohl immer noch stärker befassen wird als mit Deschner.
Die Christenverfolgungen der letzten Zeit sind mit den schlimmsten Verfolgungen im 20. Jahrhundert nicht identisch, sie sind bloss gegenwärtig das grösste Problem bei Religionsverfolgungen. Ich habe nicht behauptet, die Christenverfolgungen seien insgesamt das Schlimmste gewesen. Natürlich waren die Verfolgungen in China in den 1950er-Jahren keine Kleinigkeit, hier hat Dries van Collie mit dem Buch „Der begeisterte Selbstmord“ nicht als einziger Schlimmes aufgezeigt. Christian Solidarity International spielt heute eine analoge Rolle wie Amnesty International. So wie ich zur Zeit des Kommunismus Kontakte mit Christen in der DDR und Polen pflegte, beziehe ich mein Wissen über syrische Christen, darunter einige meiner Schüler, nicht nur aus der Zeitung.
Wie viele Nonnen und Mönche im spanischen Bürgerkrieg von Republikanern in Säcken ersäuft wurden, es müssen um die 500 gewesen sein, muss ich hier zur Auflockerung nicht gegenrechnen. Ich bin bei allen konkreten Forschungen, die ich machte, in Sachen Zahlen vorsichtiger geworden. Das Mittelalter hat auf dem Gebiet, das ich am besten kenne, den Kriegen, an denen Klaus von Flüe teilnahm, noch ein kindisches Verhältnis zu den Opferzahlen gehabt. So übertreiben die Schweizer Chronisten mit Stolz die Zahl der toten Österreicher, sagen wir mal 5 Schweizer und 1400 Österreicher bei der Schlacht bei Ragaz; während es heute bei den KZ-Lagern möglichst viel und bei Dresden möglichst wenige sein müssen, weil die Zahl der Toten für den Bedarf an Kampagnen instrumentalisiert wird. Der Wind kann jederzeit drehen, das hat nichts mit der Wahrheit zu tun. Nicht nur Auschwitz, auch der Archipel GULAG ist kompatibel für Instrumentalisierungen, nicht zu vergessen die ungefähr 200 unter den Fussboden der Weltgeschichte gewischten palästinensischen Dörfer, an welche die Vereinigung für den Wiederaufbau des Dorfes Emaus regelmässig erinnert.
Für die Opfer ist es freilich am Ende immer gleich schlimm, es ist manchmal nicht einmal möglich, sie den „Richtigen“ zuzuordnen. Ein Toter ist eine Tragödie, 5 Millionen sind eine Statistik. Der Satz soll von Stalin stammen, der im 2. Weltkrieg wieder beten lernte. Mit Beten ist noch selten einer besser geworden, weder Christen noch Muslime.
Ich bleibe aber dabei, Deschner für einen Kulturkatholiken zu halten, weil er katholisch sozialisiert ist, wäre er jüdisch sozialisiert, würde er anders polemisieren, wäre er Muslim, wäre er mit unendlich höherem Risiko so etwas wie Salman Rushdie geworden, dessen Werke mich überdies literarisch stärker überzeugen, eher nobelpreisreif scheinen als die von Deschner. Wäre Rushdie eine lesbische kommunistische Frau mit jüdischem Hintergrund, nicht zu vergessen den jüdischen Selbsthass, er wäre schon lange Nobelpreisträger. Sein Rang in der Geschichte der Menschheit steht dennoch näher bei Voltaire als dies bei Deschner der Fall sein kann, was immer sein Verehrer Michael Schmidt-Salomon noch an peinlichem Lob rauslassen wird.
Ich bleibe dabei, dass alle grossen Polemiker gescheitert sind, zumal Heine, Oscar Wilde. So schweinisch-infam wie Heine mit dem Homosexuellen Platen hat Deschner in meiner Erinnerung kaum je mit einem Christen abgerechnet, aber vielleicht erinnere ich mich besser an den literarisch stärkeren und klar unterhaltsameren Heine denn an Deschner. Heine war auch noch besser als Literaturkritiker, man liest ihn mit mehr Gewinn als M.R.R. und K.D.
