BLOG vom: 09.05.2014
Wer arbeitet wann und wo besser? Der Staat oder Private?
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
Der moderne Staat mit seinen 3 Ebenen (Gemeinden, Kantone und Bund) wird mit Aufgaben zunehmend überhäuft. Bei der wachsenden Anspruchsmentalität stellen sich die Fragen, was der Staat erledigen und was anderen Organisationen oder den Individuen überlassen werden soll. Über diese komplexen Fragen sprach Prof. Dr. Georg Müller, emeritierter Staatsrechtsprofessor an der Universität Zürich, am 08.05.2014 an einer öffentlichen Veranstaltung bei den Odd Fellows Aarau. Diese wollen die Grundlagen zur persönlichen Weiterentwicklung bereitstellen, im Hinblick auf einen Logenplatz im Leben. Laut Herbert Ammann, Obermeister(Präsident), ist zurzeit ein Zyklus zum Thema „Welche Werte sind auch in einer zukünftig erfolgreichen Schweiz wichtig?“ im Gange.
Tathandelnde
Zu Beginn seines Kurzvortrags über die Aufgabenteilung zwischen Staat und Privaten stellte Georg Müller die Verbindung zwischen Theorie und Praxis her: Es gehe nicht nur darum, wer „regelt“, d. h. wer Gesetze erlässt und anwendet, sondern auch um „Tathandlungen“ (Realakte) wie beispielsweise das Führen von Schulen, den Betrieb von Spitälern usf. In diesen und vielen anderen Sektoren stellt sich die Frage, auf welchen Gebieten der Staat (Bund, Kantone, Gemeinden, zunehmend auch internationale, interkantonale, interkommunale Organisationen oder Regelungen) tätig werden soll. Was soll die Gesellschaft übernehmen (z. B. Gesundheitswesen mit Spitex, Bauaufgaben)? Welche Aufgaben sollen die Privatwirtschaft und/oder Individuen erfüllen?
Staat und Private können auch gemeinsam Aufgaben wahrnehmen, etwa in der Form der gemischtwirtschaftlichen Unternehmung (Swisscom, Flughafen Zürich AG, Energieversorgung, einzelne Kantonalbanken), oder als sogenannte PPP (Public Private Partnerships). Manchmal überträgt der Staat eine Aufgabe einer privaten Organisation oder Person (Berufsschulen, Notariat, Strassenbau, Kehrichtentsorgung) als Mischform.
Die Verteilung der Aufgaben zwischen Staat und Privaten ist die Sache der Politik. In unserer „halbdirekten Demokratie“ (Müller) entscheiden das Parlament und das Volk darüber, welche Aufgaben (und allenfalls wie) der Staat erfüllen soll (Bundesverfassung, Kantonsverfassungen, Gesetze, Kreditbeschlüsse usw.). Die Politik sollte sich dabei nach rationalen Gesichtspunkten ausrichten.
Staatliche Kernaufgaben
Zu den „unverzichtbaren Staatsaufgaben (Kernaufgaben)“ zählte der Referent zum Beispiel die Justiz (mit Ausnahme privater Schiedsgerichte, die aber ebenfalls unter staatlicher Kontrolle stehen), die Sicherheit (Armee, Polizei, wobei auch private Organisationen wie die Securitas mitwirken), sodann der Vollzug des Strafrechts, einschliesslich des Strafvollzugs (Bau und Betrieb von Gefängnissen durch Private können dazu gehören) und des Zivilrechts, wobei es hier Branchenvereinbarungen, also Selbstregulierungen, geben kann. Ferner müssen die Notenbanken („Freigeld“, Bitcoins = virtuelles Geld) und andere dazu gezählt werden.
Das Subsidiaritätsprinzip
Das Subsidiaritätsprinzip zielt darauf ab, dass der Staat nur diejenigen Aufgaben übernehmen soll, welche die Privaten nicht ebenso gut oder besser zu erfüllen imstande sind. Der Artikel 5a der Bundesverfassung verlangt das so: „Bei der Zuweisung und Erfüllung staatlicher Aufgaben ist der Grundsatz der Subsidiarität zu beachten.“ Sie sind also auf der tiefstmöglichen Ebene zu erfüllen. Und der Artikel 6 BV spezifiziert: „Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei.“
Es kommt somit auf die „Eignung“ des Staats und der Privaten an: Was kann Staat besser? Was können Private besser?
