Textatelier
BLOG vom: 21.06.2014

Lebensbeichte – Fortsetzungsroman aus Nachlässen (8)

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
Bevor ich mir Blatt 11 vornahm, machte ich mir Gedanken über die Lebensqualität. Was macht sie aus? Ich wusste, dass meisten Menschen in den unwürdigsten, quälerischsten, schmerzhaftesten und aussichtslosesten Situationen nicht die Gelegenheit, die sich ihnen böte, dieses Leben zu beenden, ergreifen würden, sondern dass sie weiterlitten. War es der Lebenswille, die Angst vor dem Tode und die damit verbundene Ungewissheit davor, was anschliessend kommen könnte oder einfach das Sichklammern an ein Fünkchen Hoffnung?
 
Es gab nur sehr wenige historische Berichte von Massenfreitoden, etwa bei einer totalen Belagerung durch einen Feind, von dem die Belagerten vermeinten, nur den Tod erwarten zu können. Augenzeugendarstellungen von Überlebenden der Konzentrationslager im Dritten Reich, die schilderten, wie Häftlinge ganz bewusst in den elektrisch geladenen Zaun liefen und starben, gab es viel seltener als solche, die bis zum sicheren Tod alle Torturen mitgemacht hatten.
 
Ich nahm mir das folgende Blatt vor und war erstaunt darüber, wie nahe ich dem Thema gekommen war.
 
„Zum Abendessen waren alle versammelt. Alle schwiegen. Dann blickte der Onkel mich auf eine mir unbekannte Art sehr tief an. 
Er begann mit einem Zitat aus Goethes Faust:
‚Des Menschen Tätigkeit kann allzuleicht erschlaffen,
Er liebt sich bald die unbedingte Ruh;
Drum geb’ ich gern ihm den Gesellen zu,
Der reizt und wirkt und muss, als Teufel, schaffen.’ 
Noch verstand ich nicht, was er damit meinte, sah er in dem Gesellen mich an? Ich sollte richtig liegen. Ein wenig unheimlich wurde es mir schon.
 
 ‚Ich bin zur Auffassung gekommen, dass Sie die nötige Reife haben, um die Dinge, die wir jetzt mit Ihnen besprechen wollen, angehen zu können. Zuerst einmal muss ich Sie allerdings auffordern, einen Schwur abzulegen, über das, was in nächster Zeit kommt, vollkommenes Schweigen zu bewahren. Nichts davon darf an die Öffentlichkeit gelangen.’
 
Erstaunt blickte ich auf. Schwören soll ich? Seltsam und geheimnisvoll war es schon, aber ich behielt auch nach dem Schwur noch meinen freien Willen, zu gehen. Ich wollte wissen, was es denn in dieser Familie gibt, was so etwas erforderte.
 
‚Wenn Sie darauf bestehen, einverstanden’, antwortete ich. Ich streckte Daumen, Zeige- und Mittelfinger meiner rechten Hand aus und sagte: ,Ich schwöre, dass ich niemals über das, was in dieser Familie passiert oder mir bekannt wird, jemanden anderem etwas erzählen werden.’ Ich sprach die Formel in einem ernsten feierlichen Ton aus.
 
‚Vielen Dank’, sagte der Onkel, damit sind sie quasi in den engsten Familienkreis aufgenommen. Das, was wir jetzt mit Ihnen besprechen, ist nicht spontan geboren, sondern in vielen Monaten gereift. Der Zeitpunkt ist gekommen, die Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Es ist allerdings unabdingbar, dass das, was ich Ihnen jetzt sage, dokumentiert wird, die Familie muss sich einfach absichern. Wir machen eine Tonbandaufnahme davon. Auch Ihr Schwur ist bereits aufgenommen worden.’
 
Ich schaute mich um und sah eine Stereoanlage mit einem Aufnahmegerät, das lief.
 
Der Vater schaltete das Gerät kurz aus.
 