Die polemische Synthese verstehe ich so: Das, was Deschner schreiben will über die Leute und so wie er es schreiben will, zu einer Gesamtschau rüberbringen. Das Rechthabenwollen gehört zum Wichtigsten bei der Darstellung. So war Thukydides nicht. Er beschreibt Massaker ohne polemisch-didaktische Absicht, weder die Griechen betreffend noch ihre Religion. Ihn wird man in 1000 Jahren noch lesen, meinte Canetti, wie Dürrenmatt ein Autor einer anderen Liga als Deschner, gerade beim Problem des Todes, das er anthropologisch auf einem anderen Niveau „einfängt“; was der Psychologe von Masse und Macht Canetti über das Massaker an den Armeniern schreibt, bringt meines Erachtens mehr Ertrag als 10 Bände Deschner, dabei ist er nicht mal auf Polemik gegen die Türken angewiesen. Das Massaker an den Armeniern erinnert Canetti weder an die Türken noch an die Armenier, sondern an sich selber. Wer über sich selber nicht erschrecken kann, soll über die Untaten anderer zwar nicht schweigen, hat aber dabei wenig zu sagen. Shakespeare lagen Grausamkeiten auch besser als Deschner oder Simon Wiesenthal.
Ich war am 26.04.2014l im Archiv der Ursulinenschwestern von Fribourg und habe dabei so viel Neues erfahren wie seit meinem letzten Besuch im Basler Staatsarchiv nicht mehr; über ihren Kampf gegen die Klausur und dass die Frauen, die im Kanton Freiburg Lesen und Schreiben lernten, etwa schon im Jahre 1633, und Mägde es diesen Frauen verdankten, die überdies z. B. ein Messgewand mit dem gegenseitig spiegelnden Motiv der himmlischen und der irdischen Dreifaltigkeit gestickt haben auf einem künstlerischen Niveau, das viele hundert Millionen Kulturförderungsgelder von heute nicht generieren. Da die Aufklärung im 19. Jahrhundert, so auch der von mir geschätzte Zschokke, die höhere Bildung für Mädchen nicht als wichtig erachtete, wurde die entsprechende von Nonnen geführte Schule im Fricktal ersatzlos aufgehoben, die Schule der Ursulinen in Fribourg unter der aufgeklärten Regierung 5 Jahre lang geschlossen, dann aber wieder eröffnet. Ich bin natürlich weit davon entfernt, eine solche Schule zu idealisieren. Es war bloss eine unglaubliche Kulturleistung, die Frauen erreichten zum Teil das Niveau eines Jesuitengymnasiums, zu behaupten, die deutschen Gymnasien von heute seien in Sachen formaler Bildung den Jesuitengymnasien von einst ebenbürtig, scheint mir gewagt.
Praktisch die gesamte französische Aufklärung verdankt ihr Niveau den Jesuitengymnasien, auch Deschner hatte eine gute katholische Bildung, die Möglichkeit, es heute schlechter zu kriegen, wäre nie ausgeschlossen, selbst wenn er tatsächlich dabei nicht sehr glücklich geworden zu sein scheint.
PS. Den letzten Freiburger Hexenprozess aus dem Jahre 1735 kenne ich aus Originaldokumenten; er hat nichts mit diesen Schwestern zu tun, sehr wohl aber damit, dass ein Freiburger Patrizier zu Beginn der Jagdsaison einen Fehlschuss auf einen Hasen und ein anderes Mal auf einen Fuchs gefeuert hat. Hase und Fuchs entkamen, aber 2 Frauen, eine Fuchsfrau namens Cathérine Repond, und eine Hasenfrau namens Marguerite Repond, wurden verhaftet und vorschriftsgemäss fünfmal gefoltert. Die Hasenfrau gestand nicht und wurde freigelassen, die Fuchsfrau gestand, wurde hingerichtet. So hat jeder Hexenprozess seine konkrete Geschichte. Wahr ist, dass die Geistlichen solche Absurditäten zum Teil abgestellt haben, zum Teil gefördert. Nach der Abschaffung der Hexenprozesse nahm dann dafür die Selbstjustiz zu. Im 19. Jahrhundert blühte im Greyerzerland auch ohne Nachhilfe der Kirche der Vampirismus.
„Skandalisierend.“ Selbstverständlich ist Geschichte skandalisierend, aber es gibt eine Skandalhoheit. Ein Skandal ist, was als solcher bezeichnet wird. Ich bestreite auch nicht, dass es Skandale permanent gab, aber das Skandalisieren ist und bleibt eine Zeichenregelung; es gibt keine objektiven Skandale. Die Hinrichtung von Jesus Christus war nach römischem Recht eher Routine. Es bestand kein Grund, Skandal zu schreien. Beim Willen um genügenden Skandal bringt es selbst Nelson Mandela dazu, verheiratet mit einer Schwerkriminellen, die für Feinde ihre Lieblingshinrichtungsmethode hatte, und deren Mann, wenn man ihn nicht als Freiheitskämpfer sehen will, noch vom Schweizer Sozialistenführer Walther Bringolf nicht zu den Kräften des friedlichen Wandels gezählt wurde.