Chancengleichheit und Grundrechte
Der Referent, in universitären Vorlesungen geübt, bemühte sich erfolgreich, ein äusserst komplexes Thema zu strukturieren, überschaubar zu machen und auf das Grundsätzliche zurückzuführen: Der Staat müsse für Gleichheit und Gerechtigkeit sorgen, hielt er fest. Wenn immer es darum geht, die Chancengleichheit zu gewährleisten, den sozialen Ausgleich herzustellen, faire Verfahren durchzuführen und Grundrechte zu verwirklichen, soll der Staat intervenieren.
Auch diese Theorien haben politischen Hintergrund. Sie gehen von einem bestimmten Staats- und Menschenbild aus: Aus liberaler Sicht ist das Individuum für sich selbst verantwortlich. Nur wenn es nicht in der Lage ist, diese Verantwortung zu tragen, soll der Staat einschreiten. Nach einer sozial geprägten Auffassung ist der Staat dafür verantwortlich, dass die Individuen ein Mindestmass an Schutz und Wohlstand geniessen können. In der politischen Realität gibt es unzählige Abstufungen zwischen dem liberalen und dem sozialen Staats- und Menschenbild.
Staat statt Familie
Die Gesellschaft wandelt sich rasch. Die Aufgabenteilung zwischen Staat und Privaten ist ebenfalls nicht statisch, sondern folgt dem gesellschaftlichen Wandel: Der Staat muss tendenziell immer mehr Aufgaben übernehmen, welche früher die Gesellschaft (Familien) oder Individuen erfüllt haben. Als ein Beispiel nannte Müller den Bereich Erziehung/Schule: Weil viele Eltern ihre Kinder nicht mehr intensiv betreuen, erziehen können oder wollen, muss die Schule einspringen. Auch bei der Alterspflege und im Gesundheitswesen ist die Familie modernen Gepräges nur noch selten in der Lage, eine wichtige Rolle zu spielen; das private Glück wird ausserfamiliär gesucht.
Die Aufgaben werden immer komplexer, und die Ansprüche der Menschen an die Ausführungsqualität steigen, was dazu beiträgt, dass die Individuen damit überfordert werden. Leistungsfähigere Einrichtungen sind gefragt. Zudem sinkt in unserer zunehmend hedonistischen (nach Sinneslust strebenden) Gesellschaft die Bereitschaft, für sich selbst und für andere Menschen – selbst im familiären Umfeld – Verantwortung zu übernehmen. Deshalb wird immer öfter und schneller nach dem Staat gerufen, sobald ein Problem auftaucht. Wir erkennen das auch an der Hektik, die heute im Gesetzgebungsprozess herrscht: Kaum erlassen, werden Gesetze schon wieder revidiert, bevor man Erfahrungen mit ihrer Anwendung gemacht hat.
Die Massenmedien ihrerseits, die zur Steigerung der Auflagen bzw. Einschaltquoten dazu neigen, Probleme aufzubauschen und angebliche Missstände anzuprangern, orten häufig Mängel oder Lücken in der Gesetzgebung. Es finden sich daran anschliessend fast immer Politikerinnen und Politiker, die gern und rasch entsprechende Vorstösse einreichen, weil sie sich damit als aktive Problemlöser profilieren können. „Hast du ein Problem, mache ein Gesetz“, lautet die Devise, die dem Ziel eines schlanken Staats zuwider läuft.
Aufgaben-Bremsen
Immer wieder wird versucht, dem Wachstum der Staatsaufgaben entgegenzuwirken. Das geschieht vor allem, weil die damit verbundenen, ausufernden Staatsausgaben kaum noch tragbar sind oder der Wille dazu fehlt. Dann kommt es zu den berühmten Sparpaketen nach der Rasenmäher-Methode, die politisch besser durchsetzbar sind, weil sie alle Politikbereiche gleich treffen (Prinzip der Opfersymmetrie).
Der rein finanzpolitische Ansatz ist aber laut Müller eigentlich nicht zielführend. Wir sollten vielmehr regelmässig und systematisch die Aufgaben des Staats nach bestimmten Kriterien überprüfen, um gezielt diejenigen abzubauen, die im Laufe der Zeit überflüssig oder weniger wichtig geworden sind, aber immer noch erfüllt werden, weil die Verwaltung kein Interesse daran hat, auf die dafür zur Verfügung stehenden Ressourcen zu verzichten – man geht also mit der Rebschere statt mit dem Rasenmäher dahinter, um beim Bild zu bleiben.
