BLOG vom: 03.06.2014
Lebensbeichte – Fortsetzungsroman aus Nachlässen (6)
Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
Ich blätterte in Fjodor Michailowitsch Dostojewskijs „Aufzeichnungen“ und stiess auf unterstrichene Zeilen, gekennzeichnet am Rande der Seite durch eine „9“.
„Der Vater liebt die Tochter immer mehr als die Mutter, viele Töchter haben es gut im Elternhaus. Und ich würde meine Tochter überhaupt nicht heiraten lassen.“ „Wieso nicht?" fragte sie mit dem Anflug eines Lächelns. „Aus Eifersucht, bei Gott. Sie soll einen Fremden küssen? Einen Fremden mehr als den Vater lieben? Man kann sich das kaum vorstellen."
Ich begann mit dem Blatt 9. Ich war neugierig geworden, wie die Zeilen mit seiner „Lebensbeichte“ zusammenhingen.
Wie bereits erwartet, schilderte sie den Charakter ihres Vaters in den höchsten Tönen. Er lese ihr jeden Wunsch von den Lippen ab, er vergöttere sie. Bei ihm könne sie sich viel erlauben. „Was denn, zum Beispiel", fragte ich sie. Sie antwortete: „Wenn ich später nach Hause komme, als es mir erlaubt wurde, sagt er nur, dass er es gut findet, mich wieder zu sehen und dass er ein Auge zudrücken werde. Er musste schon viele Augen zudrücken!" Sie schaute mich schelmisch an. „Wenn Zuspätkommen das einzige Vergehen war", provozierte ich sie, um mehr aus ihr herauszuholen. „Einmal sind wir mit einer Clique kurz vor Mitternacht noch im Bodensee baden gegangen. Man sah nur ein paar Lichter von der Uferstrasse und von Fischerbooten. Keine hatte Badekleidung dabei, wir waren alle nackt." „Hast du das zu Hause erzählt?" fragte ich sie. „Mein Vater hätte mich nie wieder auf die Strasse gelassen und meine Mutter auch nicht’", bekräftigte sie ihr Nein-Nicken.
„Und was ist noch passiert, in dieser Nacht?"
„Das, wozu einfach die Zeit gekommen war. Ich wollte wissen, wie das ist, von dem alle reden, das alle so wichtig finden, was das Leben verändert, nicht nur dasjenige der Mädchen. Wie ich gemacht worden bin."
„Hattest du denn einen Freund?"
„Wozu? Einen scharfen Typen kann man immer finden!"
„Wusste er, dass du noch nie?"
„Ich habe es ihm nicht auf die Nase gebunden."
„Und wie war das für dich?"
„Enttäuschend. Ich habe so gut wie nichts dabei empfunden."
„Und?"
„Nichts, aber ich nehme jetzt die Pille."
Sie zeigte mir die Stadt, das Münster, Fachwerkhäuser, das Schnetztor, und am Hafen das Standbild der Imperia, eine 9 m hohe Frauenfigur, sie soll eine üppige Kurtisane darstellen, mit tiefem Dekolleté und geöffnetem Kleid. Sie trägt in jeder Hand zwei zwergenhafte nackte Männlein. Die Skulptur dreht sich fortdauernd um ihre eigene Achse. Das literarische Vorbild des Bildhauers war Honoré de Balzac mit seiner Erzählung „La belle imperia".
„Erotisch und sinnenfreudig. So wünsche ich mir die Frau!’"sagte ich.
„Und ich tue mit dem Mann, was ich will!" antwortete sie lächelnd.
„Und was willst du?"
„Das möchtest du wohl gerne wissen?"
Ich nickte.
„Abwarten mein Lieber, nicht so stürmisch."
Dann ging ich mit ihr auf einen Campingplatz, direkt am Bodenseestrand gelegen. Ich bekam einen etwas abseits liegenden Platz zugewiesen, der von Bäumen umgeben war. Mit der Hilfe von Elisabeth hatte ich es rasch aufgerichtet. Wir legten uns ins Zelt, und ich küsste sie. Es war der erste Zungenkuss, und sie erwiderte ihn. Dann aber wehrte sie meine weiteren Annäherungsversuche ab und sagte einfach: ‚Noch nicht!’, dabei blieb es.
Es war Abend geworden, wir gingen in eine Pizzeria, assen und tranken. Sie erzählte, wie das war nach dem Unfall, und dass die Mutter ihren Bruder mit zu ihnen geholt habe. Als wir das Lokal verlassen hatten, sagte sie, sie müsse jetzt nach Hause, ihr Onkel benötige Pflege und sie unterstütze die Eltern dabei. Ich brachte sie bis zur Haustür, und sie lud mich ein, mit der ganzen Familie am nächsten Morgen um 9 Uhr zu frühstücken.
Auf dem Weg zum Campingplatz machte ich mir Gedanken darüber, wie das wohl sei, vollkommen gelähmt zu sein, nichts mehr alleine tun zu können, ausser zu denken, Nahrung zu sich zu nehmen und zu sprechen. Was für ein Schicksal! Passieren konnte so etwas jedem und zu jeder Zeit. Ist das noch lebenswert? Was ist eigentlich der Wert des Lebens?
Ich ging noch in eine Wirtschaft, setzte mich an die Bar und trank ein Bier. Ich hatte keine Lust, ein Gespräch zu führen. Ich hörte der Musik zu. Ich dachte an Elisabeth. Ob das noch etwas wird mit uns beiden? Ob ich noch zum Ziel komme? Ich war mir nicht mehr sicher. Irgendein Geheimnis gab es, das spürte ich in ihrer Gegenwart. Was das wohl war?
Dann ging ich zum Campingplatz und lief an den Strand. Von Ferne sah man Lichter von Fischerbooten und von der Insel Mainau, der Blumeninsel. Es war spät geworden, ich ging zu meinem Zelt und bald kroch ich in meinen Schlafsack und schlief ein.
Damit endete das Blatt 9.
Ich las gleichzeitig noch in einem anderen Buch, es war von Manfred Eigen und Ruthild Winkler und handelte über „Das Spiel“. Ich brachte einige Sätze aus diesem Buch in Bezug zu der „Lebensbeichte“:
„Der Mensch ist Teilnehmer an einem grossen Spiel, dessen Ausgang für ihn offen ist. Er muss seine Fähigkeiten voll entfalten, um sich als Spieler zu behaupten und nicht Spielball des Zufalls zu werden.“
Der Verfasser der „Lebensbeichte“ befand sich bei seiner Schilderung in einem besonderen Spiel. Sein Ausgang war für ihn unbekannt. Würde er die schöne Elisabeth bekommen oder nicht? Oder war er etwa ein Spielball? War es vielleicht gar kein Zufall, dass er ihr begegnet war?
Diese Gedanken kamen mir in den Sinn. Ich war überrascht, wie richtig sie waren, als ich mir die nächsten Blätter (10 ff.) vornahm.
Fortsetzung folgt.
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