Es ist wirklich eine Frage der Perspektive, ob Mandela oder Pius XII. oder wer auch immer so gesehen wird, wie sie aus der Sicht der Polemik gesehen werden wollen. Klar ist, beide müssten wohl „tiefer gehängt“ werden, und dass Mandela nach dem Ende des Kalten Krieges und weil er tatsächlich wohl doch kein schlechter Mensch war, nicht wie Castro, Khomeini, Lenin, Idi Amin, Mao, Pol Pot ein Massenmörder wurde, ist erfreulich. Hoffentlich ist es nicht nur den Zeitumständen zuzuschreiben, ich glaube nicht.
Ich mag Mandela, dessen Kriminalitätsgrad und Sexualleben im Sinne Deschner’scher Geschichtsschreibung wohl bei weitem nicht von jedem Papst erreicht wurde (einige von ihnen wurden ebenfalls jahrelang eingesperrt), Denkmäler und naive Verehrungsmasse gönnen. Lieber als ich den Päpsten die von mir in jedem Falle ausser Coelestin V. ihre meist absurde Heiligsprechung gönne.
Johannes Paul II. war besonders für Polen ähnlich wichtig wie für Südafrika Mandela. Aber immerhin war er, wie der Schweizer Micheli du Crest, für seine Überzeugung viele Jahre eingesperrt, ähnlich wie gefangene Päpste, ein einigermassen privilegierter politischer Gefangener. Für mich eine eindrückliche Figur. An das Eingesperrtsein nicht nur von Petrus und einigen Päpsten, auch von Mandela, erinnerte Papst Franziskus aus Anlass des Todes von Nelson Mandela.
PS. Ich habe kein Problem mit der Liebe mittelmässiger Schriftsteller für das Skandalisieren, aber man lese mal die sogenannte Goethe-Biographie von Tilman Jens, Sohn von Thomas-Mann-Verhetzer („Asphaltliterat“, 1943) Walter Jens. Goethe war indes ein sehr guter wirklichkeitshungriger Schriftsteller, Deschner hätte sich nie mit ihm verglichen, als Mensch ein Charakter, für Hasser ein permanenter Skandal. Angeblich ist er auch am Tode Kleists mitschuldig usw. Die Freiheit Deutschlands interessierte ihn nie, mit dem Katholizismus konnte er viel anfangen, wie ich in einer Seminararbeit bei Peter von Matt nachwies.
Die Historikerzunft bedeutet mir nichts, ist weniger korrumpiert als schlicht verschult, Deschner ist als Generalist besser als die meisten. Darum hatte Deschner zu seiner Zeit eine wichtige Lebensaufgabe; aber wir wissen tatsächlich sehr wenig über das, was wirklich passiert ist, und man kann im Einzelfall der Sache, wie gesagt, nachgehen, und dann sieht es meist anders aus, im Einzelfall ev. sogar noch schlimmer. „Umso schlimmer für die Tatsachen!“ pflegte Hegel zu formulieren.
Ich habe keine Probleme mit anständigen Nationalsozialisten, es gab sie natürlich, habe mit einigen gesprochen; viele glaubten aus der Sicht der Hegel’schen Geschichtsschreibung einiges zum sogenannten Fortschritt der Menschheit beigetragen zu haben; Wernher von Braun, Nanna Conti, die progressive Hebamme; Heidegger war halt mal gemäss seiner Philosophie, die nicht die meine ist, auf lächerliche Art „entschlossen“, so wie Sartre „engagiert“ war. Philosophen waren beide nicht, da nicht nur nach Popper und Quine unfähig zu wissenschaftlichem Denken, eben Ideologen, immerhin scheinen Heidegger und Sartre im Gegensatz zu Brecht in Moskau nie konkret Massenerschiessungen gerechtfertigt zu haben.
Mich beeindruckt am meisten, dass sie sich wie Jünger und Carl Schmitt nie für etwas entschuldigt haben. Man kann nicht Immoralist sein und sich gleichzeitig für was entschuldigen. Noch Fragen? Alle Kommunisten und ehemaligen Nazis, die ich persönlich kennenlernte, waren interessante und nach meiner Einschätzung anständige Menschen, die zwar nicht nach den unmöglich einzuhaltenden Maximen der Bergpredigt gelebt haben, aber, z. T. nach dem kategorischen Imperativ von Kant, auf den sich Himmler noch in Posen indirekt berief. Heinrich Himmler war ein entschiedener Ex-Katholik und ehrlicher Christentumshasser, aber trotz verdienstlich gemeinter Recherchen über pädophile Priester und Hexen massgebend für den berechtigten Ruf des Nationalsozialismus „zuständig“. Dessen war sich zuletzt auch Tierfreund, nicht Menschenfreund, Hermann Göring, ein früher Grüner und erschreckend intelligent, bewusst.