‚Ich habe mitbekommen, dass Sie meine Nichte sehr sympathisch finden, und sie gestand mir, dass das auf Gegenseitigkeit beruht. Ich habe deshalb für Sie beide je ein Zimmer in einem guten Hotel auf der Blumeninsel Mainau gebucht. Sie sind von mir eingeladen, dort die morgige Nacht zu verbringen, unabhängig davon, ob Sie auf meinen Vorschlag eingehen oder nicht. Es ist ein Geschenk, nichts weiter.’
 
Ich blickte zu Elisabeth hinüber. Sie sah mich an, lächelte liebevoll und nickte leicht. Ich verstand nicht ganz, warum er 2 Zimmer bestellt hatte, er wollte uns wohl die freie Entscheidung darüber überlassen, wie wir die Nacht verbringen werden.
 
Jetzt wurde das Aufnahmegerät wieder angestellt
 
‚Ich sehe die Spannung in Ihrem Gesichtausdruck und die Frage, was das Ganze denn soll. Wofür soviel Aufwand? Sie werden es gleich erfahren. Doch zuerst einmal eine Frage an Sie: Wie denken Sie darüber, was meinen Sie, was würden Sie in meiner Situation tun?’
 
Ich schwieg, überlegte lange. Dann antwortete ich: ‚Einerseits haben Sie ein Leben, das Sie völlig abhängig macht. Ohne fremde Hilfe könnten Sie nicht existieren. Sie brauchen 24 Stunden am Tag jemanden, der für Sie da ist. Sie sind, entschuldigen Sie, aber so denke ich, allen eine Last, ihren Mitmenschen, der Gesellschaft, die Ihnen die finanzielle Grundlage für so ein Leben ermöglicht. Andererseits leben Sie im Kreise Ihrer Familie, geschützt, geliebt. Sie haben geistige Interessen, die Sie wahrnehmen und ausleben können, Sie können lesen, Texte diktieren, kommunizieren. Sie können sogar die Natur geniessen, wenn Sie jemand nach draussen fährt.’
 
‚Heisst das, wären Sie an meiner Stelle, würden Sie sich in ihr Schicksal ergeben?’ fragte er. ‚Hätte ich eine Alternative?’ frage ich zurück.
 
‚Ich habe’, antwortete er mit einem sehr ernsten Ton. ‚Sie wissen vielleicht nicht, dass ich bis zu meinem Unfall als Chemiker auf der anderen Seite der Grenze in der Schweiz gearbeitet habe. Ich habe also die Möglichkeit, an alle Chemikalien zu gelangen, die ich haben möchte.’
 
Ich blickte auf, glaubte zu verstehen, worauf er hinaus wollte. Dann stellte er die Frage, die ich erwartet hatte: ‚Haben Sie von Prof. Julius Hackethal gehört?’
 
‚Was die Medien so schreiben, er sei ein Skandalarzt, kritisiere Kollegen und ist gerade freigesprochen worden, weil er einer Todkranken Zyankali auf den Nachttisch gelegt hatte.’
 
‚Sie erstaunen mich!’ antwortete der Onkel. ‚Haben Sie die Urteilsbegründung gelesen?’
 
Ich verneinte. Er gab mir einen juristischen Artikel, der auch diesen Fall einbezog. Er war aus der NJW, der Neuen Juristischen Wochenschrift aus dem C. H.Beck-Verlag, Heft 27 von 1986.
 
‚Bitte lesen Sie diesen Artikel genau durch. Er ist in juristischer Sprache verfasst, also nicht ganz einfach zu verstehen. Der eine Jurist ist mit der Auffassung des anderen nicht einverstanden. Aber es werden auch grundlegende Gesetze aufgeführt. Etwas wird aber ganz deutlich, die Beihilfe zum Selbstmord ist straffrei.’
 
Ich zeigte einen Ausdruck des Erschreckens, man will mich in eine Straftat einbeziehen!
 
Der Onkel beobachtete mich genau. ‚Sie haben nichts zu befürchten! Erstens bleiben Sie völlig anonym, zweitens werde ich den Ablauf so arrangieren, dass Sie in die eigentliche Tat nicht mehr einbezogen werden.’
 