Für eine solche Aufgabenüberprüfung oder Aufgabenkritik gibt es wissenschaftliche Methoden. Es geht vor allem darum, die Wirksamkeit (Effektivität) und das Kosten-Nutzen-Verhältnis (Effizienz) der staatlichen Tätigkeiten zu untersuchen. Vor allem aber braucht es den politischen Willen, bei den Staatsaufgaben Prioritäten zu setzen, um zum erwähnten „schlanken Staat“ zu gelangen. An diesem Willen fehlt es leider oft, wie die Zurückweisung des Aufgabenüberprüfungspaketes des Bundesrates durch das Parlament zeigt, die kürzlich aufgrund einer „unheiligen Allianz“ zwischen linken und rechten Fraktionen beschlossen worden ist. Man trat also an Ort.
Bei der Aufgabenverteilung zwischen Staat und Privaten geht es somit nicht einfach um mehr Staat oder mehr Freiheit, mehr kollektive oder mehr individuelle Verantwortung. Es stellt sich immer wieder die Frage, wer eine Aufgabe besser erfüllen kann: der Staat oder die Privaten. Was „besser“ ist, muss im politischen Willensbildungsprozess entschieden werden. Der Entscheid sollte möglichst rational, nach sachlichen Kriterien gefällt werden. Und er sollte regelmässig überprüft und allenfalls korrigiert werden.
Panel
An dieses Kurzreferat schloss sich ein Panel-Gespräch zwischen Herbert Ammann und Georg Müller an, eine Form der Meinungsforschung aufgrund von alltäglichen Beispielen. Dabei wurde der Eindruck bekräftigt, dass die heutigen gesellschaftlichen Strukturen labiler, im Sinne von weniger tragfähig als zu früheren Zeiten, sind. Die Tendenz zur Auslagerung von Staatsaufgaben nimmt zu, etwa beim Strassenbau und -betrieb oder gar bei Militäreinsätzen, die zunehmend von Söldnern bestritten werden ... Müller: Das Söldnerwesen hatten wir Schweizer ja schon einmal.
Die individuelle Eigenverantwortung verliert an Bedeutung und ist auch politisch immer weniger akzeptiert. Ammann: Die Existenz einer ausgebauten Infrastruktur weckt Bedürfnisse. Und laut Müller ist es eine permanente Aufgabe für die Gesellschaft, das staatliche Wirken und das dahinter stehende Menschenbild eingehend zu hinterfragen: „Die Demokratie lebt davon, dass wir rational (vernunftgemäss) überlegen.
Überforderungsaspekte
In der offenen Diskussion schwang die Frage obenauf, ob in der direkten Demokratie der Sachverstand des Bürgers ausreiche, um bei komplexen Fragen sinnvoll entscheiden zu können (mit Bezug auf eine Feststellung des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck bei seinem Besuch in der Schweiz am 01.04.2014: „Die direkte Demokratie kann Gefahren bergen, wenn die Bürger über hochkomplexe Themen abstimmen“). Mein Nachbar im Hörsaal raunte mit den Satz „Vox populi, vox Rindvieh“ (englische Version: „Vox populi – vox Halfpenny“)ins Ohr, der dem preussischen Generalfeldmarschall Friedrich von Wrangel zugeschrieben wird.
Ein Diskussionsteilnehmer stellte dieser Frage eine andere gegenüber: „Wo ist denn die fachliche Legitimation der Politiker, die in ein Amt gewählt werden, von dem sie oft überhaupt nichts verstehen?“ Was verstehen etwa Bundesräte von ihren Fachgebieten? Und dank all der Puffermechanismen und akzeptierten Rituale funktioniert sie doch, unsere (halb-)direkte Demokratie – ein im ständigen Wandel begriffener Zustand.
Das Haus der Odd Fellows in Aarau
Dabei gibt’s auch Festgefügtes: Die „Odd Fellows Aarau“, eine Ansammlung von interessanten, interessierten und hilfsbereiten Persönlichkeiten, haben ihre permanente Unterkunft im NAB-Neubau am Apfelhausenweg 10 in Aarau (www.oddfellows-aarau.ch). Uns Gästen wurde die Anlage, die sich im Besitz des Ordens befindet, von Herbert Ammann vorgesellt. Auf 2 Etagen befinden sich stilvoll ausgestattete Räume für Versammlungen und Vorträge, die vollständig abbezahlt sind und regelmässig auch an die Neue Aargauer Bank vermietet werden.
Bei den Mitgliedern der Odd Fellows (weltweit sind es rund 300 000 Mitglieder) stehen ethische und humanistische Werte im Vordergrund, „die das Leben bereichern und ihm über das Materielle hinaus Sinn verleihen“ (aus dem Prospekt). Die häufigen Treffen sind Stunden der Besinnung beim anregenden Gedankenaustausch. Der Orden wurde im 18. Jahrhundert in England als Selbsthilfeorganisation gegründet und lebt somit das Subsidiaritätsprinzip, das auch vom Geist der Aufklärung befruchtet wird.
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