Den Fleiss Deschners habe ich klar überbetont. Fleissige Historiker arbeiten anders und vor allem quellenkritischer, der Aufwand für wissenschaftliche statt essayistische Historie ist höher. Ich bevorzuge heute auch die essayistische Historie, schreibe aber nie nur nach Sekundärliteratur.
Bestbeachteter Kritiker der Kirche und des Christentums – das gönne ich Deschner; das beweisen auch die imponierenden Nachrufe, die auch noch ein paar Relativierungen, wie die meinige, wohl vertragen.
Die Politik der Päpste – dieses Thema geht zu weit, um hier beantwortet zu werden. Ich habe bekanntlich, persönlich bekannt mit der Familie des ermordeten Gardekommandanten Alois Estermann, es abgelehnt, eine Biographie Estermanns und auch von Papst Johannes Paul I. zu schreiben, man kann derzeit darüber zu wenig seriös arbeiten. Über Ratzinger würde ich mehr als einen einigermassen kritischen Nachruf nicht hinkriegen. Über die Schwulen im Vatikan weiss ich viel, wirklich, das mit dem Schwulenexil Kirchenstaat wäre ein Buch wert, aber nicht von mir, habe andere, wichtigere Aufgaben.
Sicher war das Leben im Kirchenstaat des 19. Jahrhunderts insgesamt interessanter und farbiger und mit weniger Vorschriften belastet (als in der Bundesrepublik), und man wurde, ausser von Räubern, weniger ausgeplündert.
Dass die Macht der Kirche nicht nur in Putins Russland ein Mondlicht ist, das weiss ich nun wirklich besser als andere, dafür habe ich mich zu lange mit den Habsburgern, den Franzosen, Heinrich VIII. usw. befasst. In der Schweiz hatte die Kirche politisch vielleicht im Wallis und bei den Fürstbistümern was zu sagen, sonst nicht, Inquisitoren hatten bei uns wirklich wenig bis nichts zu bestellen.
Skeptischer Atheist, das ist ein Synonym für Agnostiker, man sollte aber über Worte nicht streiten. Bei Deschner scheint Religion praktisch nur als ideologisches Phänomen auf, es fehlte ihm nach meinen bisherigen Leseerfahrungen das Musikgehör. Auch wenn Ernst Bloch die Idiotie abgesondert hat „Ubi Stalin– ibi Jerusalem“ (über Hitlerfromme Idioten müssen wir uns nicht auslassen), hätte ich mich wegen seinem Verständnis für Meister Eckhart über Religion wohl eher unterhalten können als mit Deschner, vielleicht täusche ich mich. Ich hatte aber wirklich vor, zu seinem 90. Geburtstag einen kritischen Artikel zu schreiben, um eventuell ihm einmal wirklich ins Gespräch zu kommen.
Was heute als Agnostizismus feilgeboten wird, ist meist ungenügend durchdacht. Kant war sicher kein vollständiger Agnostiker, ich stimme mit ihm ähnlich wie bei Canetti in der Einschätzung der Metaphysik des Bösen überein. Wollen Sie über mein „religiöses“ Denken allenfalls einen Hinweis, lesen Sie mal vielleicht „Die ächzende Kreatur“ von Droste. Sie ist auf dem gleichen Friedhof in Meersburg begraben wie Fritz Mauthner und Franz Anton Mesmer, die mir ähnlich viel wie sie bedeuten. Vielleicht könnten Sie, Frau Röwer, und ich über dieses Gedicht von Droste im Bereich der Ethik einen neuen Gesprächsansatz finden.
Das mit dem Mittelmass hat Gabriele Röwer im abwertenden Sinn falsch verstanden. Montaigne ist kein Mittelmass. Rousseau ist kein Mittelmass. Tolstoi! Goethe. Jacob Burckhardt. Golo Mann schrieb als Historiker einen sehr guten Stil. Dürrenmatt hat viele Banalitäten abgesondert, aber sein „Monstervortrag über die Gerechtigkeit“ hebt ganze Bibliotheken auf. Grimms Märchen enthalten mehr Realität über den Menschen als die Bergpredigt oder sagen wir mal als das, was ich von Deschner bisher gelesen habe. Mich würden jetzt primär seine Heimattexte interessieren, die ich mir in der Hoffnung auf einen neuen, erweiternden Zugang mal noch vornehmen will, spätestens dann, wenn ich einen Essay schreibe über die Poetik und Literarität solcher Texte. Ich glaube auch, dass ich über solche Texte den Autor Deschner wohl sogar noch lieben lernen kann. In Baden erschien er mir bei der letzten Begegnung wie selten einer liebenswürdig. Von Mächler fühlte ich mich natürlich als Landsmann wie von wenigen verstanden.
Dass Deschner wie seine Tiere beerdigt sein wollte, ist seine achtenswerte Verfügung. Sie steht auf dem heute erreichten Niveau des Totenkultes, aber beeindruckend, dass er wenigstens nicht verbrannt werden wollte. Ein italienischer katholischer Friedhof ist indes, wie es keinem Geringeren als Friedrich Nietzsche aufgefallen ist, der zwar von Deschner als Autor bei weitem getoppt sein soll, schon noch was ganz anderes. Auf dem Campo Santo di Stalieno küsste Nietzsche bei einer Grabinschrift:
PIA
CARITATEVOLE
AMOROSISSIMA
das lange Wort. Es war ein Mädchengrab. Ich reiste auch extra einmal dorthin, küsste jedoch am selben Grabstein das kürzeste Wort. Die Frau, die mich damals begleitete, starb am Himmelfahrstage 2012 durch einen Sturz in den Abgrund.
Für die Toten zu beten scheint mir zu allen Zeiten eine heiligere Angelegenheit zu sein als für die Erfüllung irgendwelcher Wünsche zu beten. Falls es die Hölle gibt, was ebenso wahrscheinlich ist wie die Existenz des Himmels, besteht sie aus der Erfüllung unserer Wünsche und der Erhörung unserer Gebete. In diese subversive Richtung gingen die Gedanken einiger der tiefsinnigsten und subversivsten Heiligen der Christenheit.
Der von mir aus gesehen beste Prosaschriftsteller der Christenheit war wohl Erasmus von Rotterdam. Er schrieb so gut, weil er mit Argumenten trefflich zu überzeugen wusste. Zu denken gab mir sein Hinweis, der Heilige Geist habe im Neuen Testament ein schlechteres Griechisch geschrieben als Platon und die Tragiker, zu schweigen von Plutarch. Das Christentum, der „Platonismus für das Volk“, war aber wohl nicht harmloser als der richtige Platonismus, nach Karl Popper der Ursprung des modernen Totalitarismus und Quelle des Historizismus, der Lehre von der geschichtlichen Notwendigkeit, einer Ideologie mit vielen Millionen Opfern, deren Andenken Poppers Buch „Das Elend des Historizismus“ gewidmet wurde.
Sir Karl war wie Canetti ein sehr guter Autor mit glasklarer Sprache, hätte – sogar ohne Judenbonus – den ihm vorenthaltenen Nobelpreis verdient. Obwohl er über ein Dutzend Angehörige in KZs verloren hatte, beharrte er darauf, das Leben sei wunderbar und die gnostische Ideologie von der Schlechtigkeit der Welt ein Wahn, die Theologie überdies „ein Fehler“. Hier traf er sich wohl mit Karlheinz Deschner.
Der schönste und tiefsinnigste Heimattext der deutschen Literatur stammt indes wohl doch nicht von Deschner, sondern von einem ehemaligen Nationalsozialisten, einstigen katholischen Theologiestudenten und auf differenzierte Weise gottlosen, nicht götterlosen Denker: Martin Heidegger, Der Feldweg.
Diesen Weg bin ich mit Schülern unzählige Male gewandert, meistens am gleichen Tag, da wir auf der Reichenau das Denkmal an die Opfer der Euthanasie besucht haben. Die Euthanasie-Kampagne wurde im 3. Reich übrigens dann eingestellt, auch wegen des Widerstands einiger mutiger katholischer Bischöfe.
Pirmin Meier
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Reaktionen auf Blogs (157): Duftendes aus dem Ideentopf
Schweiz: Plädoyer für eine selbstbewusste, mutige Politik
Markwalders Kasachstan: Im Dienste der Destabilisierung
Reaktionen auf Blogs (156): Von Günter Grass, vom Lesen
Ein neues Umweltdebakel in Sicht: Solarpanel-Sondermüll
Gerhard Ammann: Naturaufklärer und Auenschutz-Pionier
Ulrich Weber: der Erfinder der 1. Bundesrätin ist nicht mehr
Der Zickzack-Kurs des Weltgeschehens: Desorientierung
Chaos-Praxis: Im Labyrinth der Erkenntnis-Widersprüche
Die Wirkungen von Staatsbesuchen: Hollande in der Schweiz