‚Wissen Sie, was Sie von mir verlangen?’ fragte ich leise.
 
‚Das weiss ich ganz genau. Aber ein Angehöriger meiner Familie könnte in den Verdacht kommen, einen finanziellen Vorteil aus meinem Tod ziehen zu wollen. Und genau das will ich auf jeden Fall vermeiden.’
 
‚Ich verstehe!’ presste ich heraus. ‚Und den Gewissenskonflikt bürden Sie mir auf?’
 
‚Sehen Sie, Sie erhalten hier eine Gelegenheit, ein Schicksal sichtbar werden zu lassen, und das im Bewusstsein des Todes. Es ist unser aller Schicksal, streng und endgültig. Und ich lasse es mir nicht aus der Hand nehmen. Dabei gewähren Sie mir einen Akt der Barmherzigkeit, der Nächstenliebe, wenn man das so sagen will. Sie helfen jemanden dazu, ein von ihm tief empfundenes nicht wünschenswertes Leben beenden zu können. Das kann doch nicht schlecht sein?’
 
Ich schwieg.
 
‚Ich beschreibe Ihnen den Ablauf, so wie ich ihn nach monatelanger Überlegung in Absprache mit meiner Familie geplant habe. Morgen Nachmittag gegen 16 Uhr kommen Sie in unser Haus. Sie haben Ihr Gepäck bei sich. Wir werden eine kleine Zeremonie veranstalten, bei dem sich alle bei mir verabschieden können. Meine Schwester wird mir danach einen Cocktail mit einem Schmerz-, Beruhigungs- und Schlafmittel verabreichen. Dann wird sie Ihnen einen Trinkhalm geben. Ihre Aufgabe ist es, diesen in eine Flasche zu schieben. Dann werden Sie mir den Halm in den Mund stecken. Mehr nicht. Es bleibt meine Entscheidung, ob ich das Gift, das sich in der Flasche befindet, aufsauge oder nicht. Ich bin dazu entschlossen, es zu tun. Sollte ich mich doch anders entscheiden, werde ich es nicht tun.’
 
‚Die Entscheidung zum Suizid bleibt also völlig freibleibend ihre eigene persönliche?’
 
‚Es bleibt meine eigene freie Entscheidung. Niemand zwingt mich, das Gift zu nehmen oder nicht.’
 
‚So wie Sokrates?’
 
‚Nicht ganz, der Philosoph war zum Tode verurteilt worden. Allerdings hat er sich bereit erklärt, den Schierlingsbecher freiwillig zu trinken. Sie werden bei der Einnahme des Giftes und bei meinem Tod nicht mehr anwesend sein. Das soll nur meine Familie.
 
Der Onkel blickte seinen Schwager an und dann auf das Aufnahmegerät. Elisabeths Vater schaltete das Gerät endgültig ab.
 
Dann fuhr der Onkel fort: ‚Sie werden das Haus durch einen Hinterausgang verlassen, zum Bahnhof gehen und von dort aus zur Insel Mainau fahren. Meine Nichte wird etwa 1‒2 Stunden später nachkommen.’
 
Ich nickte, ich hatte verstanden, was man von mir erwartete.
 
‚Ich erwarte Sie morgen Nachmittag. Sollten Sie nicht kommen, weiss ich, dass wir nicht mit Ihnen rechnen können, vielleicht weil Sie ihre Bedenken, ihre Angst oder Ihren Skrupel nicht beiseite schieben können. Es ist Ihre freie Entscheidung. Dennoch: ich rechne auf Sie! – Und jetzt lasst uns essen!’
 
Beim anschliessenden Mahl wurde nicht mehr gesprochen. Alles war gesagt worden.
 
Ich grübelte während des Essens über das Zitat nach. Wer ist denn ‚ich’? Gott, die Vorbestimmung, die Heimsuchung, mein Schicksal? Wieso gerade ich?
 
Fortsetzung folgt.
